Gustav Ratzenhofers "Erkenntnislehre der Soziologie" – mit einem Blick auf Ratzenhofers Verhältnis zu Auguste Comte
Comte als Vorbild
Das Ziel, welches Ratzenhofer für seine Erkenntnislehre vorsieht, ist alles andere als bescheiden, soll mit der Begründung der Soziologie als der Lehre von den "Wechselbeziehungen der Menschen" doch gleichzeitig das gesamte System "positivistischer Wissenschaft" zum Abschluss gebracht werden – ein Bemühen, mit dem er, wie er selbst erklärt, dem Vorbild Auguste Comtes folgt. [1] Tatsächlich wird er seinem Vorbild in wesentlichen Punkten gerecht, wenngleich er mit seinem "Positiven Monismus" und darin eingeschlossen dem Verständnis des sozialen Lebens, ja selbst des Begriffs soziologischer Erkenntnis als einer Erscheinungsmodalität der "Urkraft", des physikalischen Prinzips der Weltentwicklung, doch einen ganz anderen Weg beschreitet als Comte. Was Comte "soziale Physik" oder "Soziologie" nennt, ist für Ratzenhofer die Soziologie als Wissenschaft oder – nach der Bezeichnung von Tönnies – die "eigentliche Soziologie". [2] Ihre Aufgabe ist das Studium der sozialen Entwicklung, die begriffliche (Re-)Konstruktion der Entwicklung der Gesellschaft als eine komplexe Form des Zusammenwirkens von unorganischen, organischen sowie spezifisch soziologischen Gesetzen. [3] Der eigentlichen Soziologie vorgeordnet ist bei Ratzenhofer die "Soziologie als soziologische Erkenntnis", und diese ist eine Erweiterung der Philosophie. Ihre Aufgabe besteht darin, die Erkenntnis des gesellschaftlichen Lebens überhaupt erst zu ermöglichen: des gesellschaftlichen Lebens, welches – wie Ratzenhofer beansprucht, als erster gezeigt zu haben – über die bisherigen "Hauptgebiete der Philosophie" hinaus "sowohl ein Geistesleben als auch eine materielle Erscheinungswelt hat". Ihre Kategorien schöpft sie aus der Naturwissenschaft, nicht indem sie bloß deren Erkenntnisse verwendet, sondern indem sie deren "Entwicklungsweg einhält" und zum Abschluss bringt. Sie "wurzelt in der speculativen Verwertung aller Naturgesetze für das individuelle Leben in der Gesellschaft" – und eine derartige Soziologie besitzt bei Comte keine Entsprechung. [4]
Dessen ungeachtet ist indes weder für Ratzenhofer noch für Comte Positivismus mit Empirismus gleichzusetzen, und ebenso wie Comte ist es auch Ratzenhofer keineswegs bloß um eine Ausdehnung der naturwissenschaftlichen Methode, mithin des naturwissenschaftlichen Denkens auf die Geschichte und insbesondere auf das soziale Leben und die Gesellschaft zu tun, gleichsam um die Erschließung eines neuen wissenschaftlichen Gegenstandsbereichs. Zwar betont Ratzenhofer ausdrücklich, "der Wechsel der drei Phasen [der Phasen des theologischen, des metaphysischen und des positiven Denkens [5]; PUMB] [gehöre] der intellectuellen Entwicklung [zu]", um nichtsdestotrotz gleich anzufügen, der intellektuellen Entwicklung entspreche "gewöhnlich ein verwandtes [doch von ihr verschiedenes; PUMB] Bedürfnis in der gesellschaftlichen". [6] Wissenschaft ist für Ratzenhofer per se "zweckvolle Wissenschaft", den "allgemeinen Bedürfnissen" der Menschen und der Gesellschaft verpflichtet, der Ermöglichung eines Zusammenlebens frei von Elend und Unwissenheit [7], wobei er – äußerst vielsagend – als Beispiel die Wichtigkeit der wissenschaftlichen Untersuchung "ursprünglicher Rechtsinstitutionen" anführt. [8] Auch für Comte bestand der Beweggrund, ein "Naturgesetz der Entwicklung" bestimmen zu wollen, bekanntlich keineswegs in einem rein (natur-)wissenschaftlichen Interesse; vielmehr sollte durch das "zur Geltung kommen [...] wirkliche[r] Gesetze" auch und gerade in Politik und Gesetzgebung die Willkürherrschaft definitiv ausgeschlossen werden. Alles wäre dann "nach einem wahrhaft souveränen Gesetz festgelegt", dem niemand sich entziehen könnte. [9] Die neue Wissenschaft, die sich dem "Studium der