Die Effekte der Situation auf prosoziales Verhalten

Prosoziales Verhalten bezeichnet eine intentionale und freiwillige Handlung, die potenziell bzw. tatsächlich einem Empfänger bzw. einer Empfängerin zugutekommt. Ziel von prosozialem Verhalten kann sein

n einer anderen Person Nutzen zu bringen (altruistische Motivation)

FH selbst Nutzen daraus zu ziehen (egoistische Motivation) oder

Ql beides zu erreichen.

Gemischte Motivation (3) scheint gegenüber einseitiger Motivation (1 und 2) zu überwiegen.

Das Forschungsprogramm zum prosozialen Verhalten ist in Teilen mit einer Tragödie assoziiert. Im März 1964 berichtete die New York Times, dass 38 ehrbare, gesetzestreue Bürgerinnen und Bürger von Queens den Mord an Kitty Genovese gesehen hatten. Einem Buch zufolge, das die Geschichte weiter ausweidete, hatten die Bürgerinnen und Bürger aus der sicheren Entfernung ihrer Wohnungen mehr als eine halbe Stunde lang zugesehen, wie ein Mörder in drei Angriffen mit einem Messer auf Genovese einstach (Rosenthal, 1964). Diese Berichte legten dar, dass nur eine Zeugin die Polizei rief, als die Frau schon tot war. Neueren Erkenntnissen zufolge entsprachen diese Berichte teilweise nicht den Tatsachen (Manning et al., 2007). Zum Beispiel legen Polizeiberichte nahe, dass weitaus weniger als 38 Menschen die Ereignisse gesehen hatten und dass es den Zeuginnen und Zeugen nahezu unmöglich war, die Tat in voller Länge zu verfolgen. Die Polizei wurde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nach der ersten Attacke alarmiert. Schließlich war Genovese noch am Leben, als die Einsatzkräfte eintrafen.

Diese weitreichenden Ungenauigkeiten ändern nichts an den Auswirkungen des ersten Zeitungsberichtes. Der Zeitungsbericht über den Mord an Kitty Genovese schockierte ein Land, das nicht wahrhaben wollte, dass verantwortungsbewusste Bürgerinnen und Bürger derart apathisch und kaltherzig sein konnten. Nachrichten liefern nach wie vor auch weniger umstrittene Beispiele für Fälle, in denen Anwesende ein Eingreifen unterließen. 2009 sahen Passanten und Passantinnen beispielsweise zu, wie ein deutscher Geschäftsmann von zwei Teenagern umgebracht wurde (Fischer et al., 2011), [n Re^. tion auf derartige Beiträge stellt sich aus sozialpsychologischer Sicht die Frage, ob es fair ist, diese Beteiligten als „apathisch“ oder „kaltherzig" abzustempeln? Oder lässt sich ihre Untätigkeit im Rahmen situativer Kräfte erklären?

Um Argumente für situative Kräfte zu liefern führten Bibb Latane und John Darley (1970) ejne klassische Reihe von Untersuchungen durch. Sie wollten belegen, dass das Eingreifen Umstehender (Bystander) - also die Bereitschaft, Fremden in Not zu helfen - stark von den genauen Eigenschaften einer Situation abhängt. Sie haben ein glänzendes Laborexperiment geschaffen, das der Situation zum Eingreifen Umstehender entspricht.

Aus der Forschung

Die Teilnehmer waren männliche Studierende. Sie saßen allein in einem Zimmer mit einer Gegensprechanlage und ihnen wurde glauben gemacht, dass sie mit einem oder mehreren Studierenden in einem angrenzenden Zimmer kommunizierten. Während einer Diskussion über persönliche Probleme hörte der Versuchsteilnehmer etwas, das klang, als hätte einer der anderen Studierenden einen epileptischen Anfall und würde, nach Luft schnappend, um Hilfe rufen. Während des „Anfalls" war es für die Versuchsperson nicht möglich, mit den anderen Studierenden zu sprechen oder herauszufinden, was diese, wenn überhaupt, bei diesem Notfall unternehmen würden. Eine abhängige Variable war die Geschwindigkeit, mit welcher die Versuchsperson dem Versuchsleiter den Notfall meldete.

