Abhängigkeit von der Gesellschaft
Die Bestätigung der marxschen Schreckensvision durch den ersten Weltkrieg am Anfang des 20. Jahrhunderts reflektieren nicht wenige Subjekttheorien – zumal die weiteren Ereignisse im Verlauf dieses Jahrhunderts keineswegs geeignet sind, Marx vollständig zu widerlegen. Es ist aber nicht nur einfach die marxsche Kritik, die im 20. Jahrhundert ihre Fortsetzung findet. Auch die „Entdeckung der Gesellschaft“ wird als Prämisse ausgebaut. Dieser Ausbau findet seinen Grund nicht zuletzt in der Expansion der Gesellschaften, die sich etwa in der Bevölkerungsdichte niederschlägt. In Europa entwickeln sich Großstädte, die das Leben der Menschen auf ambivalente Weise verändern. Georg Simmel konstatierte, dass sie einerseits die räumliche Realisierung der aufklärerischen Forderung nach individueller Unabhängigkeit darstellen, weil „die körperliche Nähe und Enge die geistige Distanz erst recht anschaulich macht“ (Simmel 1903/1995: 126). Andererseits stehen die Großstädte für eine „Steigerung des Nervenlebens“ (Ebd.: 116), die durch die Schnelligkeit wechselnder Eindrücke hervorgerufen wird, und für eine der Geldwirtschaft äquivalente Versachlichung der sozialen Beziehungen, die eine Behauptung der je eigenen Individualität erschwert. Für die eher subjektskeptischen Ansätze bilden indessen die Entwicklung von Großstädten und neuen Techniken und Medien nicht allein den Hintergrund. Für die Vertreter der Kritischen Theorie sind es vor allem die ausgebliebene Revolution, der Hitlerfaschismus, der Stalinismus und der amerikanische Monopolkapitalismus, welche sie zu einer düsteren Beschreibung der Gesellschaft zusammenführen. Grundlage dieser Beschreibung ist dabei die marxsche Theorie, die allerdings modifiziert und weiterentwickelt wird, weswegen die Vertreter der Kritischen Theorie auch als Neomarxisten bezeichnet werden.
Angefangen hatte es zunächst recht beschaulich (zur Geschichte der Kritischen Theorie nach wie vor instruktiv: Wiggershaus 1991). Mit dem Geld des Millionärssohns und Marxisten Felix Weil wurde in Frankfurt das Institut für Sozialforschung gegründet, das sich unter der Leitung des Ökonomen Carl Grünberg vornehmlich mit ökonomischen Analysen, aber auch mit den Dispositionen der Arbeiterklasse (Fromm 1929/1983) beschäftigte. Diese blieb nämlich zunächst der Adressat des linkspolitisch aufgestellten Instituts. Als die Arbeiterklasse aus marxistischer Sicht ihre historische Aufgabe, den Kapitalismus zu beenden, nicht nur nicht wahrnahm, sondern obendrein noch zuschaute, wie die Hitlerfaschisten an die Macht kamen, änderten sich auch die politischen und theoretischen Koordinaten der Kritischen Theorie. Als 1930 Max Horkheimer die Institutsleistung übernahm, kündigte sich bereits ein Paradigmenwechsel an. Nicht mehr sollten vor allem ökonomische Studien im Vordergrund stehen, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse sollten auf ganzer (sozialund kultur-)wissenschaftlicher Breite beschrieben und kritisiert werden. Damit sollte einer Krise des marxistischen Denkens begegnet werden, die durch das Ausbleiben der Revolution inauguriert wurde. Offensichtlich war die Annahme, das gesellschaftliche Sein bestimme das Bewusstsein, zumindest in seiner politischen Dimension nicht richtig: Ein revolutionäres Klassenbewusstsein hatte sich nicht in hinreichendem Maße etabliert. Es war daher konsequent, nach Erklärungen zu suchen, die auf eine ökonomistische Reduktion verzichteten. Unter Einbeziehung der Literaturwissenschaft (Leo Löwenthal), der Psychologie (Fromm), der Rechtswissenschaft (Franz Neumann) und der Philosophie (Herbert Marcuse) sollte eruiert werden, wieso die Verhältnisse so stabil sind und es war klar: Es musste etwas damit zu tun haben, dass die gesellschaftlich-kulturellen Mechanismen die Aufklärung des Bewusstseins verhinderten.
Klar war auch, dass die theoretischen und empirischen Bemühungen des Instituts für Sozialforschung kein Selbstzweck sein sollten. Horkheimer (1937/1988; vgl. auch Bittlingmayer/Demirovic/Bauer 2011) stellte sie eindeutig in den politischen Bezugsrahmen einer emanzipierten Gesellschaft, die aus dem Spannungsverhältnis zwischen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und den in ihr implizierten Möglichkeiten abzuleiten wäre. Die sich aufdrängende Frage war indessen: Wie konnte die gegenwärtige, die nationalsozialistische Gesellschaft beschrieben und erklärt werden? Franz Neumann begriff sie als „totalitären Monopolkapitalismus“ (Neumann 1944/1984: 313), bei dem der Staat in die Wirtschaft eingreift, die von Marx diagnostizierten Prinzipien des Kapitalismus aber nach wie vor ihre Gültigkeit besitzen. Demgegenüber hatte Max Horkheimer (1940/1987) die These vertreten, mit den Mitteln der „Kritik der politischen Ökonomie“ sei der Nationalsozialismus nicht zu erfassen, weil dieser eine neue Evolutionsstufe darstelle, die er als Staatskapitalismus kennzeichnet, und die den Markt und damit die „Kritik der politischen Ökonomie“ als umfassenden Erklärungsansatz außer Kraft setzt. Diese Einschätzung war insofern folgenreich, als sie thematisch in die durch die 68er-Bewegung berühmt gewordene Schrift „Dialektik der Aufklärung“ mündete.
Wenn der Nationalsozialismus nicht mehr hinreichend mit marxschen Begriffe zu beschreiben war, musste eine Alternative her. Adorno und Horkheimer fanden sie in einer ideengeschichtlichen Perspektive. Die Hauptreferenz ist dabei, wie der Titel des Buches anzeigt, die Aufklärung. Diese hatte sich in politischer Hinsicht Freiheit und Gerechtigkeit auf ihre Fahnen geschrieben und auch Adorno und Horkheimer „hegen keinen Zweifel […], dass die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist“ (Adorno/Horkheimer 1944/1987: 18). Die Aufklärung ist allerdings selbst der Aufklärung bedürftig. Sie muss selbstreflexiv werden. Dies deswegen, weil sie mit ihrem systematischen Denken ihre eigenen normativen Prämissen unterläuft – ein Motiv, das bereits Stirner und Nietzsche angedacht hatten. Die im 17. und 18. Jahrhundert dominierende Suche nach einer Prima Philosophia, so Adorno (1956/1998), krankt daran, dass sie alles auf einen Begriff bringen möchte und dann notwendigerweise das Inkommensurable abschneiden muss. Was nicht unter den rationalistischen Begriff des Cogito subsumierbar ist, muss aus der Betrachtung herausfallen. Dies sind etwa die Leidenschaften, die Descartes gemäß seiner Theoriekonzeption mechanistisch deutet und denen er sogar positive Wirkungen zuschreibt, die sich aber nur dann einstellen, wenn sie durch einen Vernunftgebrauch entsprechend kontrolliert werden. Das Subjekt muss sich disziplinieren, es muss eine intrapsychische Kontrollinstanz aufbauen. Damit ist auf drastische Weise angelegt, was, Adorno und Horkheimer zufolge, zum Nationalsozialismus geführt hat. Die im aufklärerischen Denken, zumal seiner naturwissenschaftlichen Seite, implizite Beherrschung der äußeren Natur zu den Zwecken der Menschheit verlängert sich zu einer Beherrschung auch der inneren Natur. Das Subjekt vollzieht an sich exakt die Kontrolle und Beherrschung, mit der es der äußeren Natur begegnet. Ist dieser Prozess erst einmal zur vollen Reife gelangt, bedarf es nicht mehr viel, Herrschaft in völlige Barbarei zu steigern. Hatte also die Aufklärung mit ihrer Fokussierung auf die Vernunft eigentlich auf eine emanzipierte Gesellschaft gehofft, schlägt dieser Prozess in sein Gegenteil um. Vernunft wird zur „instrumentellen Vernunft“ (Horkheimer 1946/1991), die alles nur im Rahmen einer Mittel-Zweck-Relation bewertet und damit die kapitalistische Wirtschaftsweise kopiert, anstatt ihr Regulativ oder Opponent zu sein. Das Vernünftige ist einzig das Verwertbare. Moralische oder ästhetische Kriterien müssen einer solchen Vernunft zum Opfer fallen. Das „Prinzip Auschwitz“, das den Menschen der Verwertungslogik unterwirft, ist nur der ins Extrem gesteigerte Ausdruck eines Prozesses, in dem Vernunft wieder zur Mythologie wird: zur Mythologie des Machbaren unter Absehung ethisch-moralischer Schranken.
Nun wissen natürlich auch Adorno und Horkheimer, dass eine ideengeschichtliche Perspektive sich auf diese beschränkt. Die philosophischen Systeme des Rationalismus oder des Idealismus mögen zwar eine historische Wirkung gehabt haben, in breiten Kreisen der Bevölkerung waren sie indessen unbekannt. Damit aber der Nationalsozialismus möglich wurde, bedurfte es gesellschaftlicher Mechanismen, die den Führerstaat, den Krieg und den Holocaust legitimierten oder zumindest als alternativlos darstellten. Im Fall Hitlerdeutschlands war ein Mechanismus der Terror. Die Gegner wurden verhaftet oder ermordet. Ein anderer Mechanismus, der dann nach 1945 maßgeblich für die Herrschaftsreproduktion wird, den aber bereits die Nationalsozialisten für sich entdeckt hatten, war die Manipulation durch die Medien, die unter dem Begriff der „Kulturindustrie“ firmiert. Dieser umfasst ein Netzwerk kulturvermittelnder Institutionen, die Kulturwaren, den Kulturmarkt und den Kulturkonsum, die der spezifischen Logik kapitalistischer Produktion unterliegen. Es geht um Massenproduktion und Massenkonsum, wobei die Produktionsweise nicht ohne Konsequenzen für ihre Produkte bleibt. Kulturindustrielle Produkte zeichnen sich durch ihren Warencharakter aus. Sie unterliegen damit einer Tauschrationalität, die abstrahiert von ihren ursprünglichen Gebrauchswerten. Nicht der Inhalt des Kulturgutes ist mehr sein eigentlicher Zweck, sondern die Möglichkeiten seiner Vermarktung. „Damit zerfällt Kultur als ästhetischer Ausdruck objektiver Wahrheit. Statt über das gegenwärtige Bewusstsein hinauszugreifen, verdoppelt sie die Realität als schönen Schein.“ (Müller-Doohm 1996: 203) Für die Stabilisierung von Herrschaftsverhältnissen besetzt die Kulturindustrie auf diese Weise eine Schlüsselposition. Sie soll ihre Konsumenten dazu veranlassen, sich an die Gegebenheit der Verhältnisse widerstandslos anzupassen. Über die Kulturvermittlung übernimmt sie die Kontrolle über die Integration der Subjekte und trägt somit zum Reproduktionsprozess von Herrschaft bei, wobei sie dies auf zweierlei Weise leistet: Zum einen verbreitet sie über ihre Inhalte konkrete Formen von Lebensweisen, die bei den Subjekten, sofern sie sich daran halten, deren soziale Integration gewährleistet. Zum anderen etabliert sie auf der formalen Ebene durch die stete ‚Wiederholung des Immergleichen' ein Modell von Realität, das durch den ‚Schein' der Unabänderlichkeit möglichen Widerstand immer schon korrumpiert. Die Verhältnisse atmen den Odem der Alternativlosigkeit.
Das Resultat ist ein Konformismus mit dem Bestehenden und für das Subjekt bedeutet dies: „Der Kunde ist nicht, wie die Kulturindustrie glauben machen möchte, König, ihr Subjekt, sondern ihr Objekt.“ (Adorno 1963/1998: 337) Die Güter der Kulturindustrie werden zwar für die Subjekte produziert. Dabei verändern sie aber die Subjekte, die durch die Kulturindustrie total vereinnahmt und zum „Anhängsel der Maschinerie“ (Ebd.) reduziert werden. Manipuliert und verdummt lässt die Kulturindustrie Subjekte zurück, die nach Adorno gar keine mehr sind, und besonders keine Subjekte, die sich in irgendeinen Widerspruch zu ihrer Beherrschung begeben. „Bei vielen Menschen“, so Adorno (1951/1998: 55), „ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.“ Hatte Marx die Unfreiheit der Gesellschaft noch zentral im ökonomischen Bereich festgemacht und daraus eine bislang nicht bestätigte Prognose auf Widerstand abgeleitet, ist die Gesellschaftsbeschreibung der Kritischen Theorie wesentlich pessimistischer. Die total verwaltete Gesellschaft durchdringt alle Bereiche und integriert die Subjekte auch und vor allem jenseits der Arbeitswelt in ihrer Freizeit (Adorno 1969/1998a). Subjekttheoretisch bedeutet dies, nicht das Sein bestimmt das Bewusstsein, sondern dieses wird kulturell geformt und der gesellschaftliche Bereich der Kultur als ein Ort, der sich der Entfremdung entzieht, fällt aus. Das Subjekt ist, als gesellschaftliches Subjekt, in allen Lebensbereichen mit der Profitund Verwertungslogik konfrontiert, weil es sie internalisiert hat. Dies macht es aus Sicht der Kritischen Theorie dann auch notwendig, die Idee einer revolutionären Aufgabe der Arbeiterklasse bzw. die Orientierung der Theoriebildung auf diese aufzugeben. Die Arbeiterklasse ist durch die Kulturindustrie und deren Pendant, einer wachsenden Konsumorientierung, in die kapitalistischen Verhältnisse kulturell integriert. Hinzukommt, dass durch den Ausbau sozialstaatlicher Leistungen der von Marx anvisierte Klassenkampf pazifiziert werden konnte. „Der Unterschied“, so Adorno (1942/1998: 377),
„von Ausbeutern und Ausgebeuteten tritt nicht so in Erscheinung, dass er den Ausgebeuteten Solidarität als ihre ultima ratio vor Augen stellte: Konformität ist ihnen rationaler.“ Sozialstrukturell flankieren lässt sich diese Einsicht dadurch, dass aufgrund des Ausbaus des tertiären Sektors die Arbeiterschaft ohnehin im Laufe des 20. Jahrhundert quantitativ schrumpfte (Bessel 1999) und an deren Stelle die Schicht der Angestellten trat, die sich seit ihrem Auftreten auf der historischen Bühne eher konformistisch eingestellt hatte (Kracauer 1930/2006). Im Ergebnis fehlte, so ließe sich aus einer klassischen Subjektperspektive formulieren, der Kritischen Theorie ihr Adressat, weil von den Hoffnungen des 17. Und 18. Jahrhunderts auf Mündigkeit nicht viel übrig geblieben war.
