Perspektiven vergleichen: Ein Blick auf das Thema Aggression
Jede dieser sieben Perspektiven beruht auf unterschiedlichen Annahmen und führt zu unterschiedlichen Arten der Antwortsuche auf Fragen zum Verhalten. * Tabelle 1.1 fasst die Perspektiven zusammen. Anhand des Beispiels, warum sich Menschen aggressiv verhalten, lässt sich vergleichen, wie Psychologinnen und Psychologen unter Heranziehung der jeweiligen Theorien mit dieser Frage umgehen. Alle Ansätze dienen dem Bemühen, das Wesen von Aggression und Gewalt zu verstehen. Im Folgenden sind einige Forschungsfragen unter der jeweiligen Perspektive exemplarisch benannt.
■ Psychodynamische Perspektive: Untersucht Aggression als Reaktion auf Frustrationen, die durch Barrieren auf dem Weg zur Freude, beispielsweise durch ungerechte Autoritäten, entstanden sind. Betrachtet Aggression beim Erwachsenen als Resultat der Verschiebung der Feindseligkeit, die ursprünglich als Kind gegenüber den Eltern empfunden wurde.
■ Behavioristische Perspektive: Identifiziert die Verstärker vergangener aggressiver Reaktionen, wie etwa ein Mehr an Aufmerksamkeit, die einem Kind von seinen Klassenkameraden und -kame-radinnen oder Geschwistern zukam. Geht davon aus, dass Kinder von körperlich züchtigenden Eltern lernen, mit ihren Kindern später ähnlich zu verfahren.
■ Humanistische Perspektive: Sucht nach persönlichen Werten und sozialen Bedingungen, die selbst-einschränkende und aggressive Perspektiven anstelle von wachstumsfördernden, mit anderen geteilten Erfahrungen nähren.
■ Kognitive Perspektive: Erfasst die unterschiedlichen feindseligen Gedanken und Fantasien, die Menschen bei der Wahrnehmung gewalttätiger Handlungen erleben. Beachtet sowohl aggressive Vorstellungen als auch Absichten, andere zu verletzen. Untersucht den Einfluss von Gewalt in Filmen und Videos.
■ Biologische Perspektive: Untersucht die Rolle spezifischer Gehirnareale für die Aggression, indem verschiedene Gehirnregionen stimuliert und dann alle hervorgerufenen destruktiven Handlungen aufgezeichnet werden. Analysiert auch das Gehirn von Massenmördern im Hinblick auf Abnormitäten; untersucht Aggression bei Frauen im Zusammenhang mit den Phasen des Menstruationszyklus.
■ Evolutionäre Perspektive: Betrachtet, welche Bedingungen Aggression zu einem Anpassungsverhalten für Urmenschen machten. Identifiziert psychologische Mechanismen, die in der Lage sind, unter diesen Bedingungen selektiv aggressives Verhalten hervorzurufen.
■ Kulturvergleichende Perspektive: Betrachtet, wie Mitglieder verschiedener Kulturen Aggression zeigen und interpretieren. Findet heraus, wie kulturelle Kräfte die Wahrscheinlichkeit verschiedener Arten aggressiven Verhaltens beeinflussen.
Anhand dieses Beispiels von Aggression können Sie erkennen, wie die verschiedenen Perspektiven Zusammenwirken und sich ergänzen, um ein umfassenderes Verständnis in spezifischen Feldern der psychologischen Forschung zu ermöglichen. In der gegenwärtigen Psychologie bedient sich ein Großteil der Forschung mehrerer Perspektiven. Beim Durcharbeiten des Lehrbuchs Psychologie wird sich zeigen, dass neue Theorien oft aus Kombinationen verschiedener Perspektiven entstehen. Zudem hat der technische Fortschritt die Kombination mehrerer Perspektiven erleichtert; so ermöglichen etwa die bildgebenden Verfahren der Hirnforschung, die in Kapitel 3 thematisiert werden, den Forschenden, eine biologische Perspektive auf so unterschiedliche Gegenstände wie Sprachverarbeitung (Kapitel 8) und Persönlichkeitsunterschiede (Kapitel 12) anzuwenden. Darüber hinaus erleichtern Entwicklungen wie das Internet Forschenden, weltweit zu kooperieren und sich auszutauschen. Eine kulturvergleichende Perspektive kann auf so unterschiedliche Phänomene wie moralisches Argumentieren (Kapitel 10) oder das wahrgenommene Körperbild (Kapitel 11) angewendet werden. Die Vielfalt an Perspektiven in der Psychologie hilft, Kernfragen der menschlichen Erfahrung kreativ zu erforschen.
Tabelle 1.1
Vergleich von sieben Perspektiven zeitgenössischer Psychologie
Perspektive |
Untersuchungsschwerpunkt |
Primäre Forschungsthemen |
Psychodynamisch |
Triebe, Konflikte |
Verhalten als sichtbarer Ausdruck unbewusster Motive |
Behavioristisch |
Spezifische gezeigte Reaktionen |
Verhalten und seine Verursachung durch Reize und Folgen |
Humanistisch |
Menschliches Erleben und Potenziale |
Lebensmuster, Werte, Ziele |
Kognitiv |
Kognitive Prozesse, Sprache |
Untersuchung von Verhaltensindikatoren für kognitive Prozesse |
Biologisch |
Prozesse in Gehirn und Nervensystem |
Biochemische Basis von Verhalten und mentalen Prozessen |
Evolutionär |
Evolutionär entstandene psychische Anpassungsvorgänge |
Untersuchung von psychischen Mechanismen als evolutionär entstandene adaptive Funktionen |
Kulturvergleichend |
Interkulturelle Muster von Haltungen und Verhalten |
Universelle und kulturspezifische Aspekte menschlicher Erfahrung |
Zwischenbilanz
KH Was sind die zentralen Anliegen der strukturalistischen und der funktionalistischen Herangehensweise?
H Wie konzeptualisieren die psychodynamische und die behavioristische Perspektive jeweils die Faktoren, von denen menschliches Handeln bestimmt wird?
a Was ist das Ziel der kognitiven Neurowissenschaften?
Ei Wie ergänzen sich die evolutionäre und die kulturvergleichende Perspektive?