Es stellte sich heraus, dass die Wahrscheinlichkeit des Eingreifens von der Anzahl der vermeintlich Beteiligten abhing. Je mehr Menschen vermeintlich anwesend waren, desto später wurde der Anfall gemeldet, falls überhaupt. Wie Sie ► Abbildung 15.8 entnehmen können, griff jeder in einer Zwei-Personen-Situation innerhalb von 160 Sekunden ein, aber nahezu 40 Prozent derjenigen, die sich als Teil einer größeren Gruppe wähnten, verständigten den Versuchsleiter überhaupt nicht, dass ein anderer Studierender ernsthafte Schwierigkeiten hatte.

Das Eingreifen von Umstehenden in einer Notfallsituation

Abbildung 15.8: Das Eingreifen von Umstehenden in einer Notfallsituation (nach (Darley & Latane, 1968). Je mehr Menschen anwesend sind, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass ein Umstehender eingreift. Umstehende handeln am schnellsten in Gruppen mit zwei Personen.

Dieses Ergebnis basiert auf einer Verantwortungs-diffusion Wenn mehr als eine Person in einer Notfallsituation helfen könnte, dann gehen Menschen oft davon aus, dass eine andere Person helfen wird oder helfen sollte - daher halten sie sich zurück und lassen sich nicht involvieren.

Weiterhin versuchte man herauszufinden, welche Merkmale der Situation sich darauf auswirken, ob Umstehende eingreifen oder nicht. Eine wichtige Variable ist dabei die Ernsthaftigkeit des Notfalls: Die Anwesenheit anderer Zeuginnen und Zeugen wirkt sich in gefährlichen Situationen weitaus weniger aus (Fischer et al., 2011). In einer Studie dachten Versuchspersonen, sie würden eine tatsächliche Interaktion zwischen einem Mann und einer Frau beobachten, in welcher der Mann anfing, die Frau zu bedrohen (Fischer et al., 2006). In der niedrige physische Gefahr-Bedingung war der Mann dünn und nicht sehr furchteinflößend; in der hohe physische Ge/ahr-Bedingung war er groß und einschüchternd. Bei einer niedrigen physischen Bedrohung halfen Versuchspersonen der Frau in 50 Prozent der Fälle, wenn sie allein waren, aber nur in 6 Prozent, wenn es eine zweite anwesende Person gab. War die Gefahr groß, intervenierten Versuchspersonen zu 44 Prozent, wenn sie allein waren, aber auch zu 40 Prozent, wenn es eine zweite anwesende Person gab. Freilich wäre es wünschenswert gewesen. dass Versuchspersonen der Frau häufiger zu Hilfe geeilt wären! Nichtsdestotrotz macht diese Studie Hoffnung, dass Umstehende helfen werden, wenn Menschen wirklich darauf angewiesen sind.

Wie genau der Notfall sich darstellt, ist ebenfalls entscheidend, denn wenn der Notfall offensichtlich ist, dürfte es Augenzeuginnen und Augenzeugen schwerer fallen, sich abzuwenden. In vielen Alltagssituationen hingegen, wenn die Menschen ihren eigenen Angelegenheiten nachgehen - sie sind beispielsweise auf dem Weg zur Arbeit oder zu einer Verabredung -, bemerken sie möglicherweise nicht, dass eine Situation eingetreten ist, in der sie Hilfe leisten könnten. In einem ideenreichen Experiment dachten Studierende des Priesterseminars von Princeton, dass ihre Predigten beurteilt werden sollten, von welchen eine die Parabel des guten Samariters behandelte - einer Gestalt aus dem Neuen Testament, die sich die Zeit nimmt, um einem verletzt am Straßenrand liegenden Mann zu helfen (Darley & Batson, 1973). Als jeder einzelne Seminarist die Gasse zwischen zwei Gebäuden entlangging, traf er auf einen Mann, der in einem Eingang zusammengekauert lag und dabei hustete und stöhnte. Von den Seminaristen, denen man glauben gemacht hatte, sie seien spät dran für ihre Predigt, halfen nur 10 Prozent. Wenn sie pünktlich waren, halfen 45 Prozent dem Fremden. Die meiste Unterstützung ging von Seminaristen aus, die noch Zeit vor ihrer Predigt hatten - 63 Prozent dieser Seminaristen verhielten sich wie ein guter Samariter. Wieder einmal sehen Sie, wie Aspekte der Situation das Verhalten von Menschen erklären.