Bei Adorno findet sich zudem ein weiteres Motiv, das bereits bei Stirner und Nietzsche aufgetaucht war: Die Bedeutung der Sprache (vgl. dazu Glauner 1998) und der Kunst. Wie schon erwähnt, wird die Aufklärung verdächtigt, aufgrund ihrer grundlegenden Prämisse in ihr Gegenteil zurückzufallen. Die grundlegende Prämisse war, die Verhältnisse auf einen Begriff bringen zu können – sei es der der Erfahrung, der Materie, des transzendentalen Subjekts oder der Rationalität. Adorno erblickt in diesem Programm insofern ein implizites Herrschaftsmoment, weil Begriffe grundsätzlich auf ein Allgemeines zielen und damit das Individuelle abschneiden. Dieses Individuelle ist für Adorno das Nicht-Identische, das, was sich nicht unter den identifizierenden Begriff subsumieren lässt. So, wie die Geldwirtschaft nach Marx und Simmel alles auf einen gemeinsamen Nenner bringt, ohne die Besonderheiten der Dinge zu berücksichtigen, bringt eben auch die Sprache alles auf einen Nenner und dies erstreckt sich dann auch auf die Menschen, die beispielsweise durch den Terminus ‚Subjekt' gleichgemacht werden, weil dieser Terminus nur das Allgemeine, im vorliegenden Fall den erkenntnistheoretischen Status des Menschen, fokussiert.
Getragen wird diese Sprachkritik Adornos vom Begriff der dialektischen Vermitteltheit. Wenn es keinen ersten Begriff, keine Prima Philosophia, geben kann, weil jeder erste Begriff eine Reduktion darstellt, sind die Begriffe in ihrer historischen Vermittlung zu betrachten. Ein Subjekt ist nur zu denken über seinen Bezug zu einem Objekt bzw. zur Gesellschaft und andersherum. Würde entweder das Subjekt als Ursprungsprinzip aufgestellt, würde die andere Seite notwendig beschnitten. Das kantische Subjekt kann nur aufgrund seiner immanenten Kategorien erkennen und die Apperzeption des Mannigfaltigen muss aus Adornos Sicht eine Unterdrückung des Mannigfaltigen darstellen, weil im Prozess der Erkenntnis nur das vom Verstand erkannt werden kann, was seine Begriffe zulassen. Würde andersherum das Objekt oder die Gesellschaft als Ursprungsprinzip aufgestellt, wäre das Subjekt ein Bedingtes und, wie bei Thomas Hobbes oder John Locke gesehen, dann wird unklar, wie es mündig auf seine Umwelt reagieren können soll. Beide Seiten müssen also, so Adorno, als vermittelte immer schon zusammengedacht werden. Der möglichen Kritik, dass damit ein neues erstes Prinzip formuliert wird, begegnet Adorno mit dem Hinweis, dass Vermittlung kein Substanzbegriff ist. „Vermitteltheit ist keine positive Aussage über das Sein, sondern eine Anweisung für die Erkenntnis, sich nicht bei solcher Positivität zu beruhigen, eigentlich die Forderung, Dialektik konkret auszutragen.“ (Adorno 1956/1998: 32) Sprache, so die Folgerung aus diesen Überlegungen, ist nicht unschuldig und es braucht kaum erwähnt werden, dass Sprache und Gesellschaft zwar nicht ineinander aufgehen, das Subjekt aber über Sprache an der Gesellschaft partizipiert, die so sein Denken prägt. Stirner hatte daraus die Konsequenz gezogen, dass einzig das Subjekt bzw. das Ich übrig bleibt, das sinnvollerweise benannt werden kann. Adornos negativ-dialektisches Denken verfährt demgegenüber sowohl radikaler als auch ‚versöhnlicher'. Radikaler ist Adorno, weil er nicht bei einem positiven Subjektoder Ichbegriff stehen bleibt. Jede positive Begriffssetzung verfällt dem Verdikt, das Nicht-Identische zuzurüsten, also auch Begriffe wie Subjekt oder Ich. ‚Versöhnlicher' ist Adorno, weil er weiß, dass die Begriffsbildung etwa für den Fortschritt der Wissenschaften und der Selbstaufklärung der Aufklärung nicht umstandslos aufgegeben werden kann. Keine Brücke und kein Haus ließen sich bauen, ohne eine mathematische Begriffsbildung. Und kein (links-)politischer Protest ließe sich formulieren, ohne etwa Begriffe der Menschenwürde zu verwenden. Aber: Sobald dies geschieht, muss die Einsicht folgen, dass damit wiederum neue Herrschaftsmomente generiert werden. Wie kann dann aber eine politische Praxis aussehen? Wie kann das Subjekt die auch von Adorno (1969/1971) eingeforderte Mündigkeit realisieren?
Prominent ist die Formel: „Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.“ (Adorno 1966/1998: 21) Der Philosophie kommt die Aufgabe zu, „die Richtung der Begrifflichkeit zu ändern, sie dem Nicht-Identischen zuzukehren“ (Ebd.: 24) und ganz allgemein, „Leiden beredt werden zu lassen“ (Ebd.: 29) Wird dieses Programm auf das Subjekt übertragen, hätte es sich grundsätzlich selbstreflexiv zu dispositionieren. Sobald etwa ein Begriff gefunden worden ist, der das je eigene Ich beschreibt, ist dieser Begriff sogleich zu negieren, um jene nicht-identischen Momente an einem Selbst freizulegen. Die Frage „Was machst du?“ oder „Was bist du?“ ist also bestenfalls für den Moment zu beantworten oder mit Marx: Jäger, Fischer, Hirt und kritischer Kritiker, „ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden“ (Marx/Engels 1845-46/1990: 33). Das Subjekt muss vermeiden, sich eine Identität zu stiften und darf dennoch nicht darauf verzichten, weil dann Mündigkeit nicht adressiert werden könnte. Um diesen Balanceakt zu konkretisieren, übernimmt Adorno von Walter Benjamin die Idee der Konstellation. Dieser hatte gemeint, „vom Extremen geht der Begriff aus. Wie die Mutter aus voller Kraft sichtlich erst da zu leben beginnt, wo der Kreis ihrer Kinder aus dem Gefühl ihrer Nähe sich um sie schließt, so treten die Ideen ins Leben erst, wo die Extreme sich um sie versammeln.“ (Benjamin 1928/1993: 17) Dieses Versammeln soll nun nicht dazu dienen, den Gegenstand durch Addition verschiedener Begriffe im Sinne einer Adäquatiotheorie erfassen zu können. Vielmehr sollen kontradiktorische Begriffe den Gegenstand konstellativ umstellen, die sich gegenseitig neutralisieren und so eine einseitige Identifizierung vermeiden. Die Hoffnung, die sich mit einem solchen Vorgehen verbindet, ist, den Gegenstand aus immer wieder anderen Perspektiven zu betrachten, und immer wieder andere Aspekte hervorzuheben. Eine begrifflich erfasste Ich-Identität müsste also so aussehen, dass Bedürfnisse, Dispositionen oder Triebe zwar benannt werden, ihnen aber zugleich entgegengesetzte Bedürfnisse oder Dispositionen gegenüber gestellt werden, wobei kein Begriff die je eigene Identität jemals fixieren darf. Dies hatte Marx mit dem angeführten Zitat wohl bereits im Sinne gehabt, zumindest dann, wenn Jäger, Fischer, Hirt und kritischer Kritiker als sich ausschließende Tätigkeiten verstanden werden. „Leiden beredt werden zu lassen“, zielt vor diesem Hintergrund darauf ab, gesellschaftliche Verhältnisse zu kritisieren, die das Subjekt auf eindeutige Tätigkeiten, Bedürfnisse etc. instrumentell festlegen. Ähnlich wie Nietzsche in der Kunst das Andere der instrumentellen Vernunft verortet hatte, flankiert Adorno seine Vernunftkritik. Bei Nietzsche war bereits die Idee aufgetaucht, dass es etwas hinter den (wissenschaftlichen) Begriffen geben muss, welches diese nicht erreichen können. Die dionysische Kunst sollte helfen, dies zugänglich zu machen. Bei Adorno stehen die Vorzeichen freilich anders. Es ist für Adorno nicht ein Leiden an einer sinnlosen Existenz, die ihn zu seiner kritischen Theorie motiviert, sondern ein konkretes Leiden an der kapitalistischen Gesellschaft, die zu überwinden wäre. Die Kunst soll dieses Leiden explizieren, ohne es freilich begrifflich zu identifizieren. Dabei erreicht sie eine nietzscheanische Unmittelbarkeit oder den Blick hinter die Erscheinungen genauso wenig wie die Wissenschaft. Im Gegenteil: Die Kunst bedarf „der begrifflichen Vermittlung, um verstanden zu werden“ (Thomann 2004: 92), denn „was die Kunst zur Erscheinung bringt, ist nicht das Licht der Erlösung selbst, sondern die Wirklichkeit im Lichte der Erlösung“ (Wellmer 1993: 16). Sie setzt das dialektische Spiel zwischen Wirklichkeit und ihrer Kritik in Gang, ohne das Eine oder das Andere auf den Begriff zu bringen. Entsprechend haben die Kunstwerke einen Rätselcharakter, der nie vollständig zu lösen ist, denn „Kunstwerke, die der Betrachtung und dem Gedanken ohne Rest aufgehen, sind keine“ (Adorno 1969/1998b: 184). Dennoch oder gerade deswegen entzieht sich die Kunst in der Interpretation Adornos dem zweckinstrumentellen und identifizierenden Denken und steht „für einen Stand der Praxis jenseits des Banns von Arbeit“ (Ebd.: 26), für eine andere, freie Gesellschaft, von der selbstredend kein Bild gemalt werden kann, außer „dass keiner mehr hungern soll.“ (Adorno 1951/1998: 178)
Adorno – respektive die Kritische Theorie, wie sie hier zu Wort gekommen ist – fungiert als Repräsentant für den Passivpol. Angesichts des dialektischen Programms der Vermittlung ist es kaum verwunderlich, dass er diesen Pol nicht eindeutig besetzt. Er übernimmt in vielen Punkten die marxsche Theorie und mit dieser auch die Ambivalenz des Subjektbegriffes. Politisch dürfte unbestritten sein, dass es Adorno um die Aktivität (bzw. Freiheit oder Mündigkeit) des Subjekts zu tun war. Im optimalen Fall enthält es sich dem instrumentellen Denken und operiert mit einer Begriffsbildung, die sich dem Nicht-Identischen zuwendet. Dann (und wohl nur dann) erlangte es eine aktive Position gegenüber der Außenwelt und dem eigenen Ich. Bis dahin jedoch ist es eigentlich gar nicht Subjekt im emphatischen Sinne, weil es unter der Herrschaft der Kulturindustrie und der kapitalistischen Warenwirtschaft steht, die das Subjekt nur als verwertbares gelten lassen und es in eine Passivität treiben, die sich als Abhängigkeit von der Gesellschaft darstellt. Das Denken des Subjekts ist vermittelt und solange die vermittelnde Instanz im Dienste des Status Quo operiert, ist das Denken kein freies oder eigenständiges Denken. Die Aufklärung, die den Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit führen sollte, hat sich nicht durchsetzen können. Schlimmer noch: Sie selbst ist nicht unschuldig am Zustand des Subjekts. Retten vermag hier allein noch die Kunst, die freilich, so bereits der Vorwurf der 68er an Adorno, keine durchschlagende politische Kraft evozieren kann. Allein, wie schon von Nietzsche konstatiert, die Kunst impliziert ein aktives, gestalterisches Moment, das über die Verdinglichung hinausweist. Es bleibt jedoch die Frage, wie das Subjekt sich seiner Verdinglichung entziehen kann, wenn es doch durch die Gesellschaft so geformt wird, dass es seinen Subjektstatus einbüßt? Und wenn Subjektsein grundsätzlich bedeutet, gesellschaftlich vermittelt zu sein, bleibt dann selbst in der denkbar freiesten Gesellschaft das Subjekt nicht abhängig? Diese Fragen stellten sich bei den Französischen Materialisten und bei Marx. Auch Adorno hinterlässt hier eher ein Rätsel – immerhin ganz so wie er es von den Kunstwerken verlangt.
Die klassische Kritische Theorie hatte ihren Rezeptionszenit mit der 68er-Bewegung. Insbesondere in Frankreich setzte sich an deren Stelle eine Philosophierichtung, die unter dem Label des Poststrukturalismus (Münker/Roesler 2000) firmiert – ohne dass dieser Begriff eindeutig bestimmt wäre oder auf ein kohärentes Theorieprogramm verweisen würde – und ebenfalls als Gesellschaftskritik verstanden wird (Reckwitz 2008a); vor allem bei Foucault, der hier als Repräsentant des Poststrukturalismus angeführt werden soll. Trotz nicht ungewichtiger Differenzen zwischen der Kritischen Theorie und Foucault, gibt es gemeinsame Motive, und Foucault (1983/2005a: 532) bekennt freimütig: „So manche Dummheit hätte ich nicht ausgesprochen und viele Umwege hätte ich nicht gemacht bei meinem Versuch, für mich meinen Weg zu gehen, wo doch die Frankfurter Schule bereits Wege eröffnet hatte.“ Anspielen dürfte er damit auf Gemeinsamkeiten, die etwa in der Kritik der Vernunft bzw. Aufklärung, in der Einschätzung der Gegenwartsgesellschaft als umfassendem Herrschaftsapparat oder in dem Plädoyer „anders zu denken“ bestehen. Den Gemeinsamkeiten stehen allerdings gewichtige Unterschiede gegenüber. Foucaults Aufklärungskritik ist radikaler, weil er ihr nicht wie Adorno und Horkheimer Fehlerhaftigkeiten vorwirft, die durch einen richtigen Vernunftgebrauch zu korrigieren wären, sondern das Begründungsprogramm der Aufklärung bzw. die Frage nach dem „richtigen Vernunftgerbrauch“ verwirft. Dies ist allerdings nicht gleichzusetzen mit einer kompletten Verwerfung der Aufklärung, die insbesondere durch Kant auch für Foucault (1978/1992, 1984/2005a) den Referenzpunkt für die Kritik liefert. Dennoch: Foucault verzichtet grundsätzlich auf einen normativen Maßstab, weil dieser selbst nur wieder ein Machtmoment unter vielen wäre. Dies hat Konsequenzen für seinen Subjektbegriff, die es, wie zu demonstrieren sein wird, erlauben, ihn eindeutiger dem Passivpol zuzuordnen, wenngleich, wie sich ebenfalls zeigen wird, sich auch bei Foucault keine reine Zuordnung gestattet.
