Vorstellungen über die Veränderungen von Organismen im Lauf der Zeit
Darwin verdankte viele seiner Ideen den Arbeiten von Paläontologen, die fossile Organismenreste oder fossile Spuren von Organismenarten aus vergangenen Erdepochen untersuchten. Fossilien finden sich unter anderem in Sedimentgesteinen, die sich am Boden von Meeren, Seen und Sümpfen ablagern. Dabei werden ältere Sedimentschichten von jüngeren bedeckt und zu übereinanderliegenden Gesteinsschichten zusammengepresst, sogenannte Strata (Singular Stratum'). Fossilien einer bestimmten Gesteinsschicht zeigen einen kleinen Ausschnitt aus der Flora und Fauna früherer Erdzeitalter. Durch Erosion können die oberen (jüngeren) Strata abgetragen und tiefere (ältere) Strata freigelegt werden, die zuvor verborgen waren.
MERKE I
Fossilien finden sich unter anderem in Sedimentgesteinen, die sich am Boden von Meeren, Seen und Sümpfen ablagern.
Einer der Begründer der Paläontologie, der Wissenschaft der Fossilien, war der französische Naturforscher Georges Cuvier (1769-1832). Als Cuvier Schichten aus Sedimentgestein in der Nähe von Paris untersuchte, stellte er fest, dass die Fossilien den heutigen Lebensformen immer unähnlicher wurden, je älter die Gesteinsschicht war. Darüber hinaus stellte er fest, dass beim Übergang von einer Gesteinsschicht zur nächsten auch einige neue Arten auftraten, während andere verschwanden. Daraus zog er den Schluss, dass ein Aussterben von Arten und Artengruppen ein in der Geschichte der Lebewesen häufiges Ereignis gewesen sein musste. Die Vorstellung von einem Evolutionsgeschehen lehnte Cuvier jedoch kategorisch ab. Um seine Beobachtungen erklären zu können, entwickelte er die Katastrophentheorie (Kataklysmentheorie), der zufolge bestimmte Ereignisse in der Vergangenheit (zum Beispiel großflächige Überschwemmungen, „Sintfluten") sehr plötzlich aufgetreten sind. Cuvier vertrat die Auffassung, dass jede Grenze zwischen zwei Gesteinsschichten durch ein solches Katastrophenereignis verursacht wurde und ein großer Teil der damals lebenden Arten dadurch ausgelöscht wurde. Seiner Ansicht nach beschränkten sich diese regelmäßig wiederkehrenden Katastrophen in der Regel nur auf bestimmte Bereiche und Regionen, die später von einwandernden Arten aus benachbarten, von der Katastrophe verschont gebliebenen Gebieten wieder besiedelt wurden.
MERKE I
Die Katastrophentheorie geht davon aus, dass bestimmte Ereignisse in der Vergangenheit sehr plötzlich aufgetreten sind.
Im Gegensatz dazu vermuteten andere Wissenschaftler, tiefgreifende Veränderungen könnten durch die kumulative Wirkung langsamer, aber kontinuierlich wirkender Prozesse hervorgerufen werden. Im Jahr 1795 stellte der schottische Geologe James Hutton (1726-1797), der auch als Begründer der geologischen Wissenschaft angesehen wird, die These auf, die geologischen Merkmale der Erde ließen sich durch graduelle Prozesse erklären, die immernoch wirkten. So nahm er zum Beispiel an, Täler seien häufig von Flüssen ins Gestein gegraben worden. Sedimentgesteine mit marinen Fossilien hätten sich gebildet, als Sand und Schlamm aus dem Landesinneren von Flüssen ins Meer getragen worden waren und tote Meeresorganismen begruben. Somit entwickelte er das Konzept des Aktualismus in der Geologie: Alle geologischen Phänomene sind durch auch heute noch beobachtbare Veränderungen erklärbar. Der führende Geologe zu Darwins Zeiten, Charles Lyell (1797-1875), ließ Huttons Vorstellungen in seine Theorie des Uniformitarianismus einfließen. Hiernach hatten sich die Mechanismen geologischer Veränderungen im Lauf derzeit nicht gewandelt. Lyell nahm an, dass dieselben geologischen Prozesse, die heute wirken, auch schon in der Vergangenheit gewirkt haben, und dass auch die Geschwindigkeit dieser Prozesse unverändert geblieben ist.
Huttons und Lyells Vorstellungen nahmen einen großen Einfluss auf Darwins Denken. Wenn sich geologische Veränderungen durch langsame Prozesse und nicht durch plötzliche Ereignisse erklären ließen, dann musste die Erde weitaus älter sein als die allgemein akzeptierten wenigen tausend Jahre. Darin stimmte Darwin mit den beiden Geologen überein. So würde es zum Beispiel sehr lange dauern, bis ein Fluss durch Erosion eine Schlucht ins Gestein gegraben hätte. Wäre es nicht möglich, überlegte er später, dass ähnliche langsame und graduelle Prozesse wesentliche biologische Veränderungen bei der Entstehung von Arten hervorrufen könnten? Darwin war jedoch nicht der Erste, der die Vorstellung einer allmählichen Veränderung von Organismen im Laufe der Erdepochen äußerte.
MERKE I
Die Theorie des Uniformitarianismus geht davon aus, dass sich die Mechanismen geologischer Veränderungen im Lauf der Zeit nicht gewandelt haben.