Erkenntnis nach der "Methode, die mit der Schöpfung der Dinge selber übereinstimmt"
Bereits Tönnies' erste philosophische Arbeiten, seine "Anmerkungen über die Philosophie des Hobbes" [1] und nachfolgend seine "Studie zur Entwicklungsgeschichte des Spinoza" [2] sind geprägt durch die für die (Aus-)Gestaltung seines Denkens primär bestimmende Intention: die Entflechtung von metaphysischen und erkenntnistheoretischen Fragestellungen. Den "Kern" der "Bestrebungen" von Hobbes sieht Tönnies auf der einen Seite in "ihre[r] Feindschaft gegen das Mittelalter und gegen die geistige Macht, welche dasselbe beherrscht hatte, die katholische Kirche", und auf der anderen Seite in "ihr[em] Ziel, auf der neuen Grundlage wissenschaftlicher Erkenntniss eine neue geistige Macht zu schaffen, welche jene [die katholische Kirche; PUMB.] nicht nur zu vernichten, sondern zu ersetzen stark sein sollte". [3] Offensichtlich aber – so lautet zusammengefasst Tönnies' Befund – erachtete Hobbes die Prinzipien der modernen Naturwissenschaft in ihrer Aussagekraft betreffend die Entstehung der Tatsachen letztlich doch als dem Kriterium der "Notwendigkeit, d.h. Kausalität" zu wenig genügend, um für die scholastische Philosophie eine wirkungsvolle Konkurrenz zu sein [4]; denn sonst wäre er – nach dem von Tönnies gezogenen Schluss – wohl kaum dazu gekommen, in der den begrifflichen Darstellungen zugrundeliegenden "geometrischen Figur" sowohl das "Urphänomen" alles Seins, den ›Fall aller Fälle‹, als auch ein Produkt der menschlichen ratio zu sehen. [5] Bezugnehmend auf Galilei gelangt Tönnies daher zur Auffassung, dass im "erkenntnisstheoretischen Denken" von Hobbes das sich herauskristallisierende Ideal der modernen Naturwissenschaft als solches erst zur Geltung gebracht werden muss [6], näherhin Geometrie und Mechanik gleichsam zu entmischen sind, da die auf Begriffsbeziehungen beschränkte Demonstration der Entstehung eines Dinges aus "Definitionen" etwas prinzipiell anderes ist als die Erklärung realer Sachverhalte als notwendige Wirkungen gegebener Ursachen [7]. Unangetastet bleibt indes der Hobbessche Begriff des Wissens selbst: Auch für Tönnies ist wahres Wissen stets Wissen aus Ursachen.
Für den Fortgang der Argumentation gilt es allerdings genau zu beachten, worauf sich die geforderte Trennung von Geometrie und Mechanik bezieht. Denn war es die mathematische Bewegungslehre, welche, verbunden mit ihrer Einstufung als Wissenschaft vom tatsächlichen Geschehen, Hobbes letztlich zur vollständigen Durchbrechung der "Scheidewand" zwischen dem Tatsachen-Wissen und dem begrifflichen Wissen führte [8], so verleiht Tönnies diesem Sachverhalt eine völlig neue Fassung – weit entfernt vom Bestreben einer bloßen Irrtums-Korrektur. Vielmehr führt er einen gänzlich neuen Gedanken in die Hobbessche Erkenntnistheorie ein – einen Gedanken, der in seinem Gehalt und seiner Tragweite gleichzeitig weit über die Hobbessche Philosophie hinausweist. Was Tönnies anstrebt, ist nichts Geringeres als die Überwindung des aus der Hobbesschen Geometrisierung der Wirklichkeit resultierenden einseitigen Rationalismus. Denn als aus prinzipiellen Einsichten gleichsam ›errechnete‹, steht die Hobbessche Wirklichkeit selbst auf der Stufe eines logischen Ideals, wobei ihr in ihrem Konstituiertsein eine Homogenität eignet, die zum konkreten Sein der Dinge keine Entsprechung mehr besitzt. Aus diesem Grunde gilt es diese Geometrie des Homogenen abzulösen durch eine eigentliche ›Geometrie des Heterogenen‹. Angestrebt ist eine Geometrie, deren ›Konstruktionen‹ in ihrer Logik als ebenso zwingend erscheinen wie diejenigen der Geometrie des Homogenen – eine Geometrie jedoch, deren Demonstrationsfähigkeit sich über den Kontext der geometrischen Figuren hinaus auf die Hervorbildung der besonderen aus den allgemeinen Wirklichkeiten bezieht und die daher in Begriffsform darzustellen vermag, wie die Tatsachen aus dem, was die Wirklichkeit in ihrer Substanz ausmacht, als solche hervorgehen oder, adäquater ausgedrückt, emanieren. Tönnies selbst verwendet den Begriff der Geometrie des Heterogenen nicht, doch gibt es für das, was er mit seiner Neubegründung der Erkenntnis im Sinn hat, keine bessere Bezeichnung.