Foucaults Denken in der hier gebotenen Kürze auszubreiten, ist ein nicht durchführbares Unterfangen, weil Foucault keine systematische Theorie vorgelegt hat (vgl. Honneth 2003a) und er sowohl thematisch als auch methodisch seinem Diktum gefolgt ist, immer wieder anders zu denken und auch gegen sich selbst zu denken. Den Foucault gibt es nicht und die folgenden Ausführungen müssen daher notwendigerweise über Begriffsund Themenverschiebungen in Foucaults Werk hinwegsehen. Was seine Subjekttheorie betrifft, hat Foucault allerdings diese als eine mögliche Klammer seiner Arbeiten vorgeschlagen, als er behauptete: „Das umfassende Thema meiner Arbeit ist also nicht die Macht, sondern das Subjekt.“ (Foucault1982/2005: 270).
Aufsehen erregt hatte er zunächst mit der Prognose, „der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“ (Foucault 1966/1995: 462) Aufsehen erregend war diese Behauptung nicht zuletzt deswegen, weil sie in einem intellektuellen Umfeld publiziert wurde, das durch Sartres Existenzialismus dominiert war (s. u.). Dieser hatte das Subjekt aus seiner seit dem 19. Jahrhundert existierenden Verwobenheit mit der Sprache und der Gesellschaft befreit und ihm eine Verantwortlichkeit für sein Denken und Handeln zurückgegeben. Würde nun dieses Subjekt so klanglos verschwinden, wie in Foucaults Metapher beschrieben, drohte damit zugleich das Projekt der Emanzipation auszulaufen. Foucault wurde des Anti-Humanismus bezichtigt und in einem gewissen Sinne ist dieser Vorwurf auch berechtigt, da Foucault aus seiner Ablehnung des klassischen Humanismus keinen Hehl macht. Diesen sieht er als eine Erblast des 19. Jahrhunderts, „von der wir uns unbedingt befreien sollten.“ (Foucault 1966/2001a: 667) Bei genauerem Blick relativiert sich diese Ablehnung indessen. Foucaults Humanismuskritik reiht sich nämlich ein in die Tradition einer Aufklärungskritik in emanzipatorischer Absicht. Was er, wie in ähnlicher Form vor ihm Stirner, dem Humanismus vorwirft, ist, „dass er eine bestimmte Form unserer Ethik zum Muster und Prinzip unserer Freiheit erklärt.“ (Foucault 1984/2005b: 965) Dem entgegen müsse davon ausgegangen werden, dass es „mehr mögliche Freiheiten“ gibt, „als wir uns dies im Rahmen des Humanismus vorstellen können.“ (Ebd.) Vor dem historischen Hintergrund des Stalinismus, der vorgab im Namen humanistischer Ideale angetreten zu sein, weist Foucault also „nur“ darauf hin, dass der Humanismus selbst zur Herrschaft wird, wenn er dogmatisch gesetzt wird.
Foucault identifiziert den Humanismus mit der Anthropologie, oder besser mit einer spezifischen Anthropologie, die auf den Menschen an sich zielt und die Foucault (1966/1995: 417) als „große innere Gefahr der Wissenschaften“ geißelt. Denn: „Je tiefer man in den Menschen eindrang, desto mehr verflüchtigte er sich.“ (Foucault 1968/2001a: 847) Werden nun humanistische Ideale auf der Basis der Anthropologie errichtet, setzen sie immer auch fest, was der Mensch ist. Zwar lassen sich dann Entfremdungen diagnostizieren, die den Menschen aufgrund wirtschaftlicher, politischer oder rechtlicher Prozesse von seiner Eigentlichkeit trennen und eine mögliche Kritik kann diese Prozesse dafür verantwortlich machen. Der Mensch aber, so Foucault, ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts, als die Humanwissenschaften entstanden, die den Menschen als Objekt der Forschung überhaupt erst konstituiert haben, weil er vorher, in den Diskursen der Aufklärung (Foucault spricht vom klassischen Zeitalter) schlichtweg nicht vorkam. Als Produkt einer spezifischen, historischen Wissenschaftlichkeit können die Humanwissenschaften die Natur des Menschen aber nicht erreichen, zumal der Mensch eben wieder zu verschwinden droht, „nicht als Objekt von Wissen, sondern als Subjekt der Freiheit und des Daseins“ (Ebd.).
Mit der Entdeckung des Menschen erlangte nämlich gleichzeitig die Sprache eine Eigenmächtigkeit, die den Menschen wieder abhanden kommen lässt, weil Sprache und Mensch von Foucault als Gegensatz interpretiert wird. „Der Sprache wird ihr Sein erst im Verschwinden des Subjekts offenbar.“ (Foucault 1966/2001b: 674; vgl. auch ders.: 1966/2001c, 1966/2001d) Diesen Gedanken hat Foucault nicht als erster entwickelt und er verweist wiederholt auf Nietzsche, der dies als erster gesehen hätte. Zugrunde liegt dem postulierten Gegensatz die These, dass eine Analyse der Sprache „unbewusste Strukturen“ entdeckt, „die uns beherrschen, ohne dass wir es bemerkten oder wollten.“ (Foucault 1968/2001b: 841) Einen solchen Zusammenhang zwischen Sprache und Subjekt hatte auch Adorno gemutmaßt. Bei Foucault scheint dieser Zusammenhang jedoch grundsätzlicher zu sein. Für Adorno bestand die Hoffnung auf eine Sprache, die das Nicht-Identische wenigstens konstellativ umstellt, und diese Hoffnung wurde ihm möglich, weil die Sprache durch einen falschen Vernunftgebrauch korrumpiert wurde. Für Foucault gibt es keine Hoffnung auf eine andere Sprache. Wenigstens lässt sich nicht ohne weiteres eine andere Sprache denken oder formulieren, die den Gegensatz zwischen Sprache und einem freiheitlich konzipierten Subjekt aufheben könnte, resultiert dieser doch nicht aus einer verblendeten, fehlgeleiteten Vernunft. Geht es indessen um eine andere, freie Gesellschaft im Sinne der Kritischen Theorie, folgt auch aus den Überlegungen Foucaults, dass diese nicht allein durch einen Wandel der Institutionen zu haben ist. Eine qualitativ andere Gesellschaft setzt eine andere Sprache (bzw. ein anderes Denken) voraus. Und dies deshalb, weil die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht mehr durch eine genuin materialistische Theorie abgedeckt werden kann. Foucault reiht sich ein in die kulturalistische Ergänzung des kritischen Denkens im 20. Jahrhundert.
Das kritische Denken bei Foucault muss allerdings in den 60er Jahren zunächst ohne einen starken, emphatischen Subjektbezug auskommen. Seine These vom Verschwinden des Subjekts hat er nicht nur behauptet, an der Wissenschaftsgeschichte demonstriert und durch den Verweis auf die Sprache theoretisch untermauert; er hat das Verschwinden des Menschen auch methodologisch exerziert. Seine „Archäologie des Wissens“ soll einen neuen Zugriff auf die Geschichte eruieren, der mit tradierten Maximen bricht. Allem voran geht Foucault mit der Vorstellung ins Gericht, die Geschichte – zumal die Geschichte des Wissens bzw. der Wissenschaften – sei ein kontinuierlicher und progressiver Prozess. Die geschichtsphilosophische Hoffnung des Marxismus hatte sich nicht erfüllt und länger an einem solchen Geschichtsbild festzuhalten, war sicherlich widersinnig. Im Fall der Wissenschaften hatte Thomas Kuhn (1962/1973) bereits demonstriert, dass diese keineswegs mit dem Modell einer sukzessiven oder kumulativen Annäherung an die Wahrheit beschrieben werden können. In der Wissenschaftsgeschichte lösen verschiedene Paradigmen einander ab und definieren dann für eine bestimmte Zeit, welche Erkenntnisse gewonnen werden können und welche nicht. Die Konsequenz daraus ist inzwischen zu einem Allgemeinplatz geworden: Wissenschaftliche Wahrheiten sind immer nur Wahrheiten auf Zeit. Streng genommen macht der Wahrheitsbegriff dann eigentlich keinen Sinn mehr, weil diese Historisierung von Wahrheit einen Relativismus impliziert, der nicht nur längsschnittlich funktioniert, sondern auch querschnittlich. Wieso sollen wissenschaftliche Wahrheiten wahrer sein als Alltagswahrheiten oder religiöser Glaube? Der hervorgehobene Stellenwert wissenschaftlicher Wahrheiten hängt nur noch davon ab, ob dem methodisch kontrollierten Wissenserwerb besondere Qualitäten gesellschaftlich zuerkannt werden. Genau dies scheint die Position von Foucault zu sein. Er spricht zwar nicht wie Thomas Kuhn von Paradigmen, sondern von Diskursen, die gegenüber dem Paradigmenbegriff einen breiteren Fokus haben, aber ähnlich wirksam sind.
Zunächst zeichnen sich die Diskurse dadurch aus, dass sie keine kontinuierliche Abfolge darstellen. Ihr historisches Auftauchen und Vergehen kann zwar beschrieben und erklärt werden, bleibt aber insofern arbiträr, als hinter den Diskursen kein Ursprung liegt, auf den die Diskurse (mono-)kausal zurückgeführt werden könnten (Foucault 1969/2001; Foucault 1968/2001c). Es gibt also nicht wie bei Marx eine technische Entwicklung, die für die Entwicklung gesellschaftlicher Diskurse (Überbau) verantwortlich gemacht werden kann und auf die sich die Akteure im Zweifel verlassen können. Foucaults Insistieren auf die Diskontinuität der Geschichte setzt einen anderen moralisch-ethischen Impetus.
„Der Nachweis der Kontingenz unserer heutigen Normalitäten soll dazu anregen, anders zu denken, Neues und Anderes praktisch zu wagen.“ (Keller 2008: 59) Die Kritiker der gesellschaftlichen Verhältnisse sind aufgerufen, nicht auf spezifische Entitäten zu warten. Die Verantwortung für Veränderungen liegt voll und ganz bei ihnen. Wird Foucault so gelesen, rückt er in die Nähe seines Opponenten Sartre, der die Eigenverantwortung bereits eingefordert hatte.
Inwieweit sich diese Verantwortung auf die Gestaltung der Diskurse erstreckt, ist hingegen eine Frage, die Foucault eher negativ beantwortet. Seine Ablehnung eines kontinuierlichen Prozesses korreliert bei ihm mit der Ablehnung eines cartesianisch gedachten Subjekts. Der „Diskurs ist nicht die majestätisch abgewickelte Manifestation eines denkenden, erkennenden und es aussprechenden Subjekts.“ (Foucault 1969/1994: 82) Das Subjekt bzw. seine Aussagen konstituieren nicht einen Diskurs, der dann möglicherweise eine Eigendynamik entfaltet und die Subjekte beherrscht. Foucault deutet den Zusammenhang andersherum. Der Diskurs konstituiert das Subjekt, das dann auf den Diskurs zurückwirken mag. Es ist bei Foucault dezidiert nicht transzendental, sondern empirisch aufgestellt. Wenn, wie dies im vorliegenden Kontext der Fall ist, sich die Aktivität des Subjekts wesentlich (wenngleich nicht ausschließlich) aus dem Erbe des Cogito speist, muss Foucault mit seinem Anticartesianimus (vorläufig) eindeutig dem Passivpol zugeordnet werden.
Seine Diskursanalyse zielt darauf, Regelmäßigkeiten zu eruieren, die das Denken und Sprechen innerhalb des Diskurses anleiten. Die erkenntnisleitende Frage ist, wie es kommt, „dass eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle?“ (Ebd.: 42) Die von Foucault dazu vorgelegten methodischen Regeln der Diskursanalyse, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, verfolgen das Interesse, eine Ebene zwischen den historisch überlieferten Aussagen und den Dingen freizulegen. Bei Foucault stehen (wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche) Aussagen unter einer Diskursregie, die den Akteuren keineswegs bewusst ist. So beziehen etwa der Rationalismus und der Empirismus des 17. Jahrhunderts unterschiedliche Positionen bezüglich der Erkenntnisgewinnung. Gemeinsam ist ihnen aber, überhaupt eine erkenntnistheoretische Frage zu stellen und diese vom Objekt her zu beantworten. Erst Kant wird, wie gesehen, die Frage andersherum stellen und vom Subjekt ausgehen. Nun reicht dieses Beispiel zwar nicht aus für eine qualifizierte Diskursanalyse und ist im foucaultschen Sinne sogar falsch, weil auch Kant dem klassischen Erkenntnisdiskurs zugeordnet werden kann. Wird davon abgesehen und der Faden weitergesponnen, muss nach Foucault gelten, dass Descartes und Locke aufgrund des epistemologischen Diskurses die Frage gar nicht anders stellen konnten, als vom Objekt ausgehend, und sich beide über diesen Umstand nicht bewusst waren. Auf den letzten Punkt kommt es an. Er betrifft die Stellung des Subjekts gegenüber dem Diskurs und verweist auf die wissenschaftstheoretische Ausrichtung der Diskursanalyse.
