Vietnam

Historische Entwicklung und Herausforderungen

Die Sozialistische Republik Vietnam (SRV), wie das Land seit 1976 offiziell heißt, ist eine von weltweit fünf „kommunistischen Autokratien“ (Dimitrov 2013), die den Zusammenbruch der Sowjetunion überlebt haben[1]. Die Kommunistische Partei (KPV) herrscht seit 1954 in Nordvietnam und seit dem Ende des Vietnamkriegs (1975) auch im Süden des Landes. Sie gehört damit zu den am längsten regierenden Parteien der Welt.

Steckbrief

Bevölkerung

Jahr der Unabhängigkeit

Staatsform

93,421 Mio.

1954

Republik

Territorium

Jahr der geltenden Verfassung

Staatsoberhaupt

331.210 km2

1992

Truong Tan Sang (seit 25.07.2011)

BIP p.c. (2005 PPP, 2012)

Amtssprachen

Regierungschef

$ 3.133

Vietnamesisch

Nguyen Tan Dung (seit 27.06.2006)

Ethnische Gruppen

Demokratiestatus (BTI 2014)

Regierungssystem

Kinh (Viet) 85,7 %, Tay 1,9 %, Thai 1,8 %, Muong 1,5 %, Khmer 1,5 %, Mong 1,2 %, Nung 1,1 %, Andere 5,3 %

3,57a

Parlamentarisch

Religionsgruppen

Regimetyp

Regierungstyp

Buddhisten 9,3 %, Katholiken 6,7 %, Hoa Hao 1,5 %, Cao Dai 1,1 %, Andere 0,6 %, keine 80,8 %

Autokratie

Einparteienregierung

Quelle: CIA (2014); Bertelsmann Stiftung (2014); GSOV (2014)

a Skala von 1–10, höhere Werte zeigen höheren Demokratiegrad.

Abb. 13.1 BIP Wachstum und Pro-Kopf-Einkommen in Vietnam (1984–2012). Quelle: Weltbank (2013)

Vietnam ist für die vergleichende Autokratien-Forschung ein spannender Fall. Der 1986 unter dem Schlagwort der Erneuerung (doi moi) verkündete Kurswechsel von der orthodox-sozialistischen Wirtschaftsordnung zur „sozialistisch-orientierten Marktwirtschaft“ (Art. 51, Abs. 1, 2014 Verf.) manifestiert sich in einem Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 6,9 % pro Jahr und einer Vervierfachung des BIP pro Kopf im Zeitraum 1986–2012 (Abb. 13.1).

Die wirtschaftlichen Reformen haben die Lebensverhältnisse der Bevölkerung rasch deutlich verbessert. Gemessen an Indikatoren wie Lebenserwartung, Säuglingssterblichkeit, Zugang der Bevölkerung zu Bildung und Reduktion der absoluten Armut hat Vietnam eine deutlich bessere Leistungsbilanz als andere Länder auf einem ähnlichen Einkommensniveau (London 2014, S. 132). Damit gehört die SRV zu der kleinen Gruppe von Autokratien mit einer über die Zeit hohen wirtschaftsund sozialpolitischen Leistungskraft (Besley und Kudamatsu 2007). Bislang konnte die Staatspartei den sich auf den wirtschaftlichen Erfolg und die daraus folgenden gesellschaftlichen Veränderungen hin einstellenden Anpassungsdruck auffangen, ohne ihre politische Leitlinie des dreifachen Neins (kein ideologischer Pluralismus, keine Opposition und keine Parteien außerhalb der Partei) aufzugeben. Dennoch hat es signifikante Veränderungen der politischen Strukturen gegeben, die von der Transformation zu einem weniger „harten“ und institutionell adaptiven Autoritarismus künden (London 2014; Vu 2014).