Die Geometrie des Heterogenen ist nichts anderes als die Übersetzung eines metaphysischen Sachverhalts – eingedenk dessen, dass Tönnies erkenntnistheoretische und metaphysische Fragestellungen lediglich zu entflechten, nicht diese durch jene zu ersetzen sucht. Auch für diese neu zu begründende Wissenschaft gilt der bereits für Hobbes ebenso wie für Spinoza verbindliche Satz, wonach das wahrhafte Begreifen eines Realen identisch ist mit dessen Erschaffung durch den Verstand – doch nicht länger fällt die Wissenschaft mit ihrem Gegenstand zusammen. Nicht länger lastet auf dem Verstand die Aufgabe der Generierung der Urphänomene selbst, vielmehr geht sein Bemühen nurmehr darauf hin, das gegebene Reale in seinem Konstituiertsein ›nach‹zudenken. Gerade damit wird aber nach Ansicht von Tönnies geleistet, was Hobbes als Aufgabe der "reinen Wissenschaft" vorsah, worauf er "eigentlich hinaus [wollte]": die unmittelbar "denkend[e]" Herstellung von "Gedankendinge[n]", mit denen wir "solche [Dinge; PUMB], die wir als der [...] Wirklichkeit angehörig denken, in der [besser: ihrer; PUMB] Wirklichkeit – mehr oder minder auf vollkommene Weise – nachbilden". [9] Die Geometrie des Heterogenen ist eine "reine Wissenschaft", zu nichts anderem als zu begrifflichen Demonstrationen fähig, doch ist sie mitnichten bloß eine für sich bestehende Welt rationaler Konstrukte, wird doch in sie, als ihr Gegenstand, die Wirklichkeit wieder hereingeholt.
Wie aber lässt sich eine solche ›Geometrie des Heterogenen‹ überhaupt begründen? Und woraus gewinnt der Verstand die Gewissheit, mit einem solchem Begriffsbildungsverfahren – einem Verfahren, das im Übrigen unschwer zu erkennen ist als Umdeutung der bei Hobbes schon vorgezeichneten, aber erst von Spinoza ausgearbeiteten und als Kardinalpunkt seiner Methodenlehre geltenden "genetischen Definition" [10] - der Wirklichkeit tatsächlich auf der Spur zu sein? Für die Antwort hält sich Tönnies zwar wiederum an die Philosophie von Hobbes, näherhin an dessen sensualistischen Erkenntnisbegriff sowie an die auf diesen Begriff hin vorgenommene phänomenalistische Erkenntnisbegründung, sieht darin aber offenkundig nicht mehr als die für sein eigenes Vorgehen erforderlichen Rahmenbedingungen. Denn ausgedeutet und mithin ausgestaltet werden diese Hobbesschen Philosopheme von Tönnies durch einen von ihm selbst so genannten "biologischen Spinozismus Schopenhauers" sowie Einsichten der realen phylogenetischen Psychologie [11] – und was im Endeffekt entsteht, ist ein höchst eigenständiges, um nicht zu sagen: eigenwilliges, Konstrukt von erkenntnistheoretischen Argumenten bzw. Denkfiguren.