Das Subjekt kommt in der Diskursanalyse weder als begründende Referenz noch als Sinnstifter vor. Der Diskurs wird durch eine Rekonstruktion dessen, was faktisch gesagt worden ist, analysiert. Foucault bezieht eine dezidiert antihermeneutische Position, weil er mit seiner Diskursanalyse nicht auf einen verborgenen Sinn in der Geschichte hinaus möchte, und weil er mögliche Strukturen des (subjektiv) Unbewussten unberücksichtigt lässt. Er sieht sich selbst als „glücklicher Positivist“ (Ebd.: 182), der an der Oberfläche des Gesagten „die Regelmäßigkeit der Aussagen feststellen“ (Ebd.: 205) möchte, um so die Ordnungsstrukturen des Diskurses bestimmen zu können. Das Subjekt kommt dabei einzig als Sprecherposition vor. „In der vorgeschlagenen Analyse manifestieren sich die verschiedenen Modalitäten der Äußerung, anstatt auf die Synthese oder auf die vereinheitlichende Funktion eines Subjekts zu verweisen, seine Dispersion. In den verschiedenen Statuten, an den verschiedenen Plätzen, in der verschiedenen Positionen, die es innehaben oder erhalten kann, wenn es einen Diskurs hält.“ (Ebd.: 82) Zwei Aspekte sind hier bedeutsam. Erstens gerät das Subjekt ‚nur' als Platzhalter in den Fokus, und dies, in dem es verschiedene Rollen oder Positionen einnimmt. Im medizinischen Diskurs, so Foucaults Beispiel, ist es etwa der Arzt, der das Recht hat, medizinische Wahrheiten über den Körper zu formulieren. Was indessen als Wahrheit gelten darf und was nicht, entscheidet der Diskurs, innerhalb dessen der Arzt spricht. Vergleichbar ist dies mit der Systemtheorie Luhmanns. Seine provokante These: „Nur die Kommunikation kann kommunizieren“ (Luhmann 1988/1995: 37), rechnet ebenfalls mit dem Subjekt nur als Kommunikationsadresse, das heißt, als Notwendigkeit, Kommunikation zuordnen zu können. Zugrunde liegt dem die Differenzierung der Systemebenen des psychischen und sozialen Systems (Luhmann 1984, 2002a), wobei psychische Systeme über Bewusstsein operieren und soziale Systeme über Kommunikation und dies in beiden Fällen: operativ geschlossen bzw. autopoietisch. Aus dieser theoretischen Weichenstellung resultieren natürlich gravierende Unterschiede zu Foucault und der bedeutsamste ist wohl, dass Luhmann auf den Subjektbegriff vollständig verzichtet und stattdessen von psychischen Systemen spricht. Er verfährt damit sicherlich konsequenter als Foucault, der das klassische Subjekt eliminieren möchte, die Begrifflichkeit aber weiter transportiert.
Dies erlaubt ihm hingegen, den zweiten Aspekt des obigen Zitats zu behaupten. Das Subjekt ist nach Foucault keine mit sich identische Entität, sondern aufgrund der Einnahme unterschiedlicher Diskurspositionen in möglicherweise sogar unterschiedlichen Diskursen dezentriert. Neu ist dieser Gedanke nicht. Hume hatte die cartesianische Vorstellung attackiert, es gebe das Subjekt als identische Substanz. Kant hatte daraufhin zwar noch einmal ein Subjekt vorgeschlagen, das als Synthetisierungsinstanz einen einheitlichen Charakter haben muss, aber dies nur der logischen Form nach. Auch der von Foucault kritisierte Sartre gibt, wie sich noch zeigen wird, die Vorstellung eines identischen Subjekts auf. Am Ende des klassischen Zeitalters war das Subjekt als identische Entität de re bereits erledigt. Mit der Entdeckung der Gesellschaft wird dieser Befund soziologisch bzw. sozialpsychologisch weitergetrieben. Georg Simmel (1908/1992) nahm an, dass das Subjekt durch die Inklusion in voneinander unabhängigen sozialen Kreisen disparaten Einflüssen ausgesetzt ist und sich entsprechend immer wieder anders generieren muss. Die Folge kann eine innere Zerrissenheit sein, wenn die sozialen Kreise, an denen das Subjekt partizipiert, widersprüchliche Anforderungen stellen. Bei Simmel gibt es indessen noch eine Subjektvorstellung, die sich an das klassische Zeitalter anlehnt. Foucault ist hier radikaler, weil es von vornherein keine Instanz gibt, die durch konfligierende Diskurspraktiken zerrissen werden könnte. Das Subjekt, das durch den Diskurs erst konstituiert wird, ist als dezentriertes Subjekt konstituiert. Dass es dann als sinnstiftende Synthetisierungsund Begründungsinstanz für den Diskurs ausfallen muss, ist nur folgerichtig.
Aber genau dafür gibt es gute Gründe, die die spezifische wissenschaftstheoretische Stellung der Diskursanalyse markieren. Der „glückliche Positivist“ Foucault verzichtet auf einen klassischen Subjektbegriff, um die Diskursanalyse auf ein sicheres, objektives Fundament stellen zu können. Er geht davon aus, dass die Humanwissenschaften, solange sie „sich auf das menschliche Bewusstsein und auf den Menschen als Subjekt beziehen, psychologisieren sie und bleiben unsicher. Wissenschaften können sie nur werden, wenn sie sich der Psychologie entziehen.“ (Foucault 1968/2001b: 842) Luhmann hat deshalb den Subjektbegriff gleich in toto ad acta gelegt. Foucault geht soweit nicht, sondern grenzt den Zugriff auf das Subjekt ein. Er lässt es sprechen und denken, fokussiert aber das „Denken vor dem Denken“ (Foucault 1966/2001a: 666) oder eben die diskursiven Formationen, innerhalb derer Wahres ausgesagt werden kann. Foucault errichtet, ähnlich wie ihm zuvor Emile Durkheim, einen sozialwissenschaftlichen Objektivismus, der sich um die Probleme der subjektiven Sinnsetzung nicht kümmern muss. Nicht unähnlich dazu hatte Max Weber (1921/1980) die subjektiven Sinnsetzungen als mögliche Störquelle wissenschaftlicher Forschung durch die Methode der Idealtypisierung einzufangen versucht.
Wenn die Diskurse das „Denken vor dem Denken“ fokussieren, ist es konsequent, dass Foucault ihnen einen produktiven Status einräumt. Sie konstituieren nicht nur die Subjekte, sondern auch die Gegenstände, die innerhalb eines Diskurses benannt oder gedacht werden können. Foucaults Diskursbegriff impliziert einen Konstruktivismus, nach dem die Dinge sich nicht in unmittelbarer Weise dem Denken und Sprechen aufdrängen, sondern im Gegenteil, die Dinge so erscheinen, wie über sie gedacht oder gesprochen wird. So hatte es etwa Kant bereits gesehen und so wie bei Kant bedeutet der Konstruktivismus nach Foucault auch, dass die Dinge durchaus eine Eigenwirksamkeit haben, die sich auf den Diskurs auswirkt. Wenn bestimmte Fakten mit den Sprechund Denkmöglichkeiten eines Diskurses kollidieren, muss der Diskurs entweder darauf reagieren oder er muss abgebrochen und durch einen neunen ersetzt werden. In einer solchen Umbruchsituation ist der Mensch entstanden, als der Diskurs des klassischen Zeitalters durch neue Diskurse abgelöst wurde. Und er ist wieder verschwunden bzw. droht zu verschwinden, weil der humanwissenschaftliche Diskurs seit dem 19. Jahrhundert der Sprache eine dominierende Stellung einräumt.
Nicht verschwunden ist das Subjekt oder der Mensch allerdings in den Schriften Foucaults. Was sich in der „Archäologie des Wissens“ andeutete wird in den 70er Jahren ausgebaut: Die Thematisierung der Macht und ihr Verhältnis zum Subjekt. In seiner Antrittsvorlesung am Collège des France verliert der Diskursbegriff seine neutrale Unschuld und wird zu einem Ort der Machtausübung, der das Subjekt nicht unberührt lässt. Foucault benennt in diesem Zusammenhang drei Mechanismen, die den Diskurs mit der Macht verbinden. Von Außen regeln Verbote oder Formen des Ausschließung das, was gesagt werden darf oder wer etwas sagen darf, so dass „nicht jeder beliebige über alles beliebige reden kann.“ (Foucault 1970/1996: 11) Intern kontrolliert der Diskurs sich durch Prozeduren, die das Sprechen auf überschaubare Möglichkeiten begrenzen. Foucault spricht vom Kommentar, der das Neue durch Wiederholung produziert und so den Zufall bannt. Schließlich strukturieren Zugangsbeschränkungen die Partizipation an Diskursen, die unter anderem in der Form von Ritualen praktiziert werden, die es spezifischen Subjekten erlauben, eine legitime Sprecherposition einzunehmen. So darf beispielsweise der Arzt im medizinischen Diskurs sprechen, weil er sich dem Ritual einer akademischen Prüfung unterworfen hat, die hier als Initiationsritual funktioniert. Das Subjekt, so das Resultat dieser Überlegungen, hat keinen freien Zugang zu allen möglichen Diskursen und selbst dann, wenn es einen Zugang erreicht hat, ist es nicht frei, alles zu sagen. Es unterliegt nicht nur einem „Denken vor dem Denken“, es ist in Machtstrukturen eingebettet, die das Sprechen reglementieren. Nun darf nicht übersehen werden, dass Foucault einen eigenen Machtbegriff entwickelt hat, der sich von den klassischen Machtvorstellungen deutlich absetzt. An diesen kritisiert Foucault, dass sie den Machtbegriff auf die Frage der juridischen Souveränität reduzieren. Mag dies im Fall monarchistischer Gesellschaften noch anschaulich sein, so gilt für moderne Gesellschaften, dass sich deren Stabilität durch den Einsatz der Staatsmacht nicht hinreichend erklären lässt. Wie schon kurz angedeutet, bedeutet der Übergang zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft eine formaljuristische Freisetzung des Individuums aus vormals paternalistischen Verhältnissen. Aus gesellschaftskritischer Sicht stellt sich dann die Frage, wieso gravierende Missverhältnisse, wie etwa der Pauperismus im 19. Jahrhundert, hingenommen werden. Wieso akzeptieren die Subjekte Verhältnisse, in denen sie entfremdet werden, in denen sie unter materieller Deprivation leiden, in denen sie durch unterschiedlichste Institutionen entmündigt werden? So jedenfalls stellte sich der Fragehorizont der Kritischen Theorie dar und Foucault kann als ein Autor gelesen werden, der diese Fragen aufnimmt. Seine Antwort darauf ist auch der der Kritischen Theorie nicht unähnlich. Diese hatte in einem durch die Kulturindustrie generierten autoritären Charakter Persönlichkeitsdispositionen entdeckt, die die Akzeptanz nicht zu akzeptierender Verhältnisse wahrscheinlich macht. Bei Foucault stellt sich dies so dar, dass die Macht inkorporiert wird und dies, „ohne zunächst im Bewusstsein der Leute verinnerlicht“ (Foucault 1977/2003: 302) zu werden. Gegenüber der Kritischen Theorie ist der Zugriff der Macht direkter, weil keine kulturellen Mechanismen und auch keine subjektive Instanz wie das Bewusstsein vermitteln würden. Gegenüber der Kritischen Theorie ist der Machtbegriff bei Foucault gleichwohl nicht negativ konnotiert. Wo Machtbeziehungen existieren „wirken sie unmittelbar hervorbringend“ (Foucault 1976/1983: 94) und dies auch im Fall des Subjekts. Wie schon gesehen liest es Foucault in den 60er Jahren als das Produkt eines spezifischen humanwissenschaftlichen Diskurses. In seiner Schrift „Überwachen und Strafen“ ergänzt er diesen Gedanken anhand der Entwicklung des modernen Strafsystems. Für dieses steht nach ihm das Panopticum Pate, das so aufgebaut ist, dass die Insassen der Strafanstalt jederzeit gesehen werden können, ihrerseits aber keinen Einblick auf die Wärter haben, die hinter verspiegelten Gläsern platziert sind. Der Effekt einer solchen Einrichtung ist, dass die gewünschten Verhaltensweisen der Insassen von diesen internalisiert werden. Die Macht der Wärter wird in diesem Zuge redundant, oder allgemeiner: Die Macht entindividualisiert sich. Hinter der Macht stehen keine Subjekte (wie etwa der Monarch) und sie hat deswegen auch keine intentionale Ausrichtung (etwa die Unterdrückung von Opponenten). Sie ist eher als ein allgegenwärtiges Netz zu verstehen, das in allen menschlichen Beziehungen wirksam wird und nicht durch die Dichotomie Herrschende vs. Beherrschte zu charakterisieren ist. Macht wird in jeder Interaktion gegenwärtig, weil jede Interaktion in eine Beeinflussung des anderen mündet (Foucault 1981/2005a). Aus diesem Grund gibt es auch nicht die eine Macht, passender ist es, den Begriff im Plural zu verwenden.
