Das Begriffssystem der Sozialwelt

Die Vertragstheorie von Thomas Hobbes und die Konturen der ›Geometrie des Heterogenen‹

Am Anfang der von Tönnies angestrebten Ausarbeitung einer Gesamtsicht der Sozialwelt steht die begriffliche Bestimmung der für das Mittelalter sowie die Gegenwart als typisch erachteten Formen des Zusammenlebens. Prinzipiell begreift Tönnies den Zusammenhang zwischen diesen beiden Epochen als Übergang zwischen zwei verschiedenen Arten von "sozialen, politischen und wirtschaftlichen Weltdingen" [1]; angemessener wäre es indes, statt von Übergang von Überlagerung zu sprechen, insofern als die Elemente der früheren Gebilde des Zusammenlebens als Fundament der Sozialwelt auch weiterhin erhalten bleiben. Als die sozialen Weltdinge des Mittelalters sieht Tönnies – wie zu lesen in seinem Brief an Friedrich Paulsen vom 21.6.1885 – diejenigen Formen des Zusammenlebens, die – wie er sich ausdrückt – "wirklich mit organisch-lebendigen Bildungen offenbare Ähnlichkeit haben", und für sie reserviert er den Begriff der "Gemeinschaft", während die aktualiter vorherrschende, von ihm so benannte "Klasse von Instituten mechanischen Charakters" gesamthaft unter den Begriff der "Gesellschaft" fallen soll. [2] Beide Arten von Gebilden des Zusammenlebens haben als ihren Urheber den Menschen, und beide sind zu sehen als von ihm geschaffene "Werkzeuge" zuhanden der Ergreifung und Bearbeitung der "ganzen Natur", hier zu verstehen als Inbegriff der empirischen Wirklichkeit. [3] Es sind wesentlich die Sozialgebilde, mittels derer der Mensch sich in der Wirklichkeit einrichtet.

Die Sozialverhältnisse selbst begreift Tönnies als konstituiert in Wirkungsverhältnissen, wie sie bestehen zwischen den einzelnen Menschen, wobei er allerdings – auf die ethisch-politische Theorie von Thomas Hobbes abstellend [4] – nur solche Verhältnisse zum Gegenstand der Soziologie zählt, bei denen die ausgeübten Wirkungen grundsätzlich eine im Sinne der Aufrechterhaltung der "Beziehung" "bejahende" Tendenz aufweisen. Mit "Beziehung" ist das Sozialverhältnis als Ganzes gemeint, der Inbegriff eines "Zustandes" – ein für Tönnies, auch und gerade was seine Erkenntnistheorie angeht, sehr bedeutender Begriff –, bestehend in den "bleibenden Bedingungen gleichartig sich wiederholender [durch den Wechsel des Geschehens hindurch stets dasselbe Sozialverhältnis ausdrückender; PUMB] Ereignisse". [5] Von "bejahender Tendenz" und nicht von Zielen, Zielen menschlichen Tätigseins oder gar Handlungszielen, ist hier deshalb zu sprechen, weil die ausgeübten Wirkungen jenseits aller Inhalte und durch diese hindurch allein auf die "Erhaltung" als der prinzipiellen Akzeptanz der je anderen Wirkungen als Wirkungen im Rahmen einer geteilten Beziehung gerichtet sind. Wird durch solchermaßen "positive Verhältnis[se]" eine "Gruppe" gebildet, heißt diese "Verbindung"; "Verbindung" ist für Tönnies der Grundbegriff sozialer Verhältnisse. [6] Gleichzeitig ist damit ausgedrückt, dass für Tönnies die Sozialverhältnisse selbst in ihrer starren Form: als eigentliche Sozialgebilde, "als einheitlich nach innen und nach außen wirkendes Wesen oder Ding aufgefasst" [7], niemals als eigenständige höherstufige Wesen begriffen werden dürfen. Denn dass wir Sozialgebilde "darstellen und behandeln, als ob sie ein wirkliches Dasein hätten", ist lediglich "eine Art der Rede, einem verwickelten Zusammenhange einen einfachen Ausdruck zu geben" [8], während in Wahrheit "ein wirkliches Dasein" solcher Gebilde doch "nur vorhanden" ist, als es "wirkliche Personen sind", die sie "ins Dasein rufen und dann in vorgeschriebenen oder doch vorgedachten Formen wollen und handeln lassen". [8] Solche Formen sind wiederum nichts anderes als von wirklichen Personen gleichsam stabil gehaltene, als solche, gleich Vorgaben, akzeptierte, "bejahte" "positive [Wirkungs-]Verhältnis[se]" oder, was dasselbe meint, "Zustände". Und von hier aus führt der Weg direkt zur Bestimmung des Sozialverhältnisses als Analogon eines Vertrags im Sinn von Hobbes. [10]

