Auswirkungen von Erfahrung auf die postnatale Entwicklung neuronaler Schaltkreise

Da die Entwicklung des menschlichen Gehirns so langsam abläuft, gibt es viele Möglichkeiten, dass Erfahrung die Entwicklung beeinflusst. Die Auswirkungen von Erfahrungen auf die Gehirnentwicklung sind vielfältig, aber sie lassen sich zwei grundsätzlichen Arten zuordnen: permissiv oder instruktiv. Permissive Erfahrungen erlauben es, dass die in genetischen Programmen gespeicherte Information der Gehimentwicklung ausgedrückt und manifestiert wird. Instruktive Erfahrungen tragen zur Information in genetischen Programmen bei und beeinflussen den Ablauf der Entwicklung (siehe Assali, Gaspar & Rebsam, 2014).

Kritische versus sensitive Perioden

Ein wichtiges Merkmal der Auswirkungen von Erfahrung auf die Entwicklung ist, dass sie zeitkri

tisch sind: Die Auswirkung einer bestimmten Erfahrung hängt davon ab, wann sie gemacht wird (siehe Makinodan et al., 2012). In den meisten Fällen gibt es ein lemsensibles Zeitfenster („window of oppor. tunity"), in dessen Rahmen die Erfahrung die Entwicklung beeinflussen kann. Von einer kritischen Periode spricht man, wenn es absolut notwendig ist, dass eine Erfahrung während eines bestimmten Zeitintervalls eintritt, um die Entwicklung zu beeinflussen. Wenn die Erfahrung einen großen Effekt auf die Entwicklung hat, wenn sie während eines bestimmten Zeitfensters auftritt, aber außerhalb dieses Zeitintervalls noch schwächere Wirkungen haben kann, spricht man von einer sensiblen Periode. Der Begriff „kritische Periode" wird zwar häufig verwendet, aber für die große Mehrheit der Auswirkungen von Erfahrungen auf die Entwicklung wurde nachgewiesen, dass es sensible Perioden sind.

Erste Untersuchungen über Erfahrung und neuronale Entwicklung: Deprivation und Anreicherung

Die Forschung über die Auswirkungen von Erfahrung auf die Gehirnentwicklung fokussierte größtenteils auf das sensorische und motorische System und so wurden entsprechende Erfahrungsmanipulationen entwickelt. Die anfängliche Forschung untersuchte vorwiegend zwei allgemeine Manipulationen: sensorische Deprivation und Anreicherung.

Die ersten Studien zur sensorischen Deprivation untersuchten, welche Auswirkungen die Aufzucht von Tieren im Dunkeln hat. Ratten, die von Geburt an im Dunkeln aufgezogen wurden, hatten im primären visuellen Cortex weniger Synapsen und weniger dendritische Dornen, und als erwachsene Here zeigten sie Defizite im Tiefen- und Mustersehen. Umgekehrt haben die ersten Studien, die eine frühe Auseinandersetzung mit angereicherten Umwelten realisiert haben, günstige Wirkungen nachgewiesen. Beispielsweise wurde beobachtet, dass Ratten, die in angereicherten (komplexen) Gruppenkäfigen anstatt einzeln in kargen Käfigen aufgezogen wurden, einen dickeren Cortex mit mehr dendritischen Dornen und mehr Synapsen pro Neuron besitzen (siehe Berardi, Sale & Maffei, 2015).

Diese Untersuchungen zur sensorischen Deprivation wurden auch auf menschliche Säuglinge über tragen, die mit Katarakt (grauer Star) in beiden Augen geboren wurden, so dass sie fast blind audie Welt kommen (Lewis & Maurer, 2005). Als die Katarakte im ersten bis neunten Monat operiert wurden, war ihre Sehfähigkeit mit der von Neugeborenen vergleichbar. Danach haben sich manche Aspekte der Sehfähigkeit schnell erholt, aber einige visuelle Defizite waren auch zwei Jahre später nachweisbar (Maurer, Ellemberg & Lewis, 2006; siehe auch Kapitel 6).

 
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