Wie sollten Sie sich diesen Erkenntnissen nach verhalten, wenn Sie selbst sich in einer Notlage befinden? Sie sollten die Aufmerksamkeit der Umstehenden wecken und sie mit allen Mitteln dazu bewogen. sich verantwortlich zu fühlen. Dazu sollten Sie direkt auf jemanden zeigen und sagen „Sie da! Ich brauche Ihre Hilfe“. In einer klassischen Studie sahen New Yorker und New Yorkerinnen, wie ein Dieb den Koffer einer Frau in einem Schnellrestaurant stahl, als sie ihren Tisch für einige Minuten verließ (Moriarty, 1975). Das zukünftige Opfer des Diebstahls (von der Versuchsleitung eingeweihte Person) fragte zukünftige Beobachtende des Verbrechens entweder „Haben Sie die Zeit?" oder „Könnten Sie bitte auf meine Tasche (Radio) aufpassen, während ich weg bin?“. Im Gegensatz zur zweiten Interaktion rief die erste kein persönliches Verantwortungsgefühl hervor und die Umstehenden verharrten untätig, als sich die Diebstähle ereigneten. Hatten sie sich jedoch mit der Bewachung des Eigentums des späteren Opfers einverstanden erklärt, dann griffen sie nahezu immer ein. Sie riefen um Hilfe und manche überwältigten sogar den flüchtigen Dieb am Strand. Diese Experimente legen nahe, dass das Bitten um einen konkreten Gefallen ein besonderes menschliches Band schmiedet, wodurch Menschen so eingebunden werden. dass die Situation substanziell verändert wird

KRITISCHES DENKEN IM ALLTAG Wie gewinnt man Freiwillige?

Nehmen wir an. Sie werden Chef bzw. Chefin einer Organisation. Sehr wahrscheinlich werden Sie Freiwillige anwerben wollen, um der Organisation bei ihrer Arbeit zu helfen. Dabei ist es sicherlich hilfreich, zu verstehen, warum Menschen freiwillige Dienste leisten und was ihr Interesse an dieser Arbeit aufrechterhält.

Beginnen wir mit der Frage, warum sich Menschen freiwillig für etwas melden. Es wurden mehrere Motive ausgemacht, die Menschen bewegen, sich an etwas zu beteiligen (Mannino et al., 2011; Omoto & Snyder. 2002). So melden sich Menschen zum Beispiel freiwillig, um persönliche Wertvorstellungen im Hinblick auf Altruismus auszudrücken, um ihre Erfahrungen zu erweitern und um soziale Beziehungen zu stärken. Wenn die angebotenen Stellen solche Bedürfnisse nicht abdecken, wird sich vielleicht niemand melden. Um Freiwillige anzuwerben, müssen Sie also die Motive der Menschen verstehen, deren Interesse Sie wecken wollen.