Tönnies' Auseinandersetzung mit der Philosophie Hobbes' schrittweise nachverfolgend und dabei systematisch rekonstruierend, gewinnt auch die gesuchte Geometrie des Heterogenen zusehends Kontur und tritt gleichzeitig – neben dem Begriff des Sozialverhältnisses und den Begriffen von Gemeinschaft und Gesellschaft – ein weiterer Grundbegriff von Tönnies auf: der Begriff des Willens. Zunächst verstanden als "die bestimmende Macht des Seelenlebens", d.h. als diejenige Kraft in der empirischen Wirklichkeit des Bewusstseins, welche über die anderen Bewusstseinskräfte gebietet, gerät der Wille daraufhin – nach und nach Züge des Schopenhauerschen Willens zum Leben annehmend – zum Grund des dem Menschen zukommenden Vermögens der Ergreifung und Gestaltung der Natur und – als eines Teils von ihr – der Sozialwelt. Und indem es der Wille ist, der – wie gleichfalls sichtbar werden wird – auch die Erkenntnistätigkeit aus sich hervorgehen lässt, das, was aus der "Natur" als dem "empfundenen inneren Gesammtzustand" [11] immer deutlicher hervortritt und sich zum Verstand entwickelt, erweist er sich für die Bestimmung einer Erkenntnis nach der "Methode, die mit der Schöpfung der Dinge selber übereinstimmt", folgerichtig als Schlüsselbegriff. Erklärtermaßen begründet Tönnies seinen Begriff der Sozialwelt, ja des Sozialen schlechthin in der Vertragstheorie von Thomas Hobbes, doch ist diese für ihn von Anfang an wesentlich Mittel zur Formulierung seiner eigenen Gedanken und geht er bereits im Zuge seiner Rezeption von Hobbes' ethisch-politischer Theorie über diese hinaus. Die Vorgehensrichtung steht fest: "[A]us dem begrifflichen Inhalt der menschlichen Natur [auch] den Begriff des politischen [und im weiteren auch des sozialen; PUMB] Menschen unmittelbar herzuleiten" – dies ist Tönnies zufolge eine der zentralen "Aufgaben" [12], vor die sich die Hobbessche Theorie gestellt sieht. Und wie diese Aufgabe erfüllt werden kann, steht für ihn aufgrund der Hobbesschen Moralbegründung – der Verlegung der moralischen Qualitäten ins Subjekt, "ihr Wesen [...] zu einem rein psychischen [machend] und es in das sinnliche Gefühl [setzend]" [13] - auch bereits fest. Es muss "der Affect aufgezeigt werden, welcher trotz aller entgegenwirkenden Motive stark genug [ist], die Menschen zu bewegen, ihr Recht auf alle Dinge aufzugeben und Verträge mit einander zu schliessen". [12] Mit anderen Worten: es muss aufgezeigt werden, welcher Affekt die Menschen dazu zu bewegen vermag, gerade aus Selbsterhaltungsgründen, sprich: der "Erhaltung" ihrer – von Hobbes als "das Gegebene und Natürliche vorausgesetzt[en]" – menschlichen Natur [15], ihre egoistischen Triebe sämtlich hintanzustellen und sich einzubinden in eine soziale Ordnung. Für die Erfüllung dieser Aufgabe besteht indes eine ganz besondere Voraussetzung. Ist nämlich – so die von Tönnies daraufhin angestellte Folgerung – die Erhaltung der menschlichen Natur "der allein natürliche Zweck und [...] bezieht sich alles was vernünftig ist [auf Mittel zu demselben]" [15], wobei es der Affekt ist, der selbst noch das Denken ›bewegt‹, so erweist sich alle "Ueberlegung, auf das Handeln bezüglich, anstatt einer planmäßig gelenkten Folge von Gedanken [als] ein dem animalischen Leben als solchem angehöriger [...] Process" [17]. Und gilt dies nicht bloß für das Handeln als unvermitteltes "Begehren und Meiden", sind vielmehr – wie Tönnies kurze Zeit später, nach Fertigstellung seiner "Anmerkungen über die Philosophie des Hobbes" schreibt – sogar die "einfachen oder combinierten Erkenntnisacte" als "Effect" dieses Selbsterhaltungstriebs zu verstehen [18], so ergibt sich eine Bestimmung, mit der nichts weniger als die Tür zum Grund-Thema von Tönnies' gesamtem sozialphilosophischen und soziologischen Denken aufgestoßen wird: Im animalischen Leben, wie es angetrieben wird vom Willen in seiner materialen Gestalt – wohlverstanden: dem Willen nach dem Verständnis von Hobbes, dem Willen als die bestimmende Macht des Seelenlebens – ruht alles, was den Menschen befähigt, die Wirklichkeit "aufzufassen und anzufassen" [19] - und darunter auch: soziale Verhältnisse ins Leben zu rufen, sie als solche schaffend, ebenso wie sich in soziale Verhältnisse einzufügen und diese mitzutragen, sie als solche "wollen und handeln [lassend]" [8].

