Das "absolute A priori" der Erkenntnis und des Erkennbaren

Auf den ersten Blick scheint diese physiologische – oder doch ›physiologisch inspirierte‹ – Bestimmung des Erkenntnisvermögens in ihrer Intention wie auch in ihrem Inhalt unmittelbar geprägt zu sein durch die von Tönnies bei seinem Freund Friedrich Paulsen vorgefundene evolutionstheoretische Umdeutung der Kantschen Kategorien. Dass bei Tönnies und Paulsen ein entsprechender Bezug zu Kant gegeben ist, steht außer Frage, erscheint doch das Erkennen bei beiden nicht bloß als rezeptive Funktion des subjektiven Bewusstseins, sondern schließt notwendigerweise den durch den Verstand gesteuerten Gebrauch von Anordnungsformen unserer Anschauungen mit ein, und zwar von Anordnungsformen, welche trotz ihres Status als Produkt einer intrapsychischen Entwicklung zu denken sind als jeder konkreten Erfahrung voranstehend. Sie sind es, die – mit Tönnies gesprochen – Denken als eine Erinnerung an Wahrgenommenes überhaupt erst möglich machen. Während aber Paulsen seine Position konsequent durchhält – in direkter Weiterführung des Empirismus von David Hume –, verfolgt Tönnies in entscheidenden Punkten seinen eigenen Weg.

So gesteht Paulsen den Kategorien keine "absolut starre", objektive Geltung zu [1], sondern sieht in ihnen bloß zu "Axiomen" verfestigte, als solche aber revidierbare Einsichten in das Verhältnis von erkennendem Bewusstsein und einem Ausschnitt der empirischen Wirklichkeit bzw. – im Falle der Kausalität – von erkennendem Bewusstsein und einer bestimmten konstanten Folge von Erscheinungen und ihren Beziehungen zueinander. Nach den Maßstäben der Transzendentalphilosophie repräsentieren die Paulsenschen Kategorien damit gerade diejenige Stufe der Verallgemeinerungen, von der aus nunmehr die Ablösung vom erfahrungsmäßig gegebenen Wirklichkeitsausschnitt erfolgen müsste, d.h. der Vorstoß zur naturgesetzlichen Geltung des Erkannten – und das ist bekanntermaßen gerade der Schritt, dessen Vollzug ohne die Anerkennung von Kategorien im Sinne von überempirischen Normen nicht geschehen kann. Gerade diesen Schritt sieht Paulsen in seiner Erkenntnisbegründung aber nicht vor, vielmehr definiert er – ganz nach empiristischem, im Grunde sogar skeptizistischem Vorbild – das Kausalgesetz als "eine zu präsumptiver Allgemeinheit gesteigerte axiomatische Forderung das Verstandes an die Dinge auf Grund aller bisherigen Erfahrung". [2]

Was Tönnies angeht, so äußert sich dieser zunächst durchaus im gleichen Sinne wie Paulsen, indem er festhält, dass die bei der Erkenntnis von Ursachen vorauszusetzenden Begriffe "nicht anders erreichbar [sind], als durch ein erworbenes Wissen von regelmäßigen zeitlichen Folgen, so daß in der That alle Zusammenhänge von gleicher Art zuerst lose, endlich durch häufige Wiederholung als Gewohnheiten sich befestigen und als nothwendige, d.i. als causale, gedeutet werden. Die Causalität" – so heißt es weiter – "wird hierdurch aus den Dingen herausgenommen und in den Menschen versetzt [...]". [3] Anders als Paulsen begreift Tönnies die Kategorien indes nicht allein im Kontext des Verhältnisses von erkennendem Bewusstsein und konstanten Erscheinungsfolgen und mithin als durch die Verarbeitung künftiger Erfahrungen und die damit einhergehenden Prozesse der Assoziation prinzipiell relativierbar, sondern er unterlegt die Paulsensche Erkenntnisbegründung gleichsam mit einer anthropologischen Konstante und gliedert sie auf diese Weise der eigenen Erkenntnisauffassung ein. So gründet für ihn die Entwicklung des Geistes bekanntermaßen allein in der "Essenz der menschlichen Großhirnrinde" und der durch das Wachstum dieser "Essenz" ermöglichten Ausbildung und Verfeinerung von Koordinationstätigkeiten, und mithin liegt in dieser "Essenz" – wohlverstanden: der "Essenz", nicht der ›Empirie‹ der Großhirnrinde – die Möglichkeitsbedingung der Erkenntnis schlechthin. Die Konstitution alles Seienden erscheint als Ausdifferenzierung des im Ursprungsstadium des Geistes empfundenen Gesamteindruckes: der "empfundene innere Gesammtzustand" gerät zum "absoluten A priori" der Erkenntnis und des Erkennbaren, "und er kann nur gedacht werden als die Existenz der gesammten Natur [des Inbegriffs alles Wirklichen; PUMB] durch allgemeine und dunkle Beziehungen auf sich involvirend [...]". [4]