kollektiven Entwicklung des Menschengeschlechtes" widmen sollte, war die "soziale Physik", später Soziologie genannt. [10] Comte wies dieser Wissenschaft indes keineswegs bloß die Aufgabe der Feststellung von Wirkungszusammenhängen zu, "d.h. zu entdecken, durch welche nothwendige Verkettung allmählicher Umgestaltungen das menschliche Geschlecht [...] auf den Punkt gekommen ist, worauf es sich gegenwärtig im civilisirten Europa befindet". [11] Die Intention der Soziologie sollte vielmehr vor allem darin bestehen, "in dem gründlichen Studium der Vergangenheit die wahre Erklärung der Gegenwart und die allgemeine Offenbarung der Zukunft [zu] erblick[en], auf diese Weise letztlich nichts Geringeres bestimmend als den "positive[n] Ausgangspunkt für die Arbeit des Staatsmanns". [12] Und in demselben Sinne betont wiederum Ratzenhofer, dass "durch den Positivismus ein gründlicher Umschwung aller Wissenschaft herbeigeführt wird" und auch die Soziologie als Lehre "des Gesetzmäßigen in den menschlichen Wechselbeziehungen" "sich nicht mehr mit dem Einblicke in die Dinge [begnügt], mit der Erforschung des Bestehenden und Vergangenen, [sondern] vielmehr Einsicht und Rückschau in den Dienst des Vorausblickes [der Bedürfnisse der Menschen; PUMB] stellen [will]". [13] Die "gemeinnützige Wirksamkeit" der soziologischen Forschungsergebnisse kann jedoch – wie Ratzenhofer später, in seinem postum erschienen Werk Soziologie feststellt – "nur mit den Mitteln der staatlichen Zwangsgewalt entfaltet werden. Aller Fortschritt" – und das muss heißen: aller zivilisatorische Fortschritt – "geht durch den Staat". [14]
- [1] Ratzenhofer 1898: 1 u. 107f
- [2] Comte 1973: 139; Ratzenhofer 1907: 2; Tönnies 1929 [1908]: 348
- [3] Comte 1907 I: 343ff., bes. 347; vgl. zudem Comte 1907 I: 5. u. 6. Kapitel; Ratzenhofer 1907: 2
- [4] Ratzenhofer 1898: 5ff.; Hervorh. v. mir; PUMB. Auf geradezu exemplarische Weise missverstanden wird der Soziologiebegriff Ratzenhofers von Harry Elmer Barnes. Dieser stellt in seinem – zumal was die Entwicklung der amerikanischen Soziologie angeht – einflussreichen Werk Soziologie und Staatstheorie Ratzenhofer in eine Reihe mit – unter anderen – Herbert Spencer, Albert Schäffle, Ludwig Stein, Paul Barth, Ferdinand Tönnies, René Worms und Albion Small, die alle die Ansicht verträten – mit geringfügigen Abweichungen –, dass "die Soziologie eine philosophische Synthese der speziellen Sozialwissenschaften sei, deren Ergebnisse sie zu einer ›zusammenhängenden Sozialphilosophie‹ ordnet". Und er führt dazu als Beleg Stellen aus Ratzenhofers Die Sociologische Erkenntnis sowie Soziologie an (Barnes 1927: 17f.; Ratzenhofer 1898: 6; Ratzenhofer 1907: 2f.). Was Ratzenhofer dort hinsichtlich der Soziologie festhält, stützt die Aussage von Barnes indes in keiner Weise, ja steht zu dieser vielmehr in einem klaren Widerspruch. Im ersten Fall – die angeführte Stelle aus Die Sociologische Erkenntnis betreffend – geht es Ratzenhofer ausschließlich um die "Soziologie als soziologische Erkenntnis", welche "als Theil der Philosophie" gerade "nicht ein vollendeter Aufbau von Erkenntnissen sein kann, weil erst auf ihrer Grundlage die geregelte Erforschung socialer Beziehungen erstehen wird" (Hervorh. v. mir; PUMB). Mit einem Wort: Das Philosophische an der soziologischen Erkenntnis besteht mitnichten darin, die vorliegenden Ergebnisse der speziellen Sozialwissenschaften zu integrieren oder gar zu synthetisieren. Im zweiten Fall – die angeführte Stelle aus Soziologie betreffend – istzwar die Rede davon, die Soziologie, d.h. die Soziologie als Wissenschaft, nicht "die
›soziologische Erkenntnis‹", die "im Rahmen der Philosophie [bleibt]", sei "nicht berufen, die zahlreichen Einzelheiten des sozialen Lebens zu erforschen, sondern sie [habe] die bezüglichen Forschungsresultate zur Gewinnung eines einheitlichen Überblicks und zur Erkenntnis der einheitlichen Gesetzlichkeit aller sozialen Erscheinungen zu verarbeiten". Mit ›Verarbeiten‹ ist hier aber wiederum keine Synthese von Forschungsergebnissen gemeint, sondern die Konstruktion der Gesetze der "menschlichen Wechselbeziehungen" aus Forschungsergebnissen als ihren Elementen, bei gleichzeitiger Verarbeitung von "biologischen und psychologischen [und sogar anorganischen; PUMB] Elementen des sozialen Lebens". Für Ratzenhofer ist klar: Die Soziologie "setzt als Wissenschaft der menschlichen Wechselbeziehungen die Grundzüge der sozialen Entwicklung fest, um auf diese gestützt Lehren zu gewinnen [Lehren, nunmehr festgehalten in den Sozialwissenschaften als Einzelwissenschaften; PUMB], wie die sozialen Erscheinungen im zivilisatorischen Sinne beherrscht werden können". Die offenkundig irrige Auffassung, wonach für Ratzenhofer das Ziel der Soziologie in "einer Synthese der Forschungsergebnisse der Wirtschaftswissenschaften, der Politologie und des Wohlfahrtswesens in einem Reformprogramm" bestehe, vertritt im weiteren auch William M. Johnston in seinem Werk Österreichische Kulturund Geistesgeschichte (Johnston 1974: 328: Hervorh. v. mir; PUMB). Von dieser Kritik ausgenommen ist dagegen Florian Oberhubers Feststellung betreffs Ratzenhofers "metaphysische[s] Konzept einer künftigen Synthese aller Wissenschaften" (Oberhuber 2001: 21; Hervorh. v. mir; PUMB). Tatsächlich entsprechen die Begründungsansprüche, die Ratzenhofer mit seinem positiven Monismus verbindet, nämlich sichtbar gemacht zu haben, dass "die Einheit von Natur und ›Geist‹ auf einem gemeinsamen [physikalischen; PUMB] Princip aller Erscheinungen beruht", durchaus denjenigen einer Metaphysik (dieser Zitatteil aus Ratzenhofers Der positive Monismus und das einheitliche Princip aller Erscheinungen wird auch von Oberhuber verwendet). Auf diesen Punkt wird noch zurückzukommen sein
- [5] Hier bezieht er sich selbstverständlich auf "Comte's bekanntes ›Gesetz der Stadien‹" (Ratzenhofer 1898: 13).
- [6] Ratzenhofer 1898: 15
- [7] Ratzenhofer 1898: 16f. Hier verwendet er als Teil seines Argumentationsgangs ein Zitat aus Thomas H. Huxley, On the physical basis of life (London 1882), allerdings ohne Stellenangabe. Vgl. zudem Stagl 1997: 83
- [8] Ratzenhofer 1898: 17. Dem entspricht wiederum, dass erst durch die "durch die sociologische Erkenntnis erweiterte Philosophie […] die Rechtsphilosophie, die Staatswissenschaft, die Volkswirtschaftslehre tatsächlich Wissenschaften zu werden [vermögen]" (Ratzenhofer 1898: 7).
- [9] Comte 1973: 110; Hervorh. v. mir; PUMB. Wesentliche Einsichten in das Werk Comtes verdanke ich Gerhard Wagner
- [10] Comte 1973: 139
- [11] Comte 1975 [1825]: 248f
- [12] Comte 1975 [1825]: 249
- [13] Ratzenhofer 1898: 17, 18 u. 19. Dieser "durch den Positivismus [herbeigeführte] gründliche Umschwung aller Wissenschaft" bezieht sich explizit auch auf die "Ethik als Wissenschaft". Wer – wie Ratzenhofer in Positive Ethik von 1901 argumentiert – konsequent positivistisch denkt, der steht – anders als etwa Immanuel Kant – "einer glücklichen Auffassung des ethischen Problems" nicht länger "fremd" gegenüber. Das Sollen aus dem Sein "herausglauben" zu wollen, kann nicht mehr sein Ziel sein, geht es für ihn – so könnte man anfügen – doch nunmehr darum, das Sollen aus dem Sein herauszuwissen bzw. die Gewinnung eines solchen Wissens möglich zu machen (Ratzenhofer 1901: 9). Die "Ideale [des] moderne[n] wirtschaftliche[n] und staatliche[n] Leben[s] [...]" – so schreibt Ratzenhofer in einem seiner Briefe an Gumplowicz – "müssen von der Soziologie und der naturwissenschaftlichen Ethik kommen". Es gilt unabdingbar das "Dreistadiengesetz Comtes". "Nach dem Sturz des metaphysischen Zeitgeistes tritt der Mensch nicht in die theologische Stufe zurück, sondern in eine dritte, die positivistische Stufe ein." Und "wenn erst das soziologische Denken die Gebildeten beherrscht, wenn die Ethik nicht die Vervollkommnung des Individuums, sondern das Gedeihen des gesellschaftlichen Körpers als das höchste Gut erklärt haben wird, dann wird der Positivismus seine Früchte tragen" (zitiert nach Lohberger 1964: 183). Der Begriff des Körpers besitzt für Ratzenhofer dabei lediglich einen metaphorischen Sinn, wie etwa aus der Analogie von Individuen im Sozialgebilde und Zellen im Organismus ersichtlich wird (vgl. Ratzenhofer 1898: 115f.; sowie zum Begriff der Gesellschaft als sozialer Körper Merz-Benz/Wagner 2007). Organizistisches Denken ist Ratzenhofer deshalb fremd
- [14] Ratzenhofer 1907: 96; Hervorh. v. mir; PUMB. Dies erklärt auch, weshalb Ratzenhofer die "Politik", näherhin die (Spezial-)Wissenschaft des politischen Geschehens, als die "wesentlichste Äußerung" – nicht Verkörperung – der "Wissenschaften von den menschlichen Wechselbeziehungen" ansieht. "Was für die materiellen Kräfte die Mechanik ist, das ist für die socialen Kräfte die Lehre von der Politik" (Ratzenhofer 1898: 6). Denn – wie es in Ratzenhofers erstem großen Werk Wesen und Zweck der Politik heißt – ist Politik der Begriff oder, besser, Inbegriff des "geistige[n] und moralische[n] Proceß[es], welcher in jedem Menschen bei den praktischen Fragen des Lebens zum Entschlusse und weiter zur That führt" (Ratzenhofer 1893: 28). In der Politik und durch diese werden die sozialen Kräfte, das Wissen um ihre Gesetzmäßigkeiten nutzend, in Gang und zur Wirkung gebracht. Insofern erscheint bei Ratzenhofer – wie Ratzenhofer jun. in der von ihm verfassten Biographie seines Vaters betont – Politik tatsächlich "als eine lehrbare Kunst, deren Regeln die erfolgreichen Staatsmänner bisher", weil noch nicht über das erforderliche Wissen um die Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Wechselbeziehungen verfügend, lediglich "instinktiv befolgten" (zitiert nach Lohberger 1964: 186). Das "Feld der Politik" ist das "actuelle, unabhängige und öffentliche Leben der Gesellschafts-Individualitäten aller Art" (Ratzenhofer 1898: 29), und es ist der Staat – und an dessen Spitze der Staatsmann –, der "den Interessenkampf, gestützt auf ein Herrschaftsverhältnis, auf die Bahn des positiven Rechts zu verweisen [sucht]" (Ratzenhofer 1893: 159). Selbstverständlich sind auf dem Feld der Politik auch "Staatsindividualitäten" aktiv, welche ihrerseits Gegenstand von Neuund Umgestaltungen sind und sogar der Zerstörung anheim fallen können, doch ist es nichtsdestotrotz einzig die Instanz "Staat", welche den Eigennutz, das Individualinteresse in den "Nutzen einer Gemeinschaft" überzuführen oder, besser noch, zu übersetzen vermag. Politik ist ein fortdauernder Prozess der Steigerung des ziviliatorischen Fortschritts, bestehend im Kampf der Staatsindividualitäten um die bestmögliche Durchsetzung des "Collectiv-Eigennutzes" – ein Kampf, der indes von Rückschlägen keineswegs frei ist und dessen Verlauf oft von Zufälligkeiten bestimmt wird. – Die Charakterisierung, Ratzenhofer habe die Soziologie zur Politologie und mithin "zum Arzt des Körpers ›Gesellschaft‹" machen wollen, ist daher unzutreffend (Johnston 1974: 328). Anders als etwa Albert Schäffle oder Paul von Lilienfeld ist Ratzenhofer bezeichnenderweise auch kein Organizist. Zu Ratzenhofers Verständnis des politischen Denkens vgl. zudem Oberhuber 2001: 20, bes. Anm. 68.
Dass – einen kleinen Vorblick wagend – Tönnies Ratzenhofers Begriff der Politik mit schierem Unverständnis begegnet (Tönnies 1929 [1902]: 324), ist offenkundig zu einem Großteil in seiner Unkenntnis betreffend Ratzenhofers Orientierung an Comte begründet. Lediglich in seiner Rezension von Ratzenhofers Soziologie ist pauschal davon die Rede, dieser sei in seinem Bemühen um die Soziologie "durch Comte und stärker durch Gumplowiz angeregt" worden (Tönnies 1929 [1908]: 348).