Die soeben gestellte Aufgabe gilt es allerdings erst noch zu erfüllen, ist doch die entscheidende Frage noch nicht beantwortet. Welches ist der Affekt, der die Menschen dazu bewegt, sich unter Hintanstellung ihrer egoistischen Triebe in eine soziale Ordnung einzubinden oder, was dasselbe meint, Sozialformen, verstanden als "positive [Wirkungs-]Verhältnis[se]" von Handlungen, zu akzeptieren, als Vorgaben ihres Tätigseins? Der Affekt der "Furcht", der "gegenseitige[n] Furcht der Menschen vor einander [...]" [21], vor dem unbedingten Egoismus des/ der Anderen, vermag dies nicht. Denn die Furcht "der Menschen vor einander vereinigt dieselben Menschen [zwar] zur Gemeinschaft mit einander" [22], ja treibt sie in diese Gemeinschaft, doch bietet sie keine genügende Sicherheit für deren Dauer. Lässt die Furcht nach oder schließen sich Mehrere bloß vorübergehend zusammen, ihre egoistischen Bestrebungen auf denselben Zweck richtend [23], droht die Gemeinschaft sich aufzulösen oder nimmt selbst instrumentellen Charakter an – oder gerät gar tel quel zum Gegenstand der "Begierde" [24], der "Begierde", verstanden als dem ›Komplementär‹-Affekt der Furcht. Der ›Ausweg‹ – so die von Tönnies mit Hobbes (nach)vollzogene Konsequenz – liegt einzig in der Hypostasierung eines Gemeinschaftswillens – eines Gemeinschaftswillens, der über den zu verbindenden Einzelwillen steht, über der Vielfalt des die Menschen in ihrem Tätigsein bewegenden "Begehrens und Meidens", und der selbst erst dafür verantwortlich zeichnet, dass diese Einzelwillen eine Ganzheit bilden; dieser Gemeinschaftswille ist für die Einzelwillen gültig, und zwar insofern, als er es vermag, sie an die sie umschließend Ganzheit zu verpflichten. [25]

Dieser Ausweg hat allerdings seine Tücken, führt er doch zu gravierenden Inkonsistenzen den Inhalt des Hobbesschen Willensoder Affektbegriffs betreffend – Inkonsistenzen, die von Tönnies freigelegt und anschließend in seinem Sinne behoben werden. Erschien der Wille, treibende Kraft des Seelenlebens und mithin Grundgestalt aller affektuellen Äußerungen, bisher als selbst gefühlshaft, so trifft dies auf den Einen Willen, wie ihn der Gemeinschaftswille verkörpert, offenkundig höchstens noch zur Hälfte zu. Auch der Eine Wille entspringt zwar dem Affekt der Furcht, doch ist er gleichzeitig ein vorgestellter und als solcher nicht mehr gefühlshaft. Was indes gleich bleibt, ist die Natur des Willens; nach wie vor gilt das "sinnliche Gefühl" als der Grund aller willentlichen Bewegungskräfte. Wiederum steht jedoch fest, dass der Wille unterschiedliche Auftretensformen besitzt, er den Menschen als Affekt überkommt und ebenso dessen Vorstellung ausmacht, es mithin unterschiedliche Ebenen, ja eigene und eigentliche Realitäten willentlicher Betätigung gibt – und sich folgerichtig das Problem ihrer Vermittlung stellt. Diese Inkonsistenzen müssen beseitigt werden.

