Mit molekularen Uhren kann man den zeitlichen Ablauf der Evolution verfolgen
Wie gelangt man zu Stammbäumen, die das Evolutionsgeschehen zeitlich korrekt darstellen? Man bedient sich einer sogenannten molekularen Uhr, die als Maßstab für den absoluten zeitlichen Verlauf stammesgeschichtlicher Veränderungen dient. Grundlage ist dabei die Beobachtung, dass manche Genomabschnitte sich offensichtlich mit gleich bleibender Geschwindigkeit weiterentwickeln. Hinter der molekularen Uhr steht die Annahme, dass die Anzahl der ausgetauschten Nucleotide in orthologen Genen proportional zu dem Zeitraum ist, der seit der Abspaltung einer Art von ihrem letzten gemeinsamen Vorfahren vergangen ist. Bei paralogen Genen ist die Anzahl der ausgetauschten Basen proportional zu der Zeit, seit der die Gene verdoppelt wurden.
Für ein Gen, dessen durchschnittliche Evolutionsgeschwindigkeit bekannt ist, kann man die molekulare Uhr eichen: Dazu trägt man die Zahl der genetischen Unterschiede gegen die Zeitpunkte der stammesgeschichtlichen Verzweigungen auf, die man aufgrund der Fossilfunde kennt (=> Abbildung 26.9). Anhand solcher Diagramme kann man dann den Zeitpunkt von Evolutionsereignissen abschätzen, die an den Fossilfunden nicht zu erkennen sind.
In Wirklichkeit laufen molekulare Uhren nicht so reibungslos, wie vorausgesagt. Viele Unregelmäßigkeiten sind wahrscheinlich auf eine natürliche Selektion zurückzuführen, bei der bestimmte DNA-Veränderungen gegenüber anderen bevorzugt werden.
Eine andere Frage stellt sich, wenn man versucht, die molekularen Uhren über die durch Fossilfunde dokumentierten Zeiträume hinaus zu nutzen. Umfangreiche Fossilfunde reichen nur ungefähr 550 Millionen Jahre weit zurück, aber mit molekularen Uhren hat man stammesgeschichtliche Aufspaltungen datiert, die sich vor mehr als einer Milliarde Jahren ereignet haben sollen. Solche Schätzungen gehen davon aus, dass die Uhr zu allen Zeiten mit der gleichen Geschwindigkeit gelaufen ist, und können deshalb mit großen Unsicherheiten behaftet sein.
In manchen Fällen lassen sich die Probleme umgehen, wenn man die molekularen Uhren nicht (wie es oft geschieht) nur für ein Gen oder einige wenige eicht, sondern für viele Gene. Dann heben sich Schwankungen der Evolutionsgeschwindigkeit, die auf natürliche Selektion oder andere unveränderliche Faktoren zurückzuführen sind, im Durchschnitt auf.
VERSTÄNDNISFRAGEN
- 1. Was ist eine molekulare Uhr? Welche Annahme liegt ihrer Verwendung zugrunde?
- 2. Was wäre, wenn? Angenommen, die Aufspaltung zweier Taxa wurde mit einer molekularen Uhr auf die Zeit vor 80 Millionen Jahren datiert, aber neue Fossilfunde zeigen, dass die Trennung vor mindestens 120 Millionen Jahren stattgefunden haben muss. Erklären Sie, wie es zu einer solchen Diskrepanz kommen kann.
VERSTÄNDNISFRAGEN
- 1. Warum gilt das Organismenreich der Monera heute nicht mehr als gültiges Taxon?
- 2. Warum können phylogenetische Analysen, die sich auf verschiedene Gene stützen, zu unterschiedlichen Verzweigungsmustern im phylogenetischen Stammbaum aller Organismen führen?
- 3. Was wäre, wenn? Zeichnen Sie die drei möglichen Stammbäume mit Zweierverzweigungen, in denen sich die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Domänen Bacteria, Archaea und Eukarya widerspiegeln. Zwei dieser Bäume werden durch genetische Befunde gestützt. Ist damit zu rechnen, dass man auch für den dritten Baum solche Indizien finden wird? Begründen Sie Ihre Antwort.