Im Verbund mit der Disziplin konstituiert sie das Individuum, weil dieses als Individuum von der Macht kontrollierbar sein muss. „Je Anonymer und funktioneller die Macht wird, umso mehr werden die dieser Macht unterworfenen individualisiert.“ (Foucault 1975/1994: 248) Einsichtig macht dies Foucault etwa an (Schul-)Prüfungen, bei denen das „Individuum als beschreibbarer und analysierbarer Gegenstand“ (Ebd.: 245) konstituiert wird. Das Individuum wird als einzigartig produziert, weil seine spezifischen Leistungen in einem Examen gemessen werden. Zu diesem Zweck muss es als Individuum angesprochen werden. Gleichzeitig steht es im Rahmen von Prüfungen in einem allgemeinen Zusammenhang, der den Vergleich und die Normierung erlaubt. Kurzum: So, wie Marx die Entfaltung des modernen Individualismus auf die funktionalen Anforderungen der kapitalistischen Warenproduktion zurückführt, führt Foucault diese Entfaltung auf die Entwicklung einer modernen Disziplinargesellschaft zurück. Beide dekonstruieren damit jene Position, die im Individualismus einen Wert sui generis sieht (etwa Mill 1859/1987). Bei Foucault liegt dieser Rückführung ein Wechsel in der methodischen Ausrichtung zugrunde. Er gibt den Diskursbegriff nicht auf, legt seinen Schwerpunkt ab den 70er Jahren jedoch auf eine genealogische Methode, die als „eine historische Auflösung selbstverständlicher Identitäten“ (Geuss 2003: 152) umschrieben werden kann, oder im direkteren Bezug zum Subjekt: „Das genealogische Verfahren besteht darin, dem Subjekt die Geschichte der Machtwirkungen auf es selbst zu erzählen, ihm die Geschichte seines Werdens zu erzählen.“ (Saar 2003: 169) Nun mag es zu plausibilisieren sein, die Entfaltung moderner Individualität oder Subjektivität nicht als Ergebnis humanistischer oder aufklärerischer Gedanken zu begreifen, sondern diese auf Machtmechanismen zu beziehen, die gleichsam hinter dem Rücken der Akteure die entsprechenden Fäden gezogen haben. Eine Frage stellt sich jedoch unmittelbar im Anschluss an Foucaults Machtbegriff. Wenn Macht tatsächlich einen ubiquitären Status hat, wie der Terminus der Allgegenwärtigkeit es nahe legt, und wenn das Differenzdenken Recht hat, dann ist der Begriff letztlich eine Leerstelle, er bezeichnet nichts. Ganz so differenzlos ist der Machtbegriff indessen nicht. Foucault grenzt ihn vom Begriff der Herrschaft ab. „Wenn es einem Individuum oder einer gesellschaftlichen Gruppe gelingt, ein Feld von Machtbeziehungen zu blockieren, sie unbeweglich und starr zu machen und jede Umkehrung der Bewegung zu verhindern […], dann steht man vor etwas, das man als einen Herrschaftszustand bezeichnen kann.“ (Foucault 1984/2005c: 878) Mit dieser Abgrenzung gelingt es Foucault, zwischen verschiedenen Formen der Macht zu differenzieren, ohne die Ubiquität aufzugeben. Der Machtbegriff verliert aber möglicherweise seine Brisanz, wenn er anstatt die Chance zu bedeuten, „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen“ (Weber 1921/1980: 28), grundsätzlich jeder sozialen Beziehung inhäriert. Macht ist dann nicht ein Handlungsinstrument, das scheitern kann, sondern bezeichnet den banalen Umstand, dass in sozialen Interaktionen die Aktionspartner beabsichtigen, bei ihrem Gegenüber eine Verhaltensoder Denkänderung zu inaugurieren. Dass Foucault diesen Umstand mit dem Begriff der Macht belegt, führt zu zwei Folgerungen. Erstens schließt er kategorial die Möglichkeit konsensueller Interaktionen, wie sie von Habermas (s. u.) beschrieben werden, aus. Die Idee eines Ausgleichs zwischen Aktionspartnern auf der Grundlage einer rationalen Einigung lehnt er als Utopie ab (Foucault 1984/2005c: 898). Zweitens hebelt er die in der klassischen Kritischen Theorie von Marx bis Adorno kursierende Vorstellung auf, es gebe gesellschaftliche Gruppen oder Akteure (Bourgeoisie) mit Macht und Akteure, die diesen (mehr oder weniger ohnmächtig) unterworfen sind. Sicherlich hat er Recht, wenn er behauptet, einen einfachen Machtdualismus hatte auch Marx nicht gesehen, weil das Proletariat, einmal zu einem Klassenbewusstsein gekommen, selbstverständlich nicht ohne Macht ist (Foucault 1981/2005a: 244). Jedenfalls versucht es dann, auf die Kräfteverhältnisse zwischen Arbeit und Kapital zu seinen Gunsten einzugreifen, und dazu verwendet es Macht. Dennoch erlaubt der juridische Machtbegriff eine detaillierte Beschreibung von Machtverhältnissen bzw. eine sozialstrukturell differenziertere Analyse der Verteilung von Macht, die Foucault mit dem Begriff der Herrschaft einholen muss. So interpretiert, offeriert Foucault einen neuen Machtbegriff, behält die tradierten Analyseund Kritikraster des Machtbegriffs aber in Form seines Herrschaftsbegriffes bei. Damit soll nicht behauptet werden, Foucault habe dem klassischen Machtbegriff nichts hinzuzufügen. Die Idee einer entsubjektivierten Macht, die ohne Aufseher und Wärter funktioniert, weil sie inkorporiert wird, hat zweifelsohne den Charme, auf eine zentrale Frage der Kritischen Theorie zu reagieren: Wieso akzeptieren die Menschen Verhältnisse, die sie doch eigentlich kritisieren? Foucault transportiert einmal mehr den nahe liegenden Gedanken, dass die Subjekte selbst es sind, die die Herrschaftsverhältnisse „von unten“ stabilisieren und reproduzieren, weil sie an dem Spiel der Macht beteiligt sind, anstatt den Spieltisch umzuwerfen.
Nach Foucault ist es mit der Akzeptanz allerdings gar nicht so dramatisch. Er koinzidiert: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand.“ (Foucault 1976/1983: 96) Dies ist nicht einfach ein politischer Wunschgedanke, sondern gibt den methodischen Zugriff auf die Macht wieder, weil nach Foucault (1982/2005: 273) Widerstand „die Machtbeziehungen sichtbar macht“. Als konkreten Untersuchungsgegenstand schlägt er vor: „Die Macht der Männer über die Frauen, der Eltern über ihre Kinder, der Psychiatrie über die Geisteskranken, der Medizin über die Bevölkerung, der staatlichen Verwaltung über die Lebensweise der Menschen.“ (Ebd.) Sosehr die Frauen, Kinder, etc. aber auch Widerstand leisten, sie beziehen dabei keinen Standpunkt jenseits der Macht. Widerstand ist im foucaultschen Kontext nicht zu verstehen als Opposition machtloser Akteure, die zudem noch durch moralische oder machtkritische Ideale motiviert wären, sondern als notwendiges Pendant zur Macht und das bedeutet: Widerstand selbst ist Macht. Das obige Zitat könnte aufgrund der Allgegenwärtigkeit von Macht umgedreht werden. Wo es Widerstand gibt, gibt es Macht, weil die Frauen, Kinder, etc. ihrerseits auf Macht zurückgreifen, um zu punktuellen Veränderungen in der Form von Macht zu gelangen. Diese Bindung von Widerstand an die Macht ist eine der Gründe für den Verzicht auf ein normatives Fundament seiner Arbeiten. Wenn Widerstand nicht auf einen Zustand jenseits der Macht abzielen kann und zudem als eine methodisch notwendige Deduktion eingeführt wird, stellt sich nicht die Frage nach der Legitimität von Widerstand und schon gar nicht die Frage nach einem Ziel von Widerstand, das normativ zu begründen wäre. Wenn gesellschaftliches Zusammenleben jenseits des reziproken Verhältnisses zwischen Macht und Widerstand nicht vorgestellt werden kann, besteht kein Bedarf für einen Widerstandsbegriff, der sich an normativen Idealen orientiert. Macht und Widerstand schmelzen zu basalen Begriffen zusammen und verlieren so ihre emphatische Aura, die sie im klassischen Denken (im negativen und positiven Sinne) hatten. Sie werden inflationär.
Der Verzicht auf normative Argumentationen zeigt sich auch im Verhältnis der Macht zum Subjekt. „Macht“, so Foucault (Ebd.: 287), „kann nur über >>freie Subjekte<< ausgeübt werden.“ Wären die Subjekte nicht frei, so wäre ein Handeln, das danach trachtet das Handeln anderer zu beeinflussen, nicht möglich. Ein vollständig determiniertes Subjekt würde die Machtverhältnisse schlichtweg unterlaufen, weil sein Handeln immer schon präjudiziert wäre. Ein Handeln gegenüber einem solchen Subjekt wäre vergleichbar mit dem Aufziehen einer Uhr oder dem Anschalten einer Maschine. Beide ändern nach dem Einschalten nicht ihr Handeln oder Denken, sie funktionieren gemäß ihrer Programmierung. Die Freiheit des Subjekts, die Foucault postuliert, ist also eine notwendige Deduktion aus seinem Machtverständnis und impliziert keinen weitergehenden Freiheitsoder Aktivitätsstatus des Subjekts. Nach dem bisher Referierten ist letzteres ohnehin ausgeschlossen und Foucaults Deduktion führt unweigerlich zu der Frage, wie denn die Freiheit des Subjekts zu verstehen ist? Oder anders: Welches Subjekt ist denn frei? Bislang war das Subjekt oder Individuum als Produkt von Diskursen und Machtverhältnissen aufgetaucht. Foucaults Arbeiten basieren methodisch auf der „Ablehnung des Subjekts“ (Sarasin 2005: 104) und inhaltlich auf dem genealogischen Nachweis seiner Konstitution durch gesellschaftliche Mechanismen. Als Träger möglicher Emanzipationspotentiale, die sich gegen die gesellschaftliche Konstituierung und Bevormundung wenden könnten, spielt es bei Foucault nicht zuletzt aufgrund des Verzichts normativer Überlegungen keine Rolle. Wie argumentiert wurde, ist dies insofern einsichtig zu machen, als es erstens auf diese Weise gelingt, den wissenschaftlichen Diskurs unabhängig von sinngenerierenden Subjekten zu situieren und damit eine Objektivität zu sichern, und zweitens Foucault den soziologisch-politischen Nachweis erbringen kann, dass die Freiheit oder Aktivität des Subjekts in der modernen Gesellschaft möglicherweise eine Illusion ist. Die Frage nach dem Subjekt wird dadurch nicht irrelevant. Im Gegenteil drängt sie sich auf als Frage danach, welchen Sinn der Nachweis der Illusion hat, wenn der grundsätzliche epistemologische Status des Subjekts ein gesellschaftlich konstituierter ist. Bei Marx oder Adorno war unklar, wie sich das entfremdete Subjekt gegen die entfremdenden Verhältnisse zur Wehr setzten soll. Das Ziel war allerdings eindeutig benannt. Es soll sich zur Wehr setzten, um ein Subjekt im klassischen (transzendentalen) Sinne werden zu können. Marx und Adorno pendeln zwischen einer philosophisch-transzendentalen und einer soziologisch-empirischen Subjektvorstellung. Bei Foucault sind es nicht falsche Verhältnisse, die das Subjekt bedrängen, sondern das Subjekt ist ausschließlich empirisches Subjekt und keine gesellschaftliche Veränderung könnte daran etwas ändern.
Mit großer Sicherheit kann davon ausgegangen werden, dass Foucault um diese Probleme wusste. Und er wusste nicht nur darum, er hat darauf auch reagiert, wenn er gegen Ende seines Lebens die Blickrichtung auf das Subjekt umdreht. Nicht mehr die Subjektkonstituierung durch Diskurse oder Machtverhältnisse bildete den Fokus auf das Subjekt, sondern dessen Selbstkonstitution. Allerdings wechselt Foucault in diesem Zuge nicht in ein transzendentales Begründungsprogramm. Dieses, der Aufklärung zugeschriebene Programm, verharrt weiter beim Diktum, ein historisch kontingentes Programm zu sein, das bestenfalls auf seine genealogischen Anlässe hin zu untersuchen ist. Foucault geht in der Geschichte weiter zurück, in die Antike, in der er eine Sorge des Subjekts um sich selbst ausmacht. Diese bezeichnet „die wachsame Angespanntheit eines Selbst, das vor allem darauf achtet, nicht die Kontrolle über seine Vorstellungen zu verlieren und sich nicht von seinen Schmerzen und Lüsten vereinnahmen zu lassen.“ (Gros 2009: 652)
Foucault überblickt den Zeitraum von Platon bis zum 2. Jahrhundert nach Christi und zeichnet nach, welche Formen die Sorge um sich selbst annimmt, welchem Zweck sie dient und welche Praktiken dazu vorgeschlagen wurden. Auf eine Sache kommt es bezüglich des Subjekts besonders an. Foucault sieht mit Descartes einen Umschlag im Verhältnis zwischen dem Subjekt und der Wahrheit. In der antiken Selbstsorge geht es unter anderem um „ein Ensemble der Selbsttransformation, welche die notwendige Voraussetzung für den Zugang zur Wahrheit bilden.“ (Foucault 1981-82/2009: 34) Selbstredend geht es Foucault nicht darum, auszuloten, welche Aussagen legitimerweise das Prädikat wahr erhalten. Es geht ihm darum, welche Bedingungen das Subjekt erfüllen muss, um gesellschaftlich anerkannt wahr zu reden. In der Antike, so Foucault, musste das Subjekt spezifische Praktiken vollziehen, die im Kern darauf zielen, das eigene Selbst so zu modellieren, dass es wahr sprechen kann. Mit Descartes wird diese Notwendigkeit entfallen. Das Subjekt ist seitdem immer schon der Wahrheit fähig, jedenfalls dann, wenn es seinen Verstand richtig gebraucht. Eine besondere Sorge um das je eigene Selbst entfällt, weil der Verstand die Bedingungen für wahres Sprechen bereits enthält.
Es braucht hier nicht zu interessieren, ob Foucault mit dieser Einschätzung Recht hat. Immerhin verweist das cartesianische Diktum, der Verstand müsse richtig gebraucht werden, ebenfalls darauf, dass wahres Sprechen möglicherweise nicht ohne vorherige Selbsttransformationen zu haben ist. Entscheidend ist, dass Foucault in der Antike ein Subjekt findet, das nicht a priori und zugleich nicht vollständig durch die Gesellschaft konstituiert ist. Das Subjekt muss aktiv werden, weil die Sorge um sich selbst eine Praxis darstellt, die nicht von äußeren Institutionen oder anderen Subjekten übernommen werden kann. Der Zweck dieser Praxis ändert dabei nach Foucault im Verlauf der Antike seine Ausrichtung. Während bei Platon die Sorge um sich das Ziel verfolgt, sich selbst zu erkennen, um so (sittlich) befähigt zu sein, ein politisches Amt zu übernehmen, wird eine Externalisierung des Zwecks sukzessive aufgehoben. Die Sorge um sich wird um Selbstzweck und das Subjekt zum Kult.
Hat Foucault mit dem Hinweis auf eine Möglichkeit, das Subjekt als aktives, selbstkonstituierendes zu denken, seine vorherigen Positionen aufgegeben? Hat er zum Ende seines Lebens nochmal völlig neu gedacht, wie er es immer wieder gefordert hatte? Nicht ganz. Foucault merkt an, dass „diese Praktiken […] nicht etwas sind, was das Subjekt erfindet. Es sind Schemata, die es in einer Kultur vorfindet und die ihm vorgegeben, von seiner Kultur, seiner Gesellschaft, seiner Gruppe aufgezwungen werden.“ (Foucault 1984/2005c: 889) Wenn also dem späten Foucault ein aktives Subjekt zugesprochen wird, so ist dies eine beschränkte Aktivität, zumal er weiterhin daran festhält, dass „das Subjekt durch Praktiken der Unterwerfung oder, auf autonomere Weise, durch Praktiken der Befreiung, der Freiheit konstituiert wird.“ (Foucault 1984/2005d: 906) Dennoch: Der Spielraum des Subjekts erweitert sich, weil es nicht mehr nur als Produkt diskursiver Subjektivierungen behandelt wird, sondern als ein Subjekt, das seine Praxis zur Selbstkonstitution beitragen muss. Es bleibt „unterworfen“, kann nun aber souverän in dem Rahmen agieren, den die Unterwerfung ihm notwendig lassen muss. Das Verhältnis zwischen Subjekt und Macht, das oben als problematisches Verhältnis skizziert worden war, lässt sich damit in seiner Widersprüchlichkeit entschärfen. Machtverhältnisse können nur dann als Machtverhältnisse gelten, wenn die Subjekte die Möglichkeit haben, sich der Macht zu entziehen. Der Blick in die Antike zeigt: Ein solches Subjekt lässt sich denken. Immer dann, wenn das Subjekt bestimmte Praktiken vollzieht, die von der äußeren Welt absehen und die Aufmerksamkeit auf das eigene Selbst richten, füllt das Subjekt den Freiraum, den die Macht ihm überlassen muss.