Tönnies sucht zu einer Klärung zu kommen, indem er zunächst Hobbes' Rede von den "zwei vollkommen sichere[n] Postulate[n] der menschlichen Natur" aufgreift [26], gefolgt von einer Neubestimmung des Vernunftbegriffs. Bei den genannten Postulaten handelt es sich zum einen um das Postulat der "natürliche[n] Begierde, kraft deren jeder einen eigenthümlichen Gebrauch der an sich gemeinschaftlichen Sachen [fordert]", und zum anderen um das Postulat der "natürliche[n] Vernunft, vermöge welcher [...] ein jeder bemüht [ist], gewaltsamen Tod als das höchste Uebel zu vermeiden". [27] Das zweite Postulat weiterdenkend – ›wie gewohnt‹ mit Hobbes und durch dessen Argumentation hindurch [28] – kommt Tönnies zum Schluss, dass es bestimmte Affekte sind, die die Vorstellung eines befriedeten Zusammenlebens unter dem Einen Willen zwar nicht hervorbringen, aber als solche notwendig machen. Als solche ist diese Vorstellung dann eine Leistung der Vernunft, der Vernunft als des richtigen Denkens. Die besagten "Affecte, welche die Menschen zum Frieden geneigt machen, seien Furcht vor dem Tode; Verlangen nach solchen Dingen, als zu bequemem Leben notwendig sind; und Hoffnung, durch Arbeit dieselben zu erlangen". [29] Dem in diesen Affekten bloß Erfühlten, verleiht die Vernunft daraufhin Gestalt, indem sie – so zitiert Tönnies Hobbes selbst – "schickliche Friedensartikel [unterbreitet {suggesteth}], auf Grund deren die Menschen zum Frieden gebracht werden können". [30] Die Vernunft demonstriert den Menschen das ›richtige‹ Gemeinwesen vor, im Endeffekt "den Begriff des Staates als eines Kunstwerks". [31] Und dieses Gemeinwesen ist auch insofern das ›richtige‹, als es den Menschen die Möglichkeit eröffnet, ja diese Möglichkeit für sie erst schafft, sich ein "bequemes Leben" erarbeiten zu können. Es ist dies eine Konstruktion oder, was dasselbe meint, eine Vorstellung hergestellt mit Mitteln der Geometrie, welche "ideellen" Charakter besitzt, in ihrem Entstandensein aus "vernünftige[r] Einsicht und wissenschaftliche[r] Erkenntnis" – und wissenschaftliche Erkenntnis ist ›richtige‹ Erkenntnis – jedoch gleichzeitig die "Regeln" enthält, nach denen auch "in der wirklichen Welt" ein ihr entsprechendes Gemeinwesen gebaut werden kann. [32] Auf diese Weise ist das Gemeinwesen, und mit ihm der Eine Wille, der die Einzelwillen an das Gemeinwesen verpflichtet, eine Sache der Vernunft – einer Vernunft allerdings, zu der auch das Bedingtheitsein durch Naturnotwendigkeiten gehört. Das Wirken dieser Vernunft geschieht in Einklang mit der menschlichen Natur, zeigt sie dieser doch nichts anderes – und vor allem nichts weniger – als die höchste Möglichkeit der Selbsterhaltung.

Es bleibt aber das nach wie vor offene Problem der – von Tönnies so genannten – "psychologischen Doktrin" Hobbes': die Vermittlung der Vernunft mit dem Willen als der bewegenden Kraft des Seelenlebens. Der Weg zur Lösung führt Tönnies zufolge über die Feststellung, dass Hobbes mit seinem Prinzip der "Vernunftnotwendigkeit" des Gemeinwesens, des Vertrags, insofern inkonsequent verfährt, als sich dem idealistischen und, vorgreifend gesagt, rationalistischen Verständnis der Vereinigung doch wiederum eine realistische Ansicht unterschiebt und diese von ihm – ein scholastischer "Rest" in seinem Denken – zudem missverstanden wird als eine im moralischen Sinne "reale Nöthigung" [33] zum Gemeinwesen. Es gibt nach Tönnies zwei, prinzipiell verschiedene Ausgangssituationen der Menschen bei Vertragsabschluss. Und dementsprechend ist der "natürliche Ursprung" der politischen Vereinigung "ein anderer", als ihn die "Theorie", d.h. die rein vernunftmäßige Begründung bzw. die Demonstration des Vertrages zugrunde legt. [34] Diese setzt eine freiwillige Einigung voraus, eine Einigung gleichberechtigter Individuen durch "Verträge mit einander", jene dagegen besteht durch die "natürliche Kraft" und ist der Ausdruck von Befriedungsbemühungen in Gestalt realer Herrschaftsund Unterwerfungsverhältnisse, kulminierend in einem Vertrag der Schwächeren mit dem Stärkeren, einem "Vertrag [von ihnen; PUMB] mit ihm". [35]