Wie auch Hobbes steht Tönnies prinzipiell auf dem Standpunkt, dass es allein die Sinnesempfindung ist, welche das Zustandekommen von Wissen um Erscheinungen überhaupt ermöglicht und wir daher beim Bestreben, eine Entscheidung über den Erkenntnisgehalt unserer "Phantasmen" zu gewinnen, folgerichtig auf diese selbst beschränkt sind, mit der Erinnerung und der inneren Erfahrung als den einzigen befragbaren Zeugen. Jegliche Erkenntnisbegründung wird so an die durch den Verstand zu leistende Aufarbeitung der Geschichte des Erkenntnisvermögens verwiesen, an die Suche des Verstandes nach seinem eigenen Ursprung. Allerdings tut es Tönnies Hobbes auch darin gleich, dass er bei der Durchführung der phänomenalistischen Erkenntnisbegründung keineswegs konsequent verfährt und wie dieser zur Voraussetzung einer Ursache noch der sinnlichen Wahrnehmung selbst gelangt. Zwar besteht für Tönnies diese Voraussetzung nicht direkt in einem Äußeren, unabhängig vom erkennenden Subjekt in der Wirklichkeit Wirkenden, und doch ist die von ihm als Anfang aller Erkenntnistätigkeit gesetzte "Natur", verstanden als "empfundener innerer Gesammtzustand" [12], nichts anderes als die bewusstseinsimmanente Auftretensform der Natur bzw. Wirklichkeit überhaupt. Auch das Erkennen besteht letztlich darin, dass die Natur im Menschen "wirkt", wobei der Grad, in dem sich das Empfundene ausdifferenziert und schlussendlich eine durch den Verstand bestimmte Gestalt annimmt, von Tönnies immer auch als Ausdruck der Entwicklung der Erkenntnisorgane begriffen wird – und umgekehrt. [13]
Für diesen Befund gibt es zahlreiche Belege, von denen zumindest zwei der bedeutendsten hier genannt werden sollen: zum einen Tönnies' Festhalten an der von ihm in seiner Auseinandersetzung mit Hobbes' Elements of law, natural and politic herausgearbeiteten Subjekt-Objekt-Beziehung der Erkenntnis – einer Beziehung, die in ihrer realistischen Fassung geprägt ist vom einen schlichten Innen/Aussen-Verhältnis – [14], und zum andern der Umstand, dass Tönnies zufolge die "Ableitung" des "Intellects" aus der Gesamtheit der "Gefühle und Triebe" – verstanden als Überwindung der bei Hobbes und Spinoza diagnostizierten "radicalen Scheidung des höchst-entwickelten Geisteslebens" – sowohl Gegenstand einer realen phylogenetischen Psychologie nach Darwinschem Muster sein soll und gleichzeitig eine Entäußerung des Schopenhauerschen Willen zum Leben [15].
Diesen Gedanken des sich aus seinen Anfängen bis hin zur Verstandestätigkeit entwickelnden Erkenntnisvermögens bezeichnet Tönnies als die "Idee des aus seinem Keime werdenden Geistes" – so zu lesen in der Vorrede zur ersten Ausgabe von Gemeinschaft und Gesellschaft von 1887. [16] Und in diesem Gedanken kulminiert auch seine gesamte erkenntnistheoretische Argumentation. Denn selbst nicht anderes darstellend als eine besondere Ausdrucks-, ja, mehr noch, Entäußerungsform des naturhaften Wirkens, erfährt der Geist, bis ›hinauf‹ zum Intellekt, an seiner eigenen Entwicklung das Prinzip des Aufbaus der Wirklichkeit. Die Entwicklung seines Erkenntnisvermögens ebenso wie die ›Aufstufung‹ seines Wissens zurückverfolgend zu ihrem Ursprung, wird ihm gewahr, wie aus dem Gesamtzustand des Empfundenen, zu denken als die "Existenz der […] durch allgemeine und dunkle Beziehungen auf sich involvirend[en] [Natur]", [17] einzelne dieser Beziehungen zusehends an Deutlichkeit gewinnen, eine