Gleiches gilt für das Verhältnis zwischen Widerstand und Macht. Foucault erklärt, „dass es keinen anderen, ersten und letzten Punkt des Widerstands gegen die politische Macht gibt, als die Beziehung seiner selbst zu sich.“ (Foucault 1981-82/2009: 313) Das klingt zunächst nach einer liberalistischen Ethik, die den Referenzpunkt für eine aufgeklärte Republik im räsonierenden Subjekt lokalisiert hatte. Wird allerdings der Liberalismus seit der Aufklärung zugrunde gelegt, geht es Foucault um weit mehr. Wie angedeutet, sieht er in der Aufklärung einen subjekttheoretischen Umschlag im Verhältnis des Subjekts zur Wahrheit. Das Subjekt muss nicht einfach räsonieren, weil es die Fähigkeit dazu bereits hat. Es muss, wird der Blick auf die Antike gerichtet, sich selbst verändern. Räsonieren wäre demnach nicht primär auf die Suche nach dem wahren Urteil gerichtet, sondern auf die Transformation des Selbst. In diesem Prozess hat das Subjekt sich aller Verstrickungen mit der Außenwelt, die von der Beschäftigung mit sich selbst ablenken, zu entledigen.
Widerstand gegen Herrschaft ist dann nicht einfach ein Einfordern anderer Formen der Machtausübung. Widerstand ist eine Zumutung an das widerstehende Subjekt, das bereit sein muss, sich selbst zu verändern. Es muss die Verantwortung übernehmen, von der oben bereits gesprochen worden war, und es kann nicht mit dem Finger auf andere zeigen, um von diesen zu verlangen, es anders und gegebenenfalls besser zu machen, weil ansonsten „die Reform, ganz gleich welcher Art sie ist, am Ende von den immer gleichen Verhaltensweisen und Institutionen gefressen und verdaut wird“ (Foucault 1981/2005b: 223) Foucault legt also mit seinem an der Antike geschulten Blick auf das Subjekt einen Widerstandsbegriff vor, der an Emphase dem klassischen Widerstandsbegriff nicht nachsteht.
Auf diese Weise verleiht er den utopischen Äußerungen, die von ihm publiziert sind, einen Sinn. Wenn er fordert, sich von den gegenwärtigen, staatlichen Formen der Individualisierung zu befreien und sich vorzustellen, „was wir sein könnten“ (Foucault 1982/2005: 280)
– und dieses Vorstellen um die Ideen kursiert, „aus uns selbst ein Kunstwerk zu machen“ (Foucault 1983/2005b: 474) und „nicht dermaßen regiert zu werden“ (Foucault 1978/1992: 12) –, können diese Motive mit dem Spätwerk Foucaults auf einen Subjektbegriff projiziert werden, der die Möglichkeit zu diesen Forderungen wenigstens andenken lässt. Als Produkt diskursiver Subjektivierungen gibt es keine Instanz, die über die Subjektivierung hinaus sich etwas vorstellen könnte und schon gar nicht, sich als Kunstwerk zu entwerfen – es sei denn als Inhalt der diskursiven Subjektivierung. Mit einem Subjekt, das sich mit sich selbst beschäftigt, werden diese ethischen Forderungen nachvollziehbar, weil sie aus dem Subjekt ableitbar sind. Schief hängt nur das Bild, es handelt sich bei diesen Forderungen um Utopie oder gar eine normativ begründete Utopie. Letzteres ist ausgeschlossen, weil Foucault kein derartiges Begründungsprogramm vorgelegt hat. Ersteres ist skeptisch zu betrachten, weil gerade Foucault (1983/2005b: 470) mit dem ihm eigenen Geschichtsverständnis besonders darum weiß, dass sich aus der Geschichte keine Utopie ableiten lässt. Die Geschichte gibt es nicht und was Foucault leistet, ist nicht mehr und nicht weniger als eine bestimmte Geschichte zu erzählen, die Geschichte der antiken Selbstsorge. Es ist eine offene Frage, wie diese in modernen Gesellschaften praktiziert werden könnte, zumal Foucault nicht blind dafür ist, dass bereits in der Antike ein sorgender Selbstbezug nur einer aristokratischen Schicht vorbehalten war. Schließlich setzt eine Selbstsorge mindestens Zeit und Muße voraus und diese sind nicht unabhängig von materiellem Besitz zu haben. Würde in der gegenwärtigen Gesellschaft eine subjektive Praxis der Selbstsorge universell als Norm eingefordert, könnte diese Norm zu einem neuen Diskriminierungsmoment werden. Diejenigen, die sich eine solche Praxis nicht leisten können, könnten als unverantwortlich gegenüber sich selbst oder als unfähig zur Übernahme eines politischen Amtes disqualifiziert werden. Damit ist die Idee einer Selbstsorge keineswegs diskreditiert, weder als modus vivendi des Widerstandes noch als Zielvorstellung. Dabei ist interessant, dass auch Foucault in dem Moment, wo er einen Aktivitätsmodus des Subjekts einräumt, einen ästhetischen Bezug wählt: der Forderung aus seinem Leben ein Kunstwerk zu machen. Die Hinweise von Marx, dass eine materielle Versorgung sicher gestellt sein muss, bevor über Ethiken oder Ästhetik nachgedacht werden kann, schleichen sich aber durch die Hintertür, die Foucault selbst aufgeschlossen hat, wieder ein. Gegen Marx ist Foucault jedoch Recht zu geben, dass eine schlichte Veränderung der Institutionen und der materiellen Güterverteilung nicht eo ipso eine freie Gesellschaft bedeutet. Ohne ein entsprechendes Denken und Handeln der Subjekte gibt es keine Demokratie oder gar eine klassenlose Gesellschaft. Und was dieses Denken betrifft, hat Foucault mit seiner Ethik der Selbstsorge sicherlich einen gewichtigen Beitrag geleistet, weil sie zeigt, dass Veränderungen immer beim Subjekt ansetzen müssen, wenn sie auf etwas qualitativ anderes verweisen sollen.
Insgesamt bleibt bei Foucault indessen der Nachgeschmack, dass das Subjekt bei ihm keinen Statuts erreicht, der mit dem Begriff der Aktivität in Übereinstimmung zu bringen wäre. Zu sehr stellt Foucault auf einen empirischen Subjektbegriff ab, der das Subjekt immer nur als gesellschaftlich produziertes erblicken kann. Andreas Reckwitz, der sich in die Tradition Foucaults stellt, wird diesbezüglich in besonderem Maße deutlich, wenn er anstelle des Subjektbegriffes den Begriff der Subjektivation verwendet und mit diesem kenntlich machen möchte, „dass das Subjekt nicht als vorhanden zu betrachten ist, sondern immer im Prozess seiner kulturellen Produktion.“ (Reckwitz 2008a: 10) Vor seiner kulturellen Produktion ist das Subjekt bzw. der Mensch „nichts anderes als ein organisches Substrat, ein körperlicher Mechanismus (einschließlich neurophysiologischer Strukturen)“ (Reckwitz 2006: 40). Obschon Reckwitz zugestanden werden kann, mit seiner Begrifflichkeit den wissenschaftlichen Objektivismus zu erreichen, den der „glückliche Positivist“ Foucault postuliert hatte, so bleibt doch unklar, wie kulturelle Prozesse auf ein organisches Substrat wirken können. Und selbst wenn dies als Möglichkeit eingeräumt wird, und sich aus dem Zusammenspiel von Kultur und Biologie ein Subjekt ergibt, kann dieses Subjekt tatsächlich nicht mehr sein, als das abhängige Produkt dieses Zusammenspiels. Jeder Versuch, einem solchem Subjekt nachträglich einen Aktivitätsradius zuzuschreiben, mutet jedenfalls eigentümlich an (Beer/Sievi 2010).
So auch bei Foucault, der schreibt: „Es wäre sicherlich absurd, die Existenz des schreibenden und erfindenden Individuums zu leugnen.“ (Foucault 1970/1996: 21). Und an anderer Stelle: „Ich glaube an die Freiheit der Menschen. In der gleichen Situation reagieren sie sehr unterschiedlich.“ (Foucault 1984/2005b: 965) Nun verwendet Foucault in keinem der beiden Zitate den Subjektbegriff. Das Individuum hingegen ist ihm genauso ein produziertes wie das Subjekt und den Menschen sah er eher wieder verschwinden, weil auch dieser nur als Produkt eines spezifischen humanwissenschaftlichen Diskurses zu verstehen ist. Die Freiheit oder Aktivität, die Foucault benennt, ist entweder eine Freiheit, die mit den klassischen Konnotationen dieser Begriffe nicht viel gemein hat, oder sie ist eine nachträglich koinzidierte, die sich mit den theoretischen und methodologischen Prämissen Foucaults nicht abgleichen lässt. Foucault hat erfolgreich jegliche transzendentale Subjektbestimmung, die das Subjekt als unhintergehbar und damit notwendig als aktiv gesetzt hatte, desillusioniert, weil er gezeigt hat, dass das Subjekt durch gesellschaftliche Prozesse sehr wohl hintergangen werden kann. Er beschreibt damit den Prozess, den das Subjekt realhistorisch gegangen ist. Von seinem triumphalen Auftreten in der Epoche der Aufklärung ist nicht viel übrig geblieben, nachdem es sich entfremdenden, deprivierenden und bürokratisch verselbstständigten Institutionen gegenüber sah, die es ironischerweise selbst erzeugt hatte, nachdem es sich aus der paternalistischen Obhut der Aristokratie befreit hatte. Ein starkes Cogito oder ein transzendentales Subjekt war in einer solchen Situation, zu der noch die Bedrohung der atomaren Aufrüstung hinzukam, nicht mehr ohne den Vorwurf eines naiven Idealismus zu platzieren. Die Kritische Theorie hatte trotz aller Skepsis an einem solchen Subjekt festgehalten. Foucault ist hier konsequenter und dies äußert sich dann auch in seinem Vorbehalt gegenüber politischen Gegenentwürfen. Er zählt zu den linken Intellektuellen des 20. Jahrhunderts, in deren Kreis er die gesonderte Stellung einnimmt, an keine großen Veränderungsprojekte mehr zu glauben. Auch wenn dies nicht ohne Grund ist, weil jeder Veränderungsvorschlag nur einen neuen Diskurs erzeugen würde, der seinen eigenen Machteffekten nicht entkommen kann, so ist der Relativismus, den Foucault damit impliziert, selbst nicht frei von Normativität: Er bedeutet den Verzicht auf einen Wertekanon, den eine freiheitliche und gerechte Gesellschaft voraussetzen muss. Foucault hat sich nicht gegen eine solche Gesellschaft ausgesprochen. Als Theoretiker einer solchen Gesellschaft kann er aber im Vergleich mit der Kritischen Theorie nicht gelten.
Praktisch hingegen war er wohl aktiver als Adorno und dies teilt er mit seinem Freund Pierre Bourdieu, der die von Foucault eher vernachlässigte Dimension der sozialen Ungleichheit zu seinem Thema gewählt und sich gegen diese auch politisch zu Wort gemeldet hat (etwa Bourdieu 1998). Für die Bestimmung eines passiven Subjekts trägt Bourdieu bei, dieses nicht, wie tendenziell bei Foucault, auf kulturelle Momente zu beschränken. Er integriert einen marxistisch-ökonomischen Ansatz mit einem von Durkheim und Weber entlehntem Blick auf die kulturelle Reproduktion sozialer Ordnung. Aufgrund der expliziten Anbindung an Marx verwendet er den Begriff der Klasse, um soziale Ungleichheiten zu beschreiben. Der entscheidende Faktor zur Aufrechterhaltung der Ungleichheit, die in der Moderne aufgrund des ihr impliziten Gleichheitspostulats zunehmend legitimierungsbedürftig geworden ist, wählt er indessen den Geschmack. Wie sich zeigen wird, dreht er damit das Verhältnis zwischen Ästhetik und Subjekt um. Ästhetik ist bei Bourdieu weit davon entfernt, ein aktives Subjekt zu fundieren, wie es bei Nietzsche oder Foucault rekonstruiert werden konnte. Ästhetik ist eine funktionale Größe zur Demonstration der je eigenen Sozialposition.
Die Klassentheorie Boudieus ist insofern gut marxistisch, als sie entgegen den in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts populären Individualisierungstheorien (Beck 1968; Schulze 1997) eine vertikale Schichtung der Gesellschaft behauptet (Bourdieu 1984/1995). Als Variable der Klassenteilung dient Bourdieu hingegen nicht der Produktionsmittelbesitz, sondern das Gesamtvolumen des Kapitals, wobei dem Kapitalbegriff eine „dreifache Brechung“ (Eder 1989) in ein ökonomisches, ein kulturelles und ein soziales Kapital zugrunde liegt (Bourdieu 1983/1997). Ökonomisches Kapital bezeichnet den quantifizierbaren Besitz finanzieller Ressourcen. Das kulturelle Kapital ist nochmal unterteilt in institutionalisiertes Kulturkapital, das sich auf Bildungsabschlüsse bezieht, objektiviertes Kulturkapital, das den Besitz kultureller Güter umfasst, die in ökonomisches Kapital transformierbar sind, und inkorporiertes Kulturkapital, das sich auf den habituellen Umgang mit Kulturgütern bezieht. Während das objektivierte Kulturkapital sich ökonomisch quantifizieren lässt und ein Haben darstellt, markiert das inkorporierte Kulturkapital das Sein eines Akteurs. Der Besitz eines Gemäldes von Van Gogh kann im ersten Fall eine reine Spekulationsangelegenheit sein. Im zweiten Fall geht es um die Frage, ob sein Besitzer (oder Betrachter) die Bedeutung der Kunst „richtig“ einzuschätzen weiß. Mit dem Begriff des sozialen Kapitals schließlich wird auf soziale Netzwerke rekurriert, die die Akkumulation der anderen Kapitalsorten erleichtern. Ausschlaggebend für die Akkumulation von Kapital bleibt für Bourdieu allerdings das ökonomische Kapital. Es entscheidet zum Beispiel darüber, ob Bildungsgüter überhaupt erworben werden können, und ob hinreichend freie Zeit zur kulturellen Aneignung von Bildungsgütern vorhanden ist. Für den sozialen Raum, den Bourdieu zeichnet, spielt hingegen das kulturelle Kapital eine besondere Rolle. Auf der vertikalen Achse des sozialen Raumes wird das Gesamtvolumen des Kapitals abgetragen, wobei Bourdieu klassisch zwischen Ober-, Mittelund Unterklasse differenziert. In einem zweiten Schritt teilt er den sozialen Raum (außer im Bereich der Unterklasse) zusätzlich horizontal auf der Grundlage der Kapitalzusammensetzung. Links im sozialen Raum stehen dann die Klassenfraktionen, die im Gesamtumfang ihres Kapitals einen höheren Anteil an kulturellem Kapital haben (etwa Lehrer oder Künstler), und rechts im sozialen Raum die Klassenfraktionen, deren ökonomischer Anteil überwiegt (etwa Handwerker oder Industrielle).