Mit dieser Inkonsequenz beschreibt Tönnies die Problemkonstellation, von der aus er schließlich zu seiner eigenen Sozialtheorie vorstößt – einer Sozialtheorie, die folgerichtig immer auch eine Willenstheorie ist. Denn woran sich nichts geändert hat, ist die einseitige Zuweisung der Vernunft an den "Vertrag mit einander", während die vertragliche Verpflichtung, das sich Verpflichten an das Gemeinwesen durch Aufgabe des "natürliche[n] Recht[s] auf alle Dinge", als "ein Zeichen des Willens oder des letzten Actes der Ueberlegung" erscheint. [36] Und beim Willen handelt es sich bekanntlich um eine affektuelle Äußerung und ist der Wille, der Wille in seiner materialen Gestalt, die bestimmende Macht des Seelenlebens. Ungeklärt, ja ihrem Inhalt nach verfehlt, ist – so fügt Tönnies noch hinzu - bei Hobbes auch die Trennung von "Handlung" und "Wille", hätte sie doch im Endeffekt die Konsequenz, dass Handlung und Wille gar nicht mehr vermittelt werden könnten. Denn die freiwillige Einigung, die Einigung gleichberechtigter Individuen, ist erklärtermaßen ein Ergebnis des Handelns, welches sich damit als ein freies Handeln erweist, wogegen sich im Willen eine dem Handeln auferlegte Verpflichtung und insofern eine Nötigung ausdrückt. [37]

Die Maßnahme, mit der Tönnies die Gedanken Hobbes' weiterund – seinem Anspruch gemäß – einer Lösung zuführt, ist die Zulassung der "Vernunft als Motiv des menschlichen Handelns". [38] Zudem gilt es zu unterscheiden zwischen einer theoretischen und einer praktischen Vernunft. "Nicht mit dem einmaligen Willen, dem theoretische [allein in wissenschaftlichen Demonstrationen sich ausdrückende; PUMB] Vernunft sich verbindet zu einem kunstgerechten Aufbau des Staates, ist es gethan; sondern es ist praktische Vernunft nothwendig, welche den Willen beharren macht, um den Bau vor dem Einsturz zu bewahren." [39] Die theoretische Vernunft: das ist der Inbegriff der ratio in ihrem reinen, ungehinderten, einzig ›sich selbst‹ verpflichteten Wirken. Es ist die theoretische Vernunft, welche den Menschen das Ideal des verwirklichten, "kunstgerecht" aufgebauten Staates (vor-)demonstriert und sie dazu bringt, sich diesem einzufügen, sich ihm zu verpflichten – freiwillig, in einer als vernünftig erkannten Handlungsweise. Die theoretische Vernunft lenkt, ja zwingt – gleich dem Wirken eines Naturgesetzes – den Einigungswillen in die von ihr vorgesehenen Bahnen; es ist – wie es später, in Tönnies' Willenstheorie heißt – das Denken, welches in Ausübung seiner Macht dem Willen "Bewegung mitteilt". Die praktische Vernunft: das ist die Vernunft, die ›aus‹ dem Willen kommt und deren Wirken sich in der Gestaltung der willentlichen Intentionen erschöpft. Es ist die praktische Vernunft, welche den Menschen (vor-)demonstriert, was an Verhaltensformen des vorgefundenen, d.h. bereits realisierten Zusammenlebens dazu dient, dem Einigungswillen Geltung zu verschaffen und sie dazu bringt, sich diesen Verhaltensformen einzufügen, diese mitzutragen und auf sicher zu stellen – freiwillig, in einer zwar nicht explizit, wohl aber gefühlshaft, intuitiv, als vernünftig erkannten Handlungsweise. Die praktische Vernunft wirkt im Einigungswillen, wie er sich in der Wirklichkeit des Zusammenlebens fortwährend durchzusetzen sucht, gleichsam als dieser Wirklichkeit eigenes Gesetz; es ist – wie es wiederum später, in Tönnies Willenstheorie heißt – das Denken, das in der Gesamtheit der realen Willenskräfte steckt, darin aufgehoben ist, gleichsam als deren gefühlshaftes, intuitives Selbstverständnis. Dabei ist die praktische Vernunft ausdrücklich auf eine ›dienende‹ Funktion beschränkt. Der praktischen Vernunft obliegt es einzig, den Inhalt des Einigungswillens gegenüber dem Wechsel der Affekte, der Mannigfaltigkeit der in und mit den gelebten Verhaltensformen aufkommenden und sich wieder verflüchtigenden Gefühlsregungen, unmittelbaren Anschauungen, Phantasien zu immunisieren, ihn auf diese Weise ›beharren‹ machend. Das Verfaßtsein des Einigungswillens, die besondere Strukturiertheit der Willenskräfte, sprich: die Tatsache, ob der Einigungswille mehr auf Einsicht oder mehr auf Unterwerfung, dem Genötigtsein durch die realen Verhältnisse beruht, fällt dagegen nicht in ihre Zuständigkeit.