spezifische Gestalt annehmen und schlussendlich, dargestellt in stets komplexeren Wirkungszusammenhängen, dementsprechend besondere Wirklichkeitszustände hervortreten lassen. An seiner eigenen Entwicklung erfährt der Geist das Prinzip der Hervorbildung des Besonderen aus dem Allgemeinen, das Prinzip der Wirklichkeitskonstitution als fortwährende Ausdifferenzierung und ›Aufstufung‹ von Kausalverhältnissen, und so ist es die empfundene Natur, die als intrapsychische Repräsentantin des Wirklichkeitsgrundes selbst noch die Erkenntnisbedingungen oder, beziehungsreicher gesagt, die Konstruktionsbedingungen der gesuchten ›Geometrie des Heterogenen‹ aus sich entlässt. Und in der dergestalt zu leistenden Erkenntnisbegründung erfüllt sich für Tönnies schließlich auch der Gedanke einer Erkenntnis nach der "Methode, die mit der Schöpfung der Dinge selber übereinstimmt" – ein Gedanke, wie ihn Tönnies zwar wiederum von Hobbes übernommen hat, wie er ihn aber in höchst eigenwilliger Weise für sich umdeutet. Denn da – in den Worten von Hobbes – die "in dir selber" vorhandene Philosophie "vielleicht noch nicht gestaltet, sondern dem Erzeuger Mundus, wie er im Anfange formlos, war, ähnlich [ist]", und "du [folglich] thun [musst], was die Bildhauer thun, welche, die überflüssige Materie abschälend, das Bildniss nicht machen, sondern finden" [18], gerät die Erschließung des Prinzips der Wirklichkeitskonstitution für das Denken von allem Anfang an ausdrücklich zu einer Selbstexplikation – einer Selbstexplikation, die aber für Tönnies nunmehr nicht im reinen Verstandesvermögen befangen bleiben darf, sondern sich darüber hinaus zurückerstrecken muss auf das, was den Geist überhaupt erst zu seinem Tätigsein kommen lässt: eben das Prinzip, nach dem alles Wirkliche sich konstituiert aus dem Anfang der Natur, und nach dem es folgerichtig auch allein wahrhaft begriffen werden kann.
Und dieses vom Geist an sich selbst erfahrene Prinzip der Wirklichkeitskonstitution ist für Tönnies die Grundlage zur Ausarbeitung der Begrifflichkeiten der Soziologie, der "reinen Grundbegriffe" bzw. der Kategorien der soziologischen Theorie. Damit komme ich zum zweiten Punkt: der Bestimmung des von Tönnies konstruierten Begriffssystems der Sozialwelt bzw. der von ihm ausgearbeiteten Geometrie des Heterogenen, unter Hervorhebung der für den Bestand dieses Systems verantwortlichen Architektonik.
- [1] Vgl. Tönnies 1879; 1880a; 1880b; 1881
- [2] Vgl. Tönnies 1883a; 1883b
- [3] Tönnies 1879: 453
- [4] Tönnies 1880a: 70f
- [5] Für die detaillierte Fassung des hier verkürzt wiedergegebenen Argumentationsgangs vgl. Merz-Benz 1995: §5a
- [6] Vgl. Tönnies 1879: passim
- [7] Vgl. Tönnies 1880a: 56ff., 62f. u. bes. 67ff
- [8] Vgl. Tönnies 1880a: 65
- [9] Tönnies 1971: 113
- [10] Vgl. Spinoza 1980: §94
- [11] Vgl. Tönnies 1887b: 301; Tönnies 1882: 244
- [12] Vgl. Tönnies 1979: XVI
- [13] Vgl. gesamthaft Merz-Benz 1995: Teil II
- [14] Vgl. Tönnies 1880a: 55f.; sowie ergänzend Merz-Benz 1995: §5b
- [15] Vgl. Tönnies 1881: 202f.; Tönnies 1882: 244
- [16] Vgl. Tönnies 1887a: XVIII; Tönnies 1979: XVI
- [17] Tönnies 1887: XIX; Tönnies 1979: XVI
- [18] Die Stelle, der dieses Zitat entstammt, findet sich in der Abhandlung "Vom Körper (Elemente der Philosophie I)" und wurde von Tönnies eigens zum Zwecke der Erläuterung seiner eigenen Gedanken ins Deutsche übersetzt (Hobbes 1967: 3; Tönnies 1887b: 300).