Der Bezug zur Subjekttheorie wird durch die von Bourdieu (1979/1997) erklärte Homologie zwischen der sozialen Position und dem Habitus hergestellt. Letzterer meint nach Bourdieu die Wahrnehmungs-, Denkund Handlungsmuster eines Subjekts, die in der Regel in den ersten Lebensjahren erworben werden (Bourdieu 1980/1993; Krais 1989). Die entscheidende Einflussgröße ist die ökonomische und kulturelle Ausstattung der Herkunftsfamilie, die dazu führt, dass die Subjekte spezifische Lebensstilpräferenzen bzw. einen spezifischen Geschmack entwickeln, der an die Ausstattung der Herkunftsfamilie angepasst ist. Wer mit Büchern aufwächst, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch gerne lesen. Wem die finanziellen Mittel für einen teuren Sport fehlen, der spielt Fußball. Und wer in seiner Kindheit keinen Zugang zu klassischer Musik hatte, wird vermutlich diese Musik auch in seinem späteren Leben nicht präferieren. „Deshalb auch bietet sich Geschmack als bevorzugtes Merkmal von Klasse an.“ (Bourdieu 1979/1997: 18)
Gedacht wird das Subjekt, wie bereits ersichtlich wird, mit empiristischen Mitteln, weil der Habitus die Summe sedimentierter Erfahrungen darstellt, die dann zur je aktuellen Situationsdefinition führt. Unklar ist, ob bei Bourdieu von einem vorsozialen Subjekt gesprochen werden kann. Aussagen, wie sie bei Foucault zu finden sind, und nach denen das Subjekt gesellschaftlich erst produziert wird, fehlen bei Bourdieu. Klar ist hingegen, Bourdieu wendet sich gegen jede Form eines Apriorismus, wenn gilt, dass die subjektiven Formen der Wahrnehmung und des Denkens über die Erfahrung erworben werden. Rein passiv ist das Subjekt in diesem Prozess freilich nicht, da Bourdieu (1970/1994: 40) ausführt, der Habitus sei ein „geometrischer Ort der Determinismen und Entscheidungen, der kalkulierbaren Wahrscheinlichkeiten und erlebten Hoffnungen, der objektiven Zukunft und des subjektiven Entwurfes.“ Im Rahmen seiner habituellen Grenzen legt das Subjekt aktuelle Situationen nicht vollkommen determiniert aus, sondern auch auf der Grundlage eines „subjektiven Entwurfes“. Die sedimentierten Erfahrungen erlauben indessen nur einen begrenzten Rahmen der subjektiven Aktivität. Jacques Bouveresse (1993) hatte darauf hingewiesen, dass jede Regel grundsätzlich unterbestimmt ist, so dass eine kreative Auslegung seitens des Subjekts eine basale Selbstverständlichkeit darstellt. Wird der Habitus als ein Regelwissen verstanden, das dem Subjekt zur Situationsdefinition zur Verfügung steht, ist der subjektive Entwurf, von dem Bourdieu spricht, kein genuines Attribut des Subjekts, sondern eine deduzierte Notwendigkeit aus dem Begriff der Regel. Der Rahmen der subjektiven Aktivität ist also deckungsgleich mit der Unbestimmtheit der Regel.
Dieser Rahmen wird laut Bourdieu aber durchaus als individuelle Präferenz erlebt. Der Habitus ist als geronnene Geschichte des Subjekts derart internalisiert, dass die je aktuellen Handlungen und Denkakte als Ausdruck einer Wahlentscheidung interpretiert werden, weil die Genese des Habitus dem Subjekt nicht bewusst ist. Foucault hatte mit seinem Programm der Genealogie auf eine Bewusstmachung der Genese von Subjektivität gezielt und ähnlich ist auch Bourdieus Selbstanspruch. Ihm geht es darum, „jene Freiheit zu erlangen, die sich den sozialen Determinismen mit Hilfe der Erkenntnis dieser sozialen Determinismen immerhin abringen lässt.“ (Bourdieu 1994/1998: 9) Seinen Nachweis, dass die Freiheit des Subjekts eines Illusion ist, teilt er mit Adorno und Foucault und mit diesen gemeinsam ist ihm, dass es darum geht, diese Illusion transparent zu machen, um anschließend den Freiheitsraum auszumessen, der hinter der Fassade des strukturierten Habitus liegt.
Dieses politische Ansinnen Bourdieus ist zweifelsohne im besten Sinne aufklärerisch und demokratisch. Und auch Bourdieu kann zugestanden werden, dass der soziologische Objektivismus, den er dabei in Stellung bringt (Beer 2006c, 2007), das geeignete Mittel ist, sein Ansinnen theoretisch und methodisch umzusetzen. Allein: Auch bei Bourdieu stellt sich die Frage, was das denn für ein Raum hinter der Fassade sein soll? Die objektiv beobachtbare Konformität zwischen dem Habitus und der Position im sozialen Raum ist für Bourdieu nämlich keine rein statistische Angelegenheit. Sie präjudiziert den Habitus, garantiert dessen Reproduktion und stellt das Subjekt in die Abhängigkeit von der Kapitalverfügung. Dies zeigt sich etwa daran, dass die Subjekte Orte oder Situationen meiden, die ihnen aufgrund ihrer habituellen Dispositionen fremd sind. Klischeehaft exemplifiziert: Arbeiter gehen nicht ins Museum (Bourdieu/Darbel 1966/2006) Nun wäre dieser Hinweis von Bourdieu relativ unproblematisch, wenn er den psychologischen Umstand intendieren würde, dass fremde Situationen etwa aus Gründen der Bequemlichkeit oder der Ängstlichkeit gemieden werden. Bei Bourdieu spielt dies sicher auch eine Rolle, der Hauptgrund liegt indessen in der Struktur der sozialen Ungleichheit. Diese stellt sich bei Bourdieu nicht als statischer Zustand dar, sondern als ein relationales Gebilde. Die unterschiedlichen Klassenfraktionen bilden keine operativ geschlossenen Einheiten. Sie sind aufeinander bezogen, wobei sich dieser Bezug vornehmlich kulturell äußert. Die erworbenen Geschmacksund Lebensstilpräferenzen werden von Bourdieu als Instrument des Klassenkampfes gewertet, in dem die Subjekte ihre Präferenzen demonstrativ zur Schau stellen. Sie symbolisieren damit den Mitgliedern ihrer Klassenfraktion die Zugehörigkeit und den Mitgliedern anderer Klassenfraktion die soziale Differenz. Dies aber nicht unschuldig, sondern grundsätzlich lokalisiert vor dem Hintergrund einer vertikalen Hierarchisierung. Mitglieder der Oberklasse bezeugen mit ihrem Geschmack die Legitimität ihrer sozialen Privilegierung, weil (und solange) sie es erfolgreich schaffen, ihren eigenen Lebensstil als legitime Kultur gesellschaftsweit anerkennen zu lassen. Solange die Unterklasse davon ausgeht, dass die kulturelle Praxis der Oberklasse, unabhängig davon, wie sie zu einem bestimmten Zeitpunkt inhaltlich ausgerichtet ist, tatsächlich ihrer eigenen kulturellen Praxis überlegen ist, lassen sich mit dieser Praxis dann auch die ökonomischen Ungleichheiten als legitim durchsetzen. Und da die unteren Klassen nur wenige Ressourcen haben, um die kulturelle Definitionsmacht oder Hegemonie der Oberklasse zu irritieren, können die sozialen Ungleichheiten reproduziert werden. Dass nun Arbeiter nicht ins Museum gehen, liegt daran, dass Museen als Orte der gebildeten Klassenfraktionen gelten und von diesen gleichsam besetzt werden. Arbeiter können den kulturellen Eintrittspreis nicht entrichten. Es sind keine realen Schranken oder finanziellen Hürden (die es natürlich auch gibt), die die Arbeiter abhalten, sondern das, was Bourdieu symbolische Macht nennt. Diese „ist eine Macht, die in dem Maße existiert, wie es ihr gelingt, sich anerkennen zu lassen, sich Anerkennung zu verschaffen, d. h. eine (ökonomische, politische, kulturelle oder andere) Macht, die die Macht hat, sich in ihrer Wahrheit als Macht, als Gewalt, als Willkür verkennen zu lassen“ (Bourdieu 1982/1997a: 82). Die Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft entpuppt sich bei Bourdieu einmal mehr als Illusion, wenn der Zugang zu ihren Orten hochgradig selektiert ist. Sie bleibt freilich eine Freiheit, weil kein physischer Zwang oder kein gesetzliches Verbot den Zugang reglementiert, sondern ein Exklusionsmodus, der mit den „sanften“ Mitteln der Kultur agiert. Diese verschleiert die ökonomisch fundierten Machtasymmetrien und die ökonomischen Bedingungen der Lebensstilisierung. Die Subjekte der unteren Klassen internalisieren ein „Das ist nichts für uns“, sie machen aus „der Not gerne ein Tugend“ (Bourdieu 1980/1993: 100), und akzeptieren auf diese Weise, dass bestimmte Orte den Subjekten der oberen Klassen vorbehalten sind, ohne dass diese Internalisierung als Machtverhältnis in den Blick geraten würde. Die von den oberen Klassen verfolgte Distinktionsstrategie – die keineswegs intentional sein muss – kombiniert sich mit einer Selbstexklusion der unteren Klassen. Dies ist im Anschluss an Bourdieu im Zusammenhang mit Schamgefühlen aufgrund kultureller Fremdheit (Neckel 1991), dem Zurückweisen alternativer Lebensstile, die kulturelles Kapital voraussetzen (Bittlingmayer 2000), dem Entwickeln eines eigenen Sprachcodes (Cicourel 1993) oder dem Verhältnis zu den Bildungsinstitutionen (Rohleder 1997) untersucht worden. Der Grund für die Selbstexklusion ist dabei jeweils derselbe: Die Konformität des Habitus mit der Sozialposition. Nun ist es unmittelbar evident, dass die Subjekte solche Geschmackspräferenzen und Lebensstile wählen, die mit ihrer ökonomischen und kulturellen Ressourcenausstattung vereinbar sind. Wer sich einen teuren Urlaub im Fünf-Sterne-Hotel nicht leisten kann, fährt eben campen. Und es ist eine rationale Strategie darauf so zu reagieren, dass die eigenen Präferenzen als intendierte Präferenzen erklärt werden, weil sich ansonsten das Subjekt nicht, wie in modernen Gesellschaften gefordert, als autonom entwerfen könnte. Und dies gilt für alle Subjekte unabhängig von ihrer Sozialposition. Auch die Mitglieder der oberen Klassen sind nicht aktiv oder frei in ihrer Entscheidung. Wollen sie ihre Sozialposition erhalten (oder aufsteigen), müssen sie das Distinktionsspiel mitspielen. Inhaltlich spielt es nach Bourdieu keine Rolle, welche Praktiken zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Distinktionsgewinn abwerfen. Der Millionär, der auf das teure Hotel verzichtet und campen geht, macht sich jedenfalls nicht gemein mit denen, die sich mehr als campen nicht erlauben können. Der Distinktionsgewinn liegt hier gerade darin, dass der Millionär es sich kulturell erlauben kann, zu campen, weil jeder weiß, dass er auch im Hotel übernachten könnte. Dass er es unterlässt, hat also andere Motive, wie etwa die Suche nach dem Abenteuer oder dem Wunsch, einmal ganz anders zu leben. Motive, die bei jenen, die sich finanziell ohnehin nicht mehr leisten können, eher als Ablenkungsmanöver von der eigenen Finanzschwachheit zu interpretieren wären. So wie bei Foucault die Macht, ist bei Bourdieu die soziale Ungleichheit allgegenwärtig und der einzige Ausweg wäre, das Distinktionsspiel zu beenden. In einen Befreiungsschlag durch die unteren Klassen, auf den Marx oder die frühe Kritische Theorie gewartet hatten, hegt Bourdieu gleichwohl wenig Hoffnung. „Je ärmer, vor allem kulturell und bildungsmäßig ärmer Menschen dastehen, um so stärker sind sie gezwungen und geneigt, sich Bevollmächtigten zu überlassen, um zu Wort zu kommen.“ (Bourdieu 1983/1992: 177) Diese Bevollmächtigten sind in der Regel Mitglieder der akademischen Milieus und ihrerseits in eine Sozialposition eingebunden, die mit sozialen Privilegien einhergeht, die eine Beendigung des Spiels möglicherweise uninteressant machen.
Problematisch an der Homologie zwischen Habitus und Sozialposition ist nun, dass Bourdieu ihr einen sozialisationstheoretischen Anstrich verleiht. Die Subjekte wählen spezifische Lebensstile, weil sie in einer entsprechenden Umwelt aufwachsen, und sie stabilisieren die erworbenen Lebensstile, weil sie sich in ihre Sozialposition und das relationale Gefüge der sozialen Ungleichheit einfügen. Einen distanzierenden Emanzipationsakt zur eigenen Ontogenese oder eine kognitiv-moralische Entwicklung hin zu einer aufgeklärten Vernunft sieht Bourdieu nicht vor (Miller 1989). Der Habitus ist eher konservativ aufgestellt, was nicht bedeutet, dass Veränderungen kategorial ausgeschlossen wären. Sie resultieren aus einer Veränderung in den objektiven Lebensbedingungen der Subjekte, „indem sie das unmittelbare Angepaßtsein der subjektiven an die objektiven Strukturen aufbricht, praktisch die Evidenzen zerstört und darin einen Teil dessen in Frage stellt, was ungeprüft hingenommen worden war“ (Bourdieu 1972/1976: 331). Auch dies ist durchaus einsichtig, weil es auch aus der Perspektive eines aktiven Subjektes keinen zwingenden, intrasubjektiven Grund für Veränderungen gibt. Wenn ein Subjekt sich mit seinen Präferenzen und Überzeugungen in seiner Umwelt so eingerichtet hat, dass von einem gelungenen Adaptionsverhältnis gesprochen werden kann, wieso sollte dann das Subjekt seine Präferenzen ändern? Der Unterschied zwischen einem aktiv gedachten Subjekt und Bourdieu ist daher nicht, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit Änderungen in den Lebensumständen sind, die biographische Entwicklungen anschieben. Bei Stirner oder bei Nietzsche etwa lässt es sich auch so lesen, dass es ein äußerer Druck ist, der das Subjekt zum Gestalterischen antreibt. Die Sprache bei Stirner, das Entkommen der Sinnlosigkeit bei Nietzsche. Der Unterschied ist, dass Bourdieu Veränderungen auf die objektiven Verhältnisse reduziert und subjektive Motivationen ausblendet. Das cartesianische Subjekt kann sich aus sich heraus weiterentwickeln oder ein rationales Adaptionsverhalten entfalten, das sich auf die Modellierung der Außenwelt erstreckt. Das Subjekt Bourdieus muss auf entgegenkommende Verhältnisse warten, wobei sich diese Verhältnisse im weniger günstigen Fall als Krisen (Arbeitslosigkeit, Krankheit, …) darstellen, und wenn sie eintreten, auch mit einer Nötigung verbunden sind. Dass diese Nötigung nicht absolut ist, macht Bourdieu dadurch deutlich, dass er die Möglichkeit nicht ausschließt, dass Subjekte, die im sozialen Raum aufoder absteigen, ihre Präferenzen trotz veränderter objektiver Bedingungen beibehalten. Er spricht dann vom „Hysteresis-Effekt“ (Bourdieu 1979/1994: 238). Diese Subjekte haben dann aber Probleme, in ihrer neuen Klassenfraktion Zugehörigkeiten zu generieren, so dass letztlich auch der Hysteresis-Effekt den objektiven Zwang zur Anpassung an die objektiven Bedingungen demonstriert.