Worin aber sind sich theoretische und praktische Vernunft gleich? Zur Beantwortung dieser Frage – und mittelbar auch der Frage nach der Vermittlung oder, besser, der Vermittelbarkeit von Wille und Vernunft – fügt Tönnies einmal mehr verschiedene Argumente und Denkfiguren, die er der Philosophie Hobbes' entnommen hat, zusammen. Und in letzter Konsequenz, durch die "systematische Vollendung [seiner] Gedanken" mit Hilfe des "Spinozismus" [40] und der Evolutionstheorie, schafft er damit auch den Übergang zur Geometrie des Heterogenen. Wie kann "aus dem begrifflichen Inhalt der menschlichen Natur [auch] de[r] Begriff des politischen Menschen [und man kann ergänzen: der Begriff des ›sozialen‹ Menschen; PUMB] unmittelbar [hergeleitet]" werden? [12] Mit dieser Frage hat Tönnies bekanntlich seine Auseinandersetzung mit der ethisch-politischen Theorie von Hobbes aufgenommen. Und wie die Antwort zu finden ist, hat er ebenfalls festgestellt: Es muss aufgezeigt werden, welcher Affekt die Menschen dazu zu bewegen vermag, gerade aus Selbsterhaltungsgründen, sprich: der "Erhaltung" ihrer – von Hobbes als "das Gegebene und Natürliche vorausgesetzt[en]" – menschlichen Natur [15], ihre egoistischen Triebe sämtlich hintanzustellen und sich einzubinden in eine soziale Ordnung. Die Erhaltung der menschlichen Natur ist "der allein natürliche Zweck und [...] alles was vernünftig ist [bezieht sich auf Mittel zu demselben]". [15] Gegenstand der Darstellung ist gar ein eigentlicher ›Gestaltwandel‹: das (Neu-)Erscheinen des Affekts zur Selbstaufgabe der egoistischen Triebe als Affekt zum Sozialen, um als solcher bis ins Denken hineinzureichen und daselbst als Denken zu wirken. Am Begriff des Gemeinwesens, der sozialen Ordnung als einer Verwirklichungsform der Selbsterhaltung der menschlichen Natur aber hat sich bis jetzt nichts geändert, und kommt hinzu, dass sowohl das Bemühen, das Ideal des "kunstgerecht" aufgebauten Staates zu verwirklichen, als auch der Vollzug bereits bestehender Formen des Zusammenlebens ›wirkliches Handeln‹ ist, steht fest: im Handeln, unabhängig davon, ob dessen Motiv die theoretische oder die praktische Vernunft ist, wirkt das Prinzip der Selbsterhaltung. Ist aber – entsprechend Hobbes' Begriff des wahren Wissens – wirkliches Handeln nur denkbar nach dem Prinzip der rationalen Physik – dem Prinzip der in Bewegungen, d.h. in mechanischen Kausalverhältnissen konstituierten Wirklichkeit schlechthin –, so ist damit nunmehr angezeigt, wie die beiden Handlungsformen – Handeln, bestehend in einer explizit als vernünftig erkannten, Handeln bestehend in einer gefühlshaft, intuitiv als vernünftig erkannten Handlungsweise – vermittelt werden können. Und es zeichnet sich auch bereits ab, worin diese Vermittlung besteht: Im Eingehen der geometrischen Formen in die Wirklichkeit; und nur um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: dass die geometrischen Formen sich in der Wirklichkeit auflösten, ist damit gerade nicht gemeint.

