Die "causa" als Inbegriff der Natur

Wir treffen damit auf eine weitere bedeutsame Quelle von Tönnies' Denken, denn die Natur ist bei ihm explizit bestimmt als eine erkenntniskritische Fassung der spinozistischen causa. Allerdings ist Tönnies' causa-Begriff insofern nicht frei von metaphysischen Spuren, als er das Resultat einer Umdeutung zentraler Bestimmungen des Hobbesschen Wissenschaftsverständnisses darstellt, sprich: der Umdeutung metaphysischer Begründungssachverhalte in allgemeine Feststellungen, deren Geltungsanspruch nurmehr die Denkbarkeitsbedingungen der betroffenen Gegenständlichkeiten umfasst. [1] Im Endeffekt steht der von Tönnies formulierte causa-Begriff daher für nichts Geringeres als die Umsetzung der Hobbesschen Intention, "eine Methode" zu entwickeln, "die mit der Schöpfung der Dinge selber übereinstimmt"[2]; allerdings – so ist gleich hinzuzufügen – soll es sich dabei um eine "Methode" handeln, die von der Erkenntnisauffassung der modernen Naturwissenschaften ausgeht und nicht in den Fehler verfällt, den Maßstäben der scholastischen Schulphilosophie besser genügen zu wollen als diese selbst. [3] Sich konzentrierend auf die bewusstseinsmäßigen Prinzipien der Wirklichkeitsauffassung hält Tönnies somit fest – ein Schlüsselzitat aus der Philosophischen Terminologie:

"[...] es gibt [...] keine ›realen‹ und also ›wirkenden‹ Ursachen, es gibt nichts als ›Erkenntnisgrund‹, dieser aber ist die notwendige Form unseres Denkens, insofern, als es allgemeine Begriffe bildet, in denen besondere Begriffe enthalten sind und daraus folgen. In diesem Sinne ist der allgemeinste Begriff daher der gemeinsame Erkenntnisgrund oder die ›Ursache‹ aller Erscheinungen: jenes Unendliche, d.h. in keiner Maßeinheit oder Zahl ausdrückbare, das Spinoza als die Substanz oder als die Natur, und das die heutige Naturwissenschaft, nur in der Benennung abweichend, als die sich erhaltende Energie definiert". [4]

Jede Erkenntnis geschieht durch Begriffe, hier zu verstehen als Kategorien, und im Aufbau oder, besser, in der Architektonik des insgesamt bestehenden Begriffsgebäudes ist damit begründet, was unsere Auffassung der Welt letztlich zusammenhält. So wie die besonderen Begriffe aus den allgemeinen hervorgehen, so zeigt sich uns "alles Leben (als) die Entwicklung des Allgemeinen zum Besonderen". [5] Der allgemeinste Begriff aber, der Begriff des Durchgängigen in der Gesamtheit der Beziehungen, durch die die Natur "auf sich involvir[t]"[6], ist der Begriff des Wirkens: der Kausalität. Die causa ist gleichsam der Inbegriff der Natur. Und folgerichtig sind alle Begriffe der sich aus der Natur ausdifferenzierenden Wirklichkeitsbereiche Begriffe von stets komplexer werdenden Mustern von Kausalbeziehungen; wie die Begriffe selbst unterliegen auch ihre Elemente, die einzelnen Kausalbeziehungen einer zunehmenden Besonderung, und zudem beruhen sie auf der "Incorporisirung" der auf den je vorhergehenden Entwicklungsstufen des Erkenntnisvermögens gewonnenen Erfahrungen. Allein aus dem so beschriebenen Verschränktsein von Geisteswachstum und kategorialer Ausdifferenzierung der Natur "ergibt sich" für Tönnies schließlich "nicht allein die Thatsache, sondern auch die Ursache, warum wir ein Seiendes nicht anders denn als wirkend, und Geschehendes nicht anders denn als bewirkt denken können; dies sind ehemalige, ja ewige Functionen, welche in die Structur unseres Verstandes hineingewachsen sind, und das Nichtanders-können ist eine Nothwendigkeit, auf welche darum unsere Gewißheit sich bezieht, weil thätig sein und gemäß seiner Natur thätig sein, einerlei ist, nach formal identischem Satze". [7]

Das evolutionstheoretische Verständnis der Humeschen Erkenntnisbegründung wird von Tönnies an entscheidender Stelle durchbrochen, insofern nämlich, als er a) die anthropologische Konstante der "Essenz der menschlichen Großhirnrinde" einführt, b) die Natur als das absolute Apriori alles Erkennbaren einsetzt und anschließend c) durch die Vermittlung dieser beiden Bestimmungen sowie der daraus resultierenden Entwicklungsdynamik des Erkenntnisvermögens die Kategorien der Relativierbarkeit entzieht. Und erst dies erlaubt es ihm, von den durch die Kategorie der Kausalität, einschließlich ihrer Ausformungen, ausgeübten Verstandesfunktionen als Notwendigkeiten und, nach ihrem Stellenwert als Bedingungen des Erkennens, auch als Gewissheiten zu sprechen. Nur durch das beschriebene Vorgehen vermag Tönnies jenseits der erkenntnislogischen Argumentation im Sinne der Transzendentalphilosophie dennoch die Perspektive einer unverkürzten, ja – wie sich zeigen wird – sogar den wissenschaftlichen Rationalismus in seiner eigenen Evolution miteinbeziehenden Vernunftkritik aufrechtzuerhalten. [8] Dass Tönnies auf eine nicht-relativierbare Basis der Erkenntnisbegründung geradezu rekurrieren muss, entspricht zudem unmittelbar der von ihm geäußerten Absicht, den Gedanken auszulegen, mit dem Kant die Humesche Darstellung wirklich überwunden habe, was nichts anderes heißt, als dass die Überwindbarkeit des Empirismus als solche außer Zweifel steht, und dasselbe gilt selbstverständlich auch für die Notwendigkeit ihrer Durchführung.

  • [1] Tönnies 1880a: 70ff.; Merz-Benz 1995: Teil II
  • [2] Zitiert nach Tönnies 1887: 301; die angeführte Stelle wurde von Tönnies selbst ins Deutsche übersetzt
  • [3] Merz-Benz 1995: Teil
  • [4] 18 Tönnies 1906: 62
  • [5] Tönnies 1979: XX
  • [6] Tönnies 1979: XVI
  • [7] Tönnies 1979: XVII
  • [8] Vgl. Tönnies 1906: 65
 
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