Obschon Bourdieu bemüht ist, den objektiven Zwang, der auf dem Subjekt lastet, in verschiedenen Variationen aufzuzeigen, zählt auch er zu den Autoren, die entgegen diesem Bemühen an der Idee eines aktiven Subjekts festhalten. „Wir haben alle unsere Grenzen. Allerdings gibt es die Möglichkeit, sich dessen bewusst zu werden.“ (Bourdieu 1982/1997: 33) Seine Soziologie soll zu diesem Bewusstwerden beitragen, in dem sie genau die Determinismen aufzeigt, denen das Subjekt unterliegt, ohne es zu bemerken. Der nahe liegende Einwand ist, dass diese Determinismen auch Pierre Bourdieu selbst betreffen, und er wissenschaftstheoretisch damit seinen externen Beobachterstandpunkt verliert. Einen solchen muss er aber für sich reklamieren, wenn er die objektiven Bedingungen hinter dem Rücken der Subjekte aufklären möchte. Andernfalls schlägt der Nachweis der Determination auf seine eigene Theorie zurück mit der Folge, dass diese ihrerseits nur Produkt objektiver Determinismen ist und kaum objektive Aussagen über andere Subjekte machen kann. Bourdieu ist freilich nicht so naiv, dies nicht gesehen zu haben. Er hat eine Objektivierung der Objektivierung vorgeschlagen (Bourdieu 1980/1993), die den je eigenen Forscherstandpunkt über seine Verstrickung in die Sozialstruktur aufklären soll. Dieser Prozess einer Objektivierung zweiten Grades mag auch erfolgreich die Bedingungen für eine Objektivierung erster Ordnung inaugurieren. Er setzt jedoch einen infiniten Regress in Gang, weil auch der Beobachterstandpunkt der objektivierten Objektivierung den Bedingungen der sozialen Ungleichheit nicht entkommen kann, und daher einer weiteren Objektivierung bedarf (vgl. dazu auch Popper 1945/2003a: Kap. 23).
Abgesehen von diesen wissenschaftstheoretischen Problemen, stellt sich im Hinblick auf die Subjekttheorie die Frage, ob Bourdieu es mit seiner Objektivierung nicht übertrieben hat. Er umstellt das Subjekt so sehr mit präjudizierenden Verhältnissen, dass der Vorwurf des Determinismus zu Recht an ihn herangetragen wurde (Portele 1985; Pfeffer 1985; Honneth 1990; Müller 1997). Auch bei Bourdieu klingt die wiederholte Instruktion, ihn so zu lesen, dass er ein aktives Subjekt nicht ausschließe, wie ein nachträglicher Zusatz. Dessen er allerdings auch bedarf, wenn sein Objektivismus tatsächlich einen aufklärerischen Charakter haben soll. Schließlich sollen nicht die gesellschaftlichen Verhältnisse aufgeklärt werden, sondern die Subjekte, die unter diesen Verhältnisse leiden. Diesem Ansinnen kann umstandslos beigepflichtet werden. Hätte Bourdieu sich darauf beschränkt, eine statistische Homologie zwischen Sozialposition und Lebensstilen festzustellen, wäre an seinem soziologischen Objektivismus auch keine Kritik aus subjekttheoretischer Perspektive möglich. Er hat die Homologie aber weit über die Grenzen der Sozialstrukturanalyse auf das Feld der Subjekttheorie hinausgetrieben und die Stabilität bzw. Reproduktion der Verhältnisse durch eine Internalisierung dieser Verhältnisse zu erklären versucht. Und der Terminus Internalisierung zeigt an, dass es um das Subjekt geht. Verfolgt hatten diesen Ansatz bereits Marx mit seinem Entfremdungsbegriff, Adorno mit dem Nachweis einer kulturindustriellen Verschleierung des Bewusstseins und Foucault mit seinem Machtbegriff. Bourdieu ergänzt diese Liste mit dem Blick auf die soziale Ungleichheit. Alternativ dazu ließe sich indessen die Stabilität der Verhältnisse aus der Perspektive eines aktiven Subjekts dadurch erklären, dass die Subjekte diese Verhältnisse akzeptieren oder, wenn sie dies nicht tun, sie keine Chance auf eine Veränderung sehen. Wie sich noch zeigen wird, kann dieser Position Jürgen Habermas zugerechnet werden und wie sich gleichfalls noch zeigen wird, können dieser Position andersherum analytische Schwächen attestiert werden. Bourdieus Ansatz hat noch eine weitere Schlagseite. Er argumentiert auf der Basis eines empirischen Subjekts und so wie Foucault lehnt er eine philosophisch-idealistische Betrachtung des Subjekts ab. Überhaupt wirft er der Philosophie vor, sie begreife sich als autonom gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen, wo sie doch den gleichen Zwängen und sozialstrukturellen Determinismen unterworfen ist wie die Subjekte (Bourdieu 1997/2001; vgl. auch Schwingel 1993; Beer 2007a). Seine Philosophiekritik hat die Konsequenz, auch Fragen nach der Legitimation sozialer Ordnungen ad acta zu legen. „Es ist einzig der Wissenschaftler, der sich die Frage der Legitimität stellt und vergisst, dass sich für die Beherrschten diese Frage als solche nicht stellt […].“ (Bourdieu 1989: 402) Dann aber stellt sich für den Leser Bourdieus die Frage, welchen Sinn der aufklärerische Gestus hat, den Bourdieu für sich reklamiert? Ohne die Frage nach der Legitimation einer sozialen Ordnung, lässt sich nicht behaupten, das Gefüge der sozialen Ungleichheit sei ungerecht oder kritikwürdig. Dies hat er aber in Schrift und politischer Praxis getan. Bourdieu gerät ins Fahrwasser des Relativismus, weil auch er eine Vernunftund Aufklärungskritik praktiziert, die der foucaultschen nahe steht, wenn er bezüglich der Vernunft proklamiert, dass „ein für alle mal akzeptiert werden muss, dass auch sie ein historisches Produkt ist, in ihrem Bestand und ihrer Fortdauer von einem bestimmten Typ gesellschaftlicher Bedingungen abhängt“ (Bourdieu 1986/1992: 44). Empirisch ist ihm sicher zuzustimmen, dass die beherrschten Subjekte die Legitimationsfrage nicht stellen, zumindest nicht öffentlichkeitswirksam. Und sicher hat er Recht, wenn er darauf hinaus möchte, dass diese Frage empirisch einer bestimmten Klassenfraktion, der der Intellektuellen, entspringt und damit auf mögliche Statusinteressen der Mitglieder dieser Klassenfraktion zurückgeführt werden kann. Er scheint jedoch voreilig, von diesen empirischen Umständen auf eine normative Positionierung zu schließen, wenn er Fragen der Ethik oder Moral nur noch als Ausdruck der Klassenzugehörigkeit wertet. Er blendet die Möglichkeit aus, dass redliche Motive eine Auseinandersetzung mit der Legitimationsfrage anregen können, und es Subjekte gibt, die diese Frage auch tatsächlich mit redlichen Motiven bearbeiten. Sein Objektivismus stellt das moralische Subjekt immer schon unter den Distinktionsverdacht.
Und nicht nur das moralische Subjekt. Auch das ästhetische Subjekt unterliegt diesem Verdacht, weil Ästhetik bei Bourdieu weit davon entfernt ist, unschuldig oder sogar revolutionär zu sein. Wenn Adorno in einer spezifischen Kunstbetrachtung einen transformativen Charakter erblickt, sieht Bourdieu dort nur Adornos Distinktionshandeln. Adorno symbolisiert mit seiner Ästhetik, dass er Mitglied einer bestimmten Klassenfraktion ist und er verkündet den Mitgliedern der unteren Klassen, dass er über ein Kulturkapital verfügt, das jenen abgeht. Überdies verkennt er, dass die Kunst ebenso wenig autonom ist wie die Philosophie. Nietzsche, Foucault und eben Adorno bestätigen mit ihrem Bezug zur Ästhetik nur ihre Sozialposition, wobei gilt: Wenn Ästhetik funktional auf das Distinktionsspiel bezogen ist, ist es indifferent, welche Ästhetik zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Distinktionsgewinn abwirft. Das kann im Extremfall Schönberg genauso sein wie jedes beliebige Produkt der Popkultur. Es muss nur einen hinreichend exklusiven Charakter haben. Der kunsttheoretische Nachweis, dass Schönberg einen über die Funktionalität hinausgehenden Emanzipationscharakter haben soll, ist eine Möglichkeit, diese Exklusivität zu erzeugen. Um noch einmal klischeehaft zu werden: Der Arbeiter hat andere, möglicherweise finanzielle, Sorgen, die wenig Raum dafür lassen, sich über den emanzipativen Charakter von Kunstwerken Gedanken zu machen. Gleiches gilt, wie schon angemerkt, für eine Selbstsorge mit dem Ziel, aus sich ein Kunstwerk zu machen. Nun kann dieser letztlich auch politische Konflikt hier nicht weiter verfolgt werden. Nur eine Anmerkung: Wird Bourdieus Position konsequent bis zu ihrem Ende gedacht, bleibt wenig Raum für Hoffnung, weil alle gesellschaftlichen Bereiche zugerüstet sind. Es gibt keine gesellschaftlichen Orte und keine Subjekte, die sich den Auswirkungen der sozialen Ungleichheit entziehen könnten. Auf der anderen Seite lässt sich mit Bourdieu der nicht unbegründete Verdacht äußern, Adorno oder Foucault handeln mit ihrer emphatischen Bewertung der Kunst naiv, weil sie entgegen ihrer generellen Strategie die gesellschaftlichen Bedingungen der Kunstaneignung nicht reflektieren. Sie wissen um diese Bedingungen, invisibilisieren sie aber ausgerechnet in dem Bereich, in dem sie sich auch ohne wissenschaftliche Methoden überdeutlich zeigen. Salopp und übertrieben formuliert: Jeder weiß darum, dass Arbeiter nicht ins Museum gehen.
Allen drei Autoren gemeinsam ist, dass sie (mehr oder weniger) eindeutig dem Passivpol zugerechnet werden können, und dies dadurch, dass sie die Entdeckung der Gesellschaft bis zur subjektiven Abhängigkeit von der Gesellschaft steigern. Die Passivität wird von ihnen dann allerdings auf unterschiedliche Art und Weise gefasst. Bei Adorno ist es die Kultur, die durch eine instrumentelle Vernunft degeneriert ist und das Subjekt mit Entmündigung schlägt. Bei Foucault wird das Subjekt überhaupt erst gesellschaftlich konstituiert und bei Bourdieu unterliegt es den Verstrickungen in eine relationale Ungleichheit. Adorno lässt sich die Hintertür eines aktiven Subjekts offen, ohne diese Tür exponierend aufzumachen. Foucault und Bourdieu wirken dagegen desillusionierter in ihren theoretischen Prämissen, dafür optimistischer in ihren politischen Äußerungen. Beide betonen immer wieder, ein aktives Subjekt keineswegs zu leugnen. Der Grund für diesen Chiasmus dürfte sein, dass Adorno die Brücke zur idealistischen Philosophie nicht vollständig abgerissen hatte und seine Vorstellungen eines aktiven Subjekts wesentlich emphatischer konnotiert waren. Foucault und Bourdieu gehen einzig von einem empirischen Subjekt aus, so dass die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Subjekts geringer ausfällt. Interessant ist dabei, dass alle drei Autoren einen linkspolitischen Hintergrund haben. Adorno, Foucault und Bourdieu geht es mit der von ihnen demonstrierten Passivität des Subjekts darum, diese gegen die verklärende Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft zu wenden, um eine Illusion zu entlarven, die eine tatsächliche Aktivität verhindert. Der eher konservativ orientierte Luhmann hat dagegen keine Schwierigkeiten, auf den Subjektbegriff inklusive dessen aufklärerische Impulse zu verzichten. Ihm geht es nicht darum, die emanzipativen Werte des klassischen Bürgertums gegen die bürgerliche Gesellschaft des 20. Jahrhunderts zu bewahren. Sein nüchterner Blick auf die Gesellschaft soll diese beschreiben und erklären können, „denn die Gesellschaft als das umfassende System aller Kommunikation ist weder gut noch schlecht, sondern nur die Bedingung dafür, dass etwas so bezeichnet werden kann“ (Luhmann 1990: 39). Und mit dem Subjektbegriff entledigt er sich zudem einer wissenschaftlichen Störquelle und kann so seine Gesellschaftstheorie unabhängig von subjektiven Sinnsetzungen ausarbeiten, was in seinem Fall allerdings auch andersherum gilt: Das psychische System ist gesellschaftsextern.
Die Idee, eine Passivität des Subjekts zu behaupten, ist jedenfalls keineswegs mit der Idee verbunden, diese bedingungslos zu akzeptieren, sondern kann als Versuch angelegt sein, durch den Nachweis der Passivität auf eine Aktivität zu drängen. Es bleibt freilich die Frage, ob die Passivsetzung dazu das geeignete Mittel ist, und daran anschließend die Frage, ob die Realhistorie des 20. Jahrhunderts tatsächlich nur als Niedergang emanzipatorischer Werte erzählt werden kann.