Um hier weiterzukommen bezieht sich Tönnies allerdings nicht (mehr) auf Hobbes, sondern auf Spinoza, näherhin auf dessen Prinzip der genetischen Definition. Es ist die genetische Definition, nichts Geringeres als der ›Kardinalpunkt‹ von Spinozas Methodenlehre, mittels derer – wie es früher hieß – der Verstand sich die Gewissheit verschafft, der Wirklichkeit auf der Spur zu sein, oder, nunmehr das Eigentliche herausstellend, die Gewissheit, sich in den vom Denken ausgeführten Bewegungen in der Wirklichkeit wiederzufinden. Beide Handlungsformen, das explizit ebenso wie das intuitiv als vernünftig erkannte Handeln, sind demnach zu denken als konstituiert in sich aufstufenden Kausalbewegungen – Kausalbewegungen, die, indem sie sich fortwährend aufeinander beziehen, das Handeln gleichsam aus sich hervortreiben –, wobei diese Bewegungen die "Identität" der Wirklichkeit ausmachen, während die sachlichen Verschiedenheiten, verstanden als begriffliche Synthetisierungen festgestellter Individualitäten, bloß "ideellen" Charakter besitzen, ›erdachte‹ Gestaltungen im Strom des Geschehens. Das "begriffliche Wesen (actualis essentia) eines jeden Dinges" ist demnach "die Tendenz, in seinem Sein zu verharren" [40], d.h. die Mechanik seines Sich-Bewegens auf das Ziel des eigenen Bestehens hin anzulegen – eine Tendenz, die sich in der empirischen Wirklichkeit in höchst unterschiedlicher Gestalt manifestiert. Bezeichnet aber die Tendenz der Beharrung, das "begriffliche Wesen eines jeden Dinges", auch die Tendenz "des menschlichen Körpers und Geistes" [40], sprich: des Menschen in seinen unwillkürlichen Regungen ebenso wie den aus ihnen hervorgehenden animalisch-psychischen und letztlich gar vernunftbestimmten Lebensäußerungen, dann leistet die genetische Definition nichts weniger als die gesuchte Vermittlung heterogener Wirklichkeiten, die Aufstufung der "Identität" der Wirklichkeit bis in die menschlichen Handlungsweisen.

An dieser Stelle treten nunmehr – endlich – die Konturen von Tönnies' Begriff des Sozialverhältnisses bzw. der sozialen "Verbindung" hervor: des Sozialverhältnisses als von wirklichen Personen akzeptierte, d.h. als Ausdruck einer geteilten Beziehung, des sich Vereint-Findens in einer sozialen Ordnung, "bejahte" "positive [Wirkungs-]Verhältnis[se]" [46]. Es sind diese Wirkungs-Verhältnisse, welche, als Komplexe von Kausalbewegungen, die dem Sozialverhältnis innewohnende "Tendenz" verkörpern, "in seinem Sein zu verharren", und die dadurch seine "Identität" als Wirklichkeit ausmachen – seine Identität, verstanden als das Bleibende in der Vielheit seiner empirischen Gestalten. [5] Bezeichnenderweise spricht Tönnies von der bejahenden Tendenz der ausgeübten Wirkungen, und zwar der Wirkungen als solcher, und nicht von der Bejahung einzelner Handlungsziele.

In einem entscheidenden Punkt erweist sich indes auch das Prinzip der genetischen Definition für die Erkenntnisabsicht von Tönnies als ungenügend. Denn nicht nur ist die genetische Definition zur Ausarbeitung einer begrifflichen Fassung des Auseinanderhervorgehens von qualitativ verschiedenen realen Sachverhalten, und das heißt: von Sozialformen, die unter den Begriff "Gemeinschaft", und Sozialformen, die unter den Begriff "Gesellschaft" fallen, letztlich untauglich; vielmehr stößt mit der genetischen Definition der Rationalismus selbst an seine Grenzen. Die Tendenz der Beharrung, das "begriffliche Wesen eines jeden Dinges", des menschlichen Körpers ebenso wie des Geistes, ist in sich rationalistisch, konstituiert in und mit Kausalbewegungen, und desgleichen gilt für die "Identität", welche mithin jenseits jeglicher sachlicher, sprich: substanzieller Verschiedenheiten steht. Und was am schwersten wiegt: von der "Identität" der Wirklichkeit führt kein Weg zu den sachlichen Verschiedenheiten oder eben der Substanz des Wirklichen; diese bleibt von der genetischen Definition unerreicht. Doch gerade diese Kluft gilt es zu überwinden, ansonsten keine Aussicht besteht, theoretische und praktische Vernunft, explizit als vernünftig erkanntes Handeln und intuitiv, gefühlshaft als vernünftig erkanntes Handeln bzw. Sich-Einfügen in ein Gemeinwesen, in eine soziale Ordnung, zu vermitteln. "Was dem [Rationalismus] zu einer tieferen Auffassung dieses Verhältnisses [des Verhältnisses "der Vorstellungen überhaupt, und des Denkens insbesondere, zu den Gefühlen und Gemüthsbewegungen"; PUMB] mangelt, ist der Begriff der Entwicklung. Er [der Rationalismus] kennt nur fixe und unwandelbare Begriffe: insoweit hat die alte platonisch-idealistische Denkungsart, welche in der Scholastik als Realismus erstarrt war, die Herrschaft über ihn behalten." [48] Dies bedeutet aber nicht, dass Tönnies im Sinn hat, sich vom Rationalismus abzukehren oder gar einem Irrationalismus das Wort redet. Wofür er plädiert und wonach er strebt ist vielmehr die Ausweitung des Rationalismus, das Übersteigen der dem Rationalismus bisher gesetzten Grenze hin zu einer Rationalisierung noch der Genesis der Rationalität selbst. Dies ist das – fraglos paradoxe – Unterfangen der Tönniesschen Erkenntnisbegründung. Inbegriff eines Rationalismus, der seine Grenze überstiegen hat, ist die Geometrie des Heterogenen – eine Geometrie, deren Begriffsarchitektonik der Wirklichkeitskonstitution gehorcht, auf dass im und vor allem durch das System der zu bildenden Begriffe nichts Geringeres denkbar und darstellbar gemacht zu werden vermöge als die Selbstaufstufung des heterogenen Wirklichen, bis zum Hervorgehen des Denkens aus den "Gefühlen und Gemüthsbewegungen" und schließlich bis zu den in ›geistigen‹ Wirkungs-Verhältnissen bestehenden Sozialverhältnissen. Und diese sind – nach dem bekannten Begriff – nichts anderes als Wirkungs-Verhältnisse, verstanden als Bejahungen einer von mehreren Personen geteilten Beziehung durch diese Personen. Mit einem Wort: In der Geometrie des Heterogenen erhält der Gedanke einer Erkenntnis, deren "Methode [...] mit der Schöpfung der Dinge selber übereinstimmt", seine wissenschaftliche Gestalt.