In seiner Koordinationsoder eben Erkenntnistätigkeit ist der Geist auf all seinen Wachstumsstufen auf die Aufgabe der "Verdeutlichung" und "Klärung" des ursprünglich empfundenen Gesamteindruckes verwiesen, und entsprechend der Ausbildung des Erkenntnisvermögens wächst auch die Möglichkeit, im Erkennen und durch dieses ein Bild der Natur zu gewinnen, auf dem selbst die komplexesten Ausgestaltungen der Dinge und Vorgänge in einem Höchstmaß an Differenziertheit dargestellt sind. Bezeichnenderweise – bezogen auf die Erkenntnisauffassung von Tönnies – handelt es sich hier um ein Bedingungs-Verhältnis, innerhalb dessen – Stichwort: Eingliederung der Erkenntnisbegründung von Paulsen – die Determination keine einseitige bleibt: Denn entsprechend der Differenziertheit des ursprünglichen Gesamteindruckes gestaltet sich umgekehrt auch die Möglichkeit, die jeder Erfahrung vorauszusetzenden Ordnungsformen, also letztlich die Kategorien, zu formulieren und weiter auszubauen. Im Klartext heißt dies: Je differenzierter und nuancierter die Beschaffenheiten sind, die wir an den uns gegebenen Dingen und Vorgängen zu identifizieren vermögen, desto differenzierter und nuancierter sowie an Umfang weitreichender sind die zuhanden unserer Erkenntnistätigkeit aufzubauenden Ordnungsformen; denn Bestandteil einer solchen Form kann nur werden, was im Inhalt des Empfundenen bzw. Erkannten bereits ausgeprägt vorliegt. Mithin kommt in der Immanenz des Verhältnisses von "besonderer Empfindung" und "Natur" die Kategorienbildung nach Maßgabe des Empirismus oder eben des Skeptizismus wiederum zum Tragen, nur ist sie nunmehr bloß ein Moment in der übergreifenden Entwicklung des Geistes. Die Kategorien des Empirismus sind nichts anderes als (Aus-)Gestaltungsformen des absoluten Apriori. Und genau diese wechselseitige Bestimmung von Erkenntnisvermögen und Wirklichkeit ist gemeint, wenn Tönnies festhält: "Jede folgende Erfahrung, gleich jeder anderen Thätigkeit, geschieht durch das ganze Wesen mit seinen bis dahin ausgebildeten Organen dafür; aber hieraus ergibt sich ein regressus in infinitum, zu den Anfängen des organischen Lebens hinaufführend, welche auch, als psychische begriffen, die Incorporisirung einer gewissen Erfahrung genannt werden müssen [...]". [4] Dass in die Ordnungsformen der Erfahrung nur eingehen kann, was im "empfundenen inneren Gesammtzustand", der "Natur", vorgegeben ist, lässt gleichzeitig auch erahnen, welch hohes Gewicht innerhalb der Tönniesschen Erkenntnistheorie der Auflassung von Natur selbst zukommt.

  • [1] Vgl. Paulsen 1892: 424
  • [2] Paulsen, zitiert nach Fritsch 1910: 14; Hervorh. v. mir; PUMB; vgl. zudem Paulsen 1892: 409ff
  • [3] Tönnies 1979: XVf
  • [4] Tönnies 1979: XVI
  • [5] Tönnies 1979: XVI
 
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