Institutionelle Logiken im soziologischen Neoinstitutionalismus
Der soziologische Neoinstitutionalismus hat sich seit den 70er Jahren insbesondere in Abgrenzung zu den kontingenztheoretischen Ansätzen der Organisationstheorie entwickelt (Walgenbach/Meyer 2008: 12). Mittlerweile umfasst die neoinstitutionalistische Organisationstheorie ein breit gefächertes, theoretisches und empirisches Forschungsprogramm, das von manchen Beobachtern sogar als führend im Bereich der Organisationsund Managementforschung charakterisiert wird (Tolbert/Zucker 1996; Mizruchi/Fein 1999) [1]. Neoinstitutionalismus kann jedoch kaum als konsistente Theorie bezeichnet werden, sondern subsumiert eine Vielzahl verschiedener Ansätze (Greenwood et al. 2008) bzw. umfasst jeweils spezifische Forschungsstränge innerhalb der sozialwissenschaftlichen Disziplinen (Jepperson 1991: 143). Dabei baut die neoinstitutionalistische Organisationstheorie u.a. auf der langen Tradition der Beschäftigung mit Institutionen (Selznick 1957) und auf Webers Bürokratietheorie (1972) auf, die den Zusammenhang bzw. das Wechselspiel zwischen Gesellschaft und Organisationen herausgearbeitet haben (Senge/Hellmann 2006: 8ff). Form und Verhalten von Organisationen werden im neoinstitutionalistischen Ansatz auf kontextuelle – institutionelle – Faktoren in der gesellschaftlichen Umwelt bezogen. Doch was sind Institutionen und wie verändern sie sich?
Theoretische Annahmen
Institutionen werden in der neoinstitutionalistischen Organisationsforschung verstanden als gesellschaftlich geteilte Regeln, soziale Muster und damit einhergehende festgelegte Erwartungen an soziale Akteure sowie als angemessenes Verhalten (Barley/Tolbert 1997: 96; Jepperson 1991: 145). Je nach ihrer Funktion und Wirkung unterscheidet Scott (2001: 47ff.) zwischen regulativen Institutionen (formale Regeln, Verträge und Gesetze), normativen Institutionen (generelle Normen und Werte) und kognitiven Institutionen (Wahrnehmungen und Bedeutungssysteme) (vgl. Senge 2006: 38). Als Bündelung aufeinander bezogener Ordnungsprinzipien und Interpretationsschemata entfalten Institutionen eine koordinierende Funktion für das Verhalten von Individuen, Organisationen und gesellschaftlichen Zusammenschlüssen (Jepperson 1991: 146ff.). Insbesondere kognitiven Institutionen, die als gemeinsam geteilte Vorstellungen über die soziale Wirklichkeit oder Skripte zu nicht mehr hinterfragten Sichtweisen und Routinen führen, wird dabei eine besonders zentrale Rolle beigemessen (Senge 2006: 39). Grundlegend für diese zentrale Rolle von Institutionen ist das auf Simon (1972) und March/Olsen (1989) rekurrierende Verständnis institutionell „angemessenen“ Verhaltens. Aufbauend auf den wissenssoziologischen Arbeiten von Berger/Luckmann (1966) wird im neoinstitutionalistischen Ansatz davon ausgegangen, dass es in einer Gesellschaft zur Institutionalisierung von Annahmen und Vorstellungen kommt, die als objektiv und damit extern gegeben sowie als zweckmäßig betrachtet werden (Meyer/Rowan 1977; DiMaggio/Powell 1983). Aus der Verdichtung solcher für zunehmend selbstverständlich („taken for granted“) gehaltenen Regeln, Normen und typisierenden Festlegungen resultieren „Schablonen des Organisierens“ (Walgenbach/Meyer 2008: 50), die durch Organisationen als Handlungsmodelle oder Verfahrensweisen anerkannt und übernommen werden.
Dabei sind derart institutionalisierte und für legitim gehaltene Rationalitätsvorstellungen, wie z.B. der Einsatz von sogenannten „best practices“ bei der Organisation moderner Leitungsstrukturen, jedoch aus der Sicht der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie keine objektiven Realitäten, sondern „Mythen“, die innerhalb eines Organisationsumfeldes für selbstverständlich und sinnvoll gehalten werden (Meyer/Rowan 1977). Dabei, so die Annahme, folgen solche Rationalitäten weniger internen Effizienzkriterien, sondern spiegeln Forderungen und Erwartungen dominanter Anspruchsgruppen wider. Das bedeutet nicht, dass technische und ökonomische Erwartungsstrukturen irrelevant sind, sondern nur, dass auch andere institutionelle Faktoren in den Blick genommen werden, die für Organisationen oder soziale Identitäten relevant sind (Walgenbach/Meyer 2008: 17).