  • [1] Vgl. Tönnies/Paulsen 1961: 216f
  • [2] Tönnies/Paulsen 1961: 217
  • [3] Vgl. Tönnies/Paulsen 1961: 217
  • [4] Vgl. Tönnies 1880b; Tönnies 1881; sowie als Kommentar Merz-Benz 1995: §§ 8a., 8b. u. 8c
  • [5] Tönnies 2000 [1880/81]: 33
  • [6] Vgl. Tönnies 1979: 3
  • [7] Tönnies 1979: 3
  • [8] Tönnies 1981b: 10
  • [9] Tönnies 1981b: 10
  • [10] Vgl. Merz-Benz 1995: §8a
  • [11] Tönnies 1979: XVI
  • [12] Tönnies 1880b: 443
  • [13] Tönnies 1880b: 440
  • [14] Tönnies 1880b: 443
  • [15] Tönnies 1880b: 434f
  • [16] Tönnies 1880b: 434f
  • [17] önnies 1880b: 441
  • [18] 52 Tönnies 1882: 244
  • [19] Tönnies 1979: 93f
  • [20] Tönnies 1981b: 10
  • [21] Tönnies 1880b: 446; zum gesamten Argument vgl. Tönnies 1880b: 445f
  • [22] Tönnies 1880b: 446
  • [23] Vgl. Tönnies 1880b: 446
  • [24] Vgl. Tönnies 1880b: 444ff
  • [25] Vgl. Tönnies 1880b: 447
  • [26] Tönnies 1880b: 448
  • [27] Tönnies 1977: 62; Hervorhebungen v. mir, Tönnies' Hervorhebungen wurden dagegen weggelassen; PUMB. Vgl. zu den von Tönnies in seiner Argumentation aufgenommenen Passagen aus verschiedenen Werken Hobbes' Merz-Benz 1995: 202 bzw. 433 (Anm. 530, 531 u. 532).
  • [28] Vgl. Merz-Benz 1995: 202ff
  • [29] Tönnies 1880b: 450f.; vgl. zudem Merz-Benz 1995: 204 bzw. 435 (Anm. 543).
  • [30] Tönnies 1880b: 451; Hobbes 1936: 166
  • [31] Vgl. Tönnies 1880b: 451
  • [32] Tönnies 1880b: 451f
  • [33] Tönnies 1881: 189; Hervorh.v. mir; PUMB
  • [34] Tönnies 1881: 188
  • [35] Tönnies 1881: 186f.
  • [36] Tönnies 1881: 189. Diese Bestimmungen, die einer Definition gleich kommen, hat Tönnies dem zehnten Abschnitt des zweiten Kapitels von De Cive entnommen; vgl. Hobbes 1977: 90f
  • [37] Für den gesamten Argumentationsgang vgl. Merz-Benz 1995: 208ff
  • [38] Tönnies 1881: 196; Hervorh. v. mir; PUMB
  • [39] Tönnies 1881: 196
  • [40] Tönnies 1881: 201
  • [41] Tönnies 1880b: 443
  • [42] Tönnies 1880b: 434f
  • [43] Tönnies 1880b: 434f
  • [44] Tönnies 1881: 201
  • [45] Tönnies 1881: 201
  • [46] Vgl. Tönnies 1979: 3f
  • [47] Tönnies 2000 [1880/81]: 33
  • [48] Tönnies 1881: 203
 
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