Was bewegt Menschen, die sich freiwillig gemeldet haben, diese Stellen dauerhaft auszuüben? Um diese Frage zu beantworten, führte man mehrere Längsschnittstudien durch, in denen Freiwillige über längere Zeit beobachtet wurden. So folgte eine Studie 238 Freiwilligen in Florida ein Jahr lang (Davis et al., 2003). Die betreffenden Freiwilligen arbeiteten in Institutionen wie der St. Petersburg Free Clinic und dem Center Against Spouse Abuse. Einer der wichtigsten Faktoren, der die Befriedigung bestimmte, die sie in diesen Tätigkeiten erfuhren, war die Menge an erfahrenen stressbedingten Beeinträchtigungen (Distress). Obwohl Sie das vielleicht nicht überrascht, folgt daraus ein wichtiger praktischer Ratschlag. Es ist wichtig auf „Trainingsmethoden zu achten, die Freiwillige auf Stresssituationen vorbereiten oder ihnen Strategien der Stressbewältigung an die Hand geben“ (S. 259).

Eine weitere Studie mit 302 Freiwilligen eines Hospizes im Südosten der Vereinigten Staaten konzentrierte sich auf individuelle Unterschiede im Ausmaß, in dem Menschen freiwillige Arbeit als wichtige soziale Rolle sehen (Finkelstein et al., 2005). Diese Studie ging der Hypothese nach, dass diejenigen Freiwilligen, für die diese Tätigkeit am meisten Teil ihrer persönlichen Identität war, auch am ehesten dabeibleiben würden. Die Teilnehmenden gaben die Wichtigkeit der sozialen Rolle für sie an, indem sie auf Aussagen wie „Freiwilligenarbeit für Hospize ist ein wichtiger Teil meiner Person“ antworteten. In Übereinstimmung mit den Erwartungen ergab sich eine positive Korrelation zwischen der Stärke der Rollenidentität und der Zeitspanne, in der sich die Freiwilligen engagierten. Auch diese Ergebnisse führten zu einem konkreten Ratschlag: „Wenn sich jemand einmal gemeldet hat, kann man sie oder ihn bei der Stange halten, indem man sich auf die Schaffung einer Rollenidentität als Freiwillige bzw. Freiwilliger konzentriert ... Gegenstände (zum Beispiel T-Shirts oder Namensschilder mit Funktionsangaben), die Freiwillige öffentlich erkennbar machen, können dazu beitragen, die Rollenidentität zu stärken“ (S. 416).

Sie können diese Untersuchungen nutzen, um Ihr eigenes Verhalten zu überprüfen. Welche Motive treffen auf Ihre Erfahrungen mit Freiwilligenarbeit zu? Sind Sie darauf vorbereitet, stress-bedingte Beeinträchtigungen zu bewältigen? In welchem Ausmaß sehen Sie „Freiwillige“ als eine respektierte soziale Rolle? Sie können sich diese Fragen stellen, um den persönlichen und gesellschaftlichen Nutzen Ihrer freiwilligen Aktivitäten zu erhöhen.

■ Warum ist es sinnvoll, die Verhaltensweisen von Freiwilligen mit Längsschnittstudien zu verfolgen?

■ Warum können T-Shirts und Namensschilder die Rollenidentität stärken helfen?

[n diesem Abschnitt haben wir prosoziales Verhalten behandelt - jene Umstände, unter welchen sich Menschen zu Hilfe kommen. Menschen verfolgen verschiedene Motive, die prosoziales Verhalten erklären. Wie Sie diesem Kapitel aber recht häufig entnehmen konnten, hat die soziale Situation einen großen Einfluss auf das Ausmaß, in dem Menschen auf der Grundlage dieser Motive handeln werden.

Zwischenbilanz

DI Warum wird davon ausgegangen, dass genetische Faktoren bei Aggression eine Rolle spielen?

H Wie verhalten sich Frustration und Aggression zueinander?

EB Was ist mit reziprokem Altruismus gemeint?

EB Warum tritt Verantwortungsdiffusion auf?

Kritisches Denken: Denken Sie erneut an das Experiment, das den Einfluss gewalttätiger Videospiele untersuchte. Welche physiologischen Veränderungen können gewalttätige Videospiele bewirken und welchen Einfluss kann dies auf den Umgang von Menschen miteinander haben?

 
Quelle
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