Aus diesen Annahmen folgt, dass die Gestaltung von Organisationsstrukturen und die Praxis von Organisationen sich in enger Abhängigkeit mit den externen Erwartungen aus der gesellschaftlichen Umwelt sowie des unmittelbaren organisationalen Umfelds vollziehen (Meyer/Rowan 1977: 343). Scott/Meyer fassen diese enge Anbindung von Umwelt und Organisation folgendermaßen zusammen:
„The environmental patterns that drive organizing work through linkages and effects that go beyond simple direct control. They have a constitutive, or phenomenological, aspect, and they are made up of meaning systems as well as hard-wired controls. Certainly the direct controls of the state regulate many features of schools, firms, and hospitals (and in various ways determine and accredit their existence). But institutionalized meanings also play important roles in defining what schools, firms, and hospitals are to look like, why they are valuable, and what they are and are not to do.“ (Scott/Meyer 1994: 2-3)
Die Konzeption von Organisationen als „soziale Einheiten“ und rationale Akteure wird daher grundsätzlich in Frage gestellt. Stattdessen können Organisationen neoinstitutionalistisch verstanden werden als „elaborierte, ritualisierte und manchmal modegetriebene Ansammlungen rationalisierter Mythen, die aus der Umwelt der Organisationen stammen“ (Walgenbach/Meyer 2008: 18). Dabei wird davon ausgegangen, dass innerhalb von differenzierten Teilbereichen der Gesellschaft – sogenannten organisationalen Feldern – spezifische Sets von für verbindlich gehaltenen Regeln für die Gestaltung von Organisationen existieren, wie z. B. Unternehmen, Krankenhäuser, Museen oder Hochschulen formalstrukturell aufzubauen sind (DiMaggio/Powell 1983; DiMaggio 1991; Sahlin-Andersson 1996). Organisationale Felder, als eine zentrale Figur der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie, konstituieren sich dabei aus Organisationen, die ähnliche gesellschaftliche Funktionen oder Ziele verfolgen und damit innerhalb eines gemeinsamen anerkannten Sinnzusammenhangs mitunter aufeinander bezogen agieren (DiMaggio 1991; DiMaggio/Powell 1983: 148; Sahlin-Andersson 1996). Dies schließt auch wichtige Einrichtungen ein, die eine strukturgebende Position für alle relevanten Organisationen innehaben wie etwa staatliche Regulierungsbehörden oder Berufsvereinigungen (DiMaggio/Powell 1983: 148). Demnach lässt sich auch der Hochschulsektor als ein durch wechselseitige Anerkennung und ähnliche Umweltbeobachtungen charakterisiertes organisationales Feld verstehen (Krücken 2007). Dazu würden dann neben den Hochschulen sowie disziplinären Vereinigungen auch Organisationen der staatlichen Wissenschaftsverwaltung, intermediäre Organisationen, Evaluierungsagenturen gehören.
Diese Annahmen des neo-institutionalistischen Paradigmas legen nahe, dass die zentrale Referenz für die Stabilität und die Veränderung formaler Organisationsstrukturen in ihrer Legitimität in der gesellschaftlichen Umwelt zu sehen ist (Walgenbach/Meyer 2008: 63ff.). Organisationale Legitimität wird einer Organisation dann zugeschrieben, wenn sie mit den jeweiligen Erwartungen, Vorstellungen und Festlegungen weitgehend konform sind (Suchman 1995: 574). Dabei lassen sich nach Suchman mit pragmatischer, moralischer und kognitiver Legitimität drei unterschiedliche Formen oder Phasen unterscheiden (Suchman 1995: 577ff.). Scott (2001: 49) hingegen differenziert, analog zu seiner Definition von Institutionen (s.o.) zwischen regulativer (Gesetze, Verordnungen etc.), normativer (Werte, Normen etc.) und kulturell-kognitiver (gesellschaftlich-sektorale Erwartungen und Standards) Legitimität. Wichtig ist, dass es dabei um zugesprochene Legitimität anhand der Einschätzung bzw. Antizipation durch soziale Identitäten in der Umwelt geht. Insbesondere der kulturell-kognitive Aspekt von Legitimität impliziert, dass dafür zumeist bestimmte organisationale Felder bzw. bestimmte Anspruchsgruppen als Referenz fungieren (Walgenbach/Meyer 2008: 65). Offensichtlich müssen viele Organisationen dabei mit divergierenden Legitimationskriterien umgehen (Kraatz/Block 2008).
Legitimität ist insofern für Organisationen konstituierend und überlebenswichtig, kann aber auch zum Gegenstand von Veränderungen und damit Auslöser institutionellen Wandels werden. Aus Sicht des Neoinstitutionalismus wird Wandel von Organisationstrukturen und organisationalen Praktiken oder Routinen als Reaktion auf veränderte Erwartungen und Ansprüche in der organisationalen Umwelt zurückgeführt, also den Wandel von Institutionen, die darüber bestimmten, was als „legitim“ verstanden wird. Doch wie vollzieht sich institutioneller Wandel?
- [1] Für einen umfassenden Überblick zum Neoinstitutionalismus in der deutschsprachigen Literatur vgl. Hasse/Krücken 1999; Senge/Hellmann 2006; Walgenbach/Meyer 2008