Den historischen Ursprung des heutigen Vietnam bilden die in vorchristlicher Zeit errichteten Reiche von Aun Lac und Nam Viet. Letzteres wurde 111 v. Chr. von der Han-Dynastie niedergeworfen und als Präfektur in das chinesische Reich eingegliedert. Ab dem 10. Jahrhundert n. Chr. gelang es rasch wechselnden Dynastien sich dem Zugriff der chinesischen Macht zu entziehen. Die chinesische Kultur und insbesondere die neokonfuzianische Staatsorthodoxie blieben jedoch einflussreich. So unterstand das Königreich Dai Viet während der Lê-Dynastie (1427–1798) formell der chinesischen Oberhoheit, der Konfuzianismus mit seinem zentralisierten Verwaltungssystem und an konfuzianischen Prinzipien geschultem Beamtenapparat bildete die dominante Säule der Staatsorganisation (Schirokauer und Clark 2004).

Das Herrschaftsgebiet von Dai Viet beschränkte sich zunächst auf Tonkin (Nordvietnam) und einige Provinzen in Annam (Mittelvietnam). Die Expansion nach Südwesten, in das Champa Imperium und die kambodschanisch beherrschten Gebiete im MekongDelta, dauerte Jahrhunderte.2 Dies und der Niedergang der Lê-Dynastie, deren Herrschaft seit dem 16. Jahrhundert nur noch nominell war, während konkurrierende Adelsfamilien de facto den Süden bzw. Norden des Landes kontrollierten, trug entscheidend zur Fragmentierung staatlicher Macht bei (Schirokauer und Clark 2004, S. 104 ff.). Im 18. Jahrhundert allerdings gelang es der Nguyen-Dynastie die Kontrolle über den Süden zu erlangen und mit französischer Hilfe auf den nördlichen Königshof Thang Long (heute Hanoi) auszuweiten. 1802 proklamierte Nguyen Anh unter dem Herrschernamen Gia Long das Kaiserreich Viet Nam und gründete die neue Hauptstadt Hue in Zentralvietnam.

Die staatliche Einigung unter den Nguyen kollidierte mit dem Expansionsstreben Frankreichs. Zunächst besetzten französische Truppen Da Nang, Saigon und angrenzende Provinzen (1858/1862). Anschließend erzwang die französische Regierung die formale Abtretung von ganz Südvietnam (1874). Abschließend wurden Annam und Tonkin als Protektorate dem Kolonialreich einverleibt (1882). Im Unterschied zum Süden (CochinChina), wo die Kolonialmacht eine direkte Verwaltung etablierte, blieben die Protektorate nominell unter der Oberhoheit des Kaiserhofs in Hue. Der Kaiser und seine Staatsverwaltung unterstanden jedoch der Aufsicht des französischen Generalgouverneurs in Hanoi, welcher innerhalb der Indochinesischen Union auch Kambodscha (seit 1887) und Laos (1893) regierte (Schirokauer und Clark 2004, S. 111).

Das koloniale Wirtschaftssystem basierte auf der arbeitsrepressiven Ausbeutung lokaler Ressourcen, der Erschließung des vietnamesischen Markts für Produkte aus dem Mutterland und der exzessiven Besteuerung der vietnamesischen Bauernschaft (Brocheux und Hémery 2011, S. 116 ff.). Die Folge waren soziale Verwerfungen und lokale Proteste. Zwar bildeten sich um die Jahrhundertwende erste Reformgruppen, allerdings verpasste Frankreich vor Gründung der Kommunistischen Partei die Gelegenheit, mit den gemäßigten Konstitutionalisten zusammenzuarbeiten, die große Teile der Beamtenschaft, der Bildungselite und der agrarischen Oberschicht vertraten. Stattdessen eskalierten die Proteste gegen wirtschaftliche Ausbeutung und politische Unterdrückung in der Zeit der Weltwirtschaftskrise. Der Yen-Bai-Aufstand von 1930 wurde blutig niedergeschlagen, verdeutlichte aber das Scheitern der repressiven Politik einer erzwungenen Entpolitisierung (Brocheux und Hémery 2011, S. 292 ff.).

Die im selben Jahr von Ho Chi Minh (bürgerlich: Nyuyen That Thanh) als Einheitspartei der in Vietnam tätigen kommunistischen Gruppen gegründete Kommunistische Partei Vietnams – wenig später in Indochinesische Kommunistische Partei (IKP) umbenannt – hatte gleichfalls mit Repