Die unterschiedlichen Fassungen des Verhältnisses von Soziologie und Biologie – als erstes wiederum ein Blick auf Comte

Worum es Ratzenhofer besonders zu tun ist, ist naheliegender Weise der "Zusammenhang biologischer Einsicht und sociologischer" [1] oder, das Entscheidende herausstellend, die wissenschaftliche Einsicht, wie sie sich hervorbildet im Übergang vom vorletzten zum letzten Element im System der Wissenschaften, ja wie sie durch diesen Übergang überhaupt erst möglich wird. Es handelt sich um die Einsicht, "dass in der biologischen Entwicklung des Menschen wirklich jene Faktoren geschaffen werden, welche seine Stellung in der Gesellschaft nicht bloß bestimmen, sondern ihn auch selbst zum Produkt socialer Lebensäußerungen machen". [1] Die "Entwicklungsreihe der organischen Welt" mündet im "Intellect", welcher einerseits nicht mehr als eine (Aus-)Differenzierung und insofern Individualisierung des "concreten Bewusstseinsorganismus" darstellt, andererseits aber doch Träger eines "subjectiven Interesses" [3] ist. Subjektiv ist dieses Interesse indes bloß seiner Erscheinung nach, d.h. insoweit, als der Intellekt darauf aus ist, die von ihm konstatierten "Lebensbedingungen auszunützen" zu seiner Vervollkommnung. Als solches ist diese Interesse dagegen eine Erscheinungsform des "angeborenen Interesses" und mithin ein Garant für dessen "Continuität". [4] Was Ratzenhofer die psychologische Grundlage der Soziologie nennt, geht daher zurück auf physiologische Prozesse im Bewusstsein, und diese wiederum, als von biologischer Art, weisen zurück auf physiologische Prozesse überhaupt; und was immer uns an "lebenden Geschöpfen" begegnet, sämtlich handelt es sich um "Emanationen der Urkraft", mitsamt dem ihnen "anhaftenden Interesse an der dazugehörigen Entwicklung". [5] Selbst noch "die Socialgebilde, welche auf Grund jener im Menschen wirkenden Factoren entstehen [der Faktoren, die ihn zum Produkt sozialer Lebensäußerungen machen; PUMB], [sind] in ihrer Gesammt-Lebensäußerung [demnach] keinen anderen Gesetzen unterworfen [...] als das Leben des einzelnen Individuums, weil die socialen Erscheinungen ebenso Entwicklungsformen der biologischen Wesenheit sind wie z. B. die physiologischen Erscheinungen Entwicklungsformen des Chemismus". [1]

Die "Unterordnung der Sozialwissenschaft [der Soziologie; PUMB] unter die Biologie" ist zwar auch für Comte – wie er unmissverständlich festhält – "unzweifelhaft" [7], nur besitzt das Verhältnis von Soziologie und Biologie, ja das Verhältnis der Soziologie zu den übrigen Wissenschaften insgesamt, bei ihm eine ganz andere Fassung als bei Ratzenhofer. Comte geht von der "Erkenntniss" aus, "dass die soziale Bewegung durch natürliche Gesetze geregelt wird" [8] und dies sowohl für "die statischen Gesetze des sozialen Organismus" [9], die "Ordnung" des "sozialen Systems" [10], als auch für die dynamischen Gesetze, die "Gesetze [der] sozialen Entwickelung" und mithin des gesellschaftlichen "Fortschritts" [11] gilt. Indes sind die sozialen Vorgänge "verwickelter" als die biologischen, was wiederum in den "Erwägungen" der Soziologie seinen Ausdruck finden muss und dementsprechend die Ausarbeitung eines für das Studium dieses neuen Gegenstandsgebiets geeigneten wissenschaftlichen "Werkzeugs" erfordert. [12] – Das wohl prominenteste Beispiel hierfür ist die Bestimmung der sozialen Ordnung. "Der Begriff von natürlichen Gesetzen" – so schreibt Comte – "führt zur Vorstellung einer Ordnung, die sich von selbst einstellt und an die eine Vorstellung von irgend welcher Harmonie sich anknüpft [...]". [13] Auch in den Beziehungen "aller Vorgänge zu dem Menschen", zuvorderst selbstverständlich der natürlichen, "[findet] sich" daher "eine gewisse Ordnung [ein]", nur erweist sich diese Ordnung im Falle der "sozialen Zustände" zusehends als "unvollkommen", sprich: für die natürlichen Gesetze unerreichbar, und daher für den Betrachter äußerst verwirrlich. [14]

Der Grund für diese "steigende Verwickelung" der sozialen Zustände steht fest: die "menschliche Dazwischenkunft" in der Gesamtheit der wirklichen Vorgänge. [15] Denn mit dem Wirken der Menschen kommt es zu "geistigen und moralischen" Vorgängen, bei deren Studium die "Unvollkommenheit der Biologie, besonders in ihrem transcendenten Theile" offenkundig wird. [16] Hier bedarf es nunmehr einer Wissenschaft, welche "die sozialen Zustände als solche darlegt [präziser: darlegt als diejenigen Zustände des wirklichen Geschehens; PUMB], welche am meisten modifizirbar sind" [17] und gleichzeitig die Gesetze dieser Zustände ermittelt, die spezifisch sozialen Gesetze, wobei diese Gesetze wiederum nichts anderes sind als Übertragungen der natürlichen Gesetze in einen besonderen Wirklichkeitsbereich, natürliche Gesetze, gleichsam aus-formuliert im Hinblick auf die Gegebenheiten sozialer Vorgänge. [18] Die Notwendigkeit der neuen Wissenschaft Soziologie ergibt sich für Comte demnach nicht aus qualitativen Unterschieden zwischen den Gegenstandsbereichen der natürlichen und der sozialen Vorgänge. Vielmehr ist es so, dass mit den sozialen Zuständen Wirklichkeitszustände auftreten, die einen in der Entwicklung der Wirklichkeit bisher nicht erreichten Grad an "Verwickelung" und Modifizierbarkeit aufweisen und die dementsprechend durch die vorhandenen natürlichen Gesetze nicht mehr kontrolliert zu werden vermögen. Bliebe es dabei, gerieten die sozialen Zustände, die Möglichkeiten, Ordnungsverhältnisse einzurichten, zu einem Objekt der Willkür. Verhindert wird dies einzig durch die Kenntnis der spezifisch sozialen Gesetze, und zu deren Feststellung bedarf es einer besonderen Wissenschaft. Ein "politisches Regiment" zu errichten, Ordnung in die sozialen Beziehungen zu bringen und diese Ordnung auch zu erhalten, ist ohne die Kenntnis der sozialen Gesetze nicht möglich – ein erneuter Hinweis auf Comtes Verständnis wissenschaftlicher Erkenntnis als "positive[n] Ausgangspunkt für die Arbeit des Staatsmannes". [19] "Der Begriff der sozialen Harmonie gewährt die Grundlage für die Lehre einer politischen, sowohl geistlichen wie weltlichen Ordnung, denn sie zeigt die künstliche und freiwillige Ordnung nur als eine einfache Verlängerung der natürlichen und unwillkürlichen Ordnung, nach welcher alle die verschiedenen Gesellschaften ohne Unterlass hinstreben." [20] Selbstverständlich erfordert die Schaffung jeder politischer Einrichtung auch die Kenntnis der "freiwilligen Bestrebungen", der selbstbestimmten Tätigkeit(en) der Menschen, denn nur "diese können ihrer Geltung [der Geltung der betreffenden politischen Einrichtung; PUMB] feste Wurzeln gewähren". [21] Nicht aber ist diese Kenntnis die Grundlage für die "Vervollkommnung" einer politischen Einrichtung; dazu bedarf es vielmehr der Kenntnis der sozialen Gesetze und deren Grundlage in Gestalt der natürlichen Gesetze. Fest steht jedoch auch: Zustände für die Vervollkommnung einer politischen Einrichtung können durch die Soziologie zwar untersucht werden, "aber man soll sie nimmer erzeugen wollen, denn dies ist unmöglich". [15]

Zusammenfassend heißt es: "Die sozialen Untersuchungen müssen von der Biologie ausgehen, nachdem zuvor die Fähigkeit der Menschheit zur Gesellschaftsbildung und verschiedene organische Bedingungen geprüft worden sind, welche ihren Charakter bestimmen." [23] Und mithin sind die Gesetze des sozialen Lebens für Comte nichts anderes als komplexere Auftretensformen der Gesetzlichkeiten der organischen Welt und in letzter Konsequenz – aufs Ganze der wirklichen Vorgänge gesehen – besondere Auftretensformen des Drei-StadienGesetzes. Gesetze sind "Werkzeuge", mittels derer der "menschliche Geist" die wirklichen Vorgänge, näherhin die Entwicklung, wie sie über die einzelnen Wirklichkeitssphären hinweg vom Allgemeinen zum Besonderen führt, für sich durchschaubar zu machen sucht – immer mehr von dem, was einst als Ausfluss einer übernatürlichen Macht galt, in die Zuständigkeit der ratio überweisend. Emanatismus, die Bestimmung sowie die begriffliche Bestimmung von Tatsachen als Hervorbildungen einer hinter den Dingen und Vorgängen wirkenden, ja diese aus sich hervortreibenden Urkraft, hat in diesem Denken keinen Platz.

  • [1] Ratzenhofer 1898: 108
  • [2] Ratzenhofer 1898: 108
  • [3] Ratzenhofer 1898: 28
  • [4] Ratzenhofer 1898: 29ff., 44ff
  • [5] Ratzenhofer 1898: 24 u. 28; Hervorh. weggelassen; PUMB
  • [6] Ratzenhofer 1898: 108
  • [7] Comte 1883 II: 95.
  • [8] Comte 1883 II: 61
  • [9] Comte 1883 II: 63
  • [10] Comte 1883 II: 71 u. 63
  • [11] Comte 1883 II: 70f
  • [12] Vgl. Comte 1883 II: 64, 71, 76, 80 u. 84. Dieselbe Argumentation verfolgt im Prinzip auch Emile Durkheim in seinem Bestreben, "eine soziologische Erkenntnistheorie zu interpretieren" (Durkheim 1981c: 40).
  • [13] Comte 1883 II: 66f
  • [14] Comte 1883 II: 66
  • [15] Comte 1883 II: 67
  • [16] Comte 1883 II: 94
  • [17] Comte 1883 II: 67; vgl. auch Comte 1883 II: 60
  • [18] Vollkommen zu Recht hält wiederum Durkheim fest, Comte habe die Gesellschaft zwar als "ein Sein ›sui generis‹" verstanden, aufgrund seiner Ablehnung der "Philosophie der Abstammung" aber "zwischen den Arten der Lebenwesen wie zwischen jeder Art von Wissenschaft eine Unterbrechung der Kontinuität [angenommen]". Gesetze, die es erlaubt hätten, die "Gesellschaft [als] Fortsetzung und Verlängerung von niederen Seinsweisen" zu begreifen, konnte es für Comte aus bereits bekannten Gründen nicht geben. Und die Konsequenzen liegen für Durkheim auf der Hand: "Um seinen Prinzipien treu zu bleiben, war er [Comte] gezwungen, gelten zu lassen, daß dieses neue Reich [das Reich der Gesellschaft; PUMB] den vorhergehenden nicht ähneln konnte; und weil er die Sozialwissenschaft vollständig mit der Biologie verglich, forderte er für erstere eine spezielle Methode, die von denen der anderen echten Wissenschaften verschieden sein sollte. Die Soziologie fand sich damit eher an die übrigen Wissenschaften angehängt als dort integriert zu sein" (Durkheim 1981a [1888]: 36f.).
  • [19] Comte 1975 [1825]: 249
  • [20] Comte 1883 II: 67f.; vgl. auch Comte 1883 II: 61f
  • [21] Comte 1883 II: 67.
  • [22] Comte 1883 II: 67
  • [23] Comte 1883 II: 95. Prüfungen dieser Art finden sich insbesondere im 5. u. 6. Kapitel von Comtes Soziologie. Um nur ein Beispiel zu nennen: "Galls Gehirntheorie", eine – nach dem Urteil von Comte – äußerst "wertvolle biologische Analyse", "hat nicht allein wissenschaftlich den unwiderstehlichen sozialen Hang der Menschennatur festgestellt, sie hat sogar die falschen Werturteile zerstört, die systematisch dazu geführt hatten, ihn zu verkennen, und hauptsächlich darin bestanden, einerseits den intellektuellen Kombinationen in der allgemeinen Führung des menschlichen Lebens ein chi märisches Übergewicht beizulegen, während man andererseits den absoluten Einfluß der Bedürfnisse auf die angebliche Erschaffung der Fähigkeiten bis zur Lächerlichkeit übertrieb" (Comte 1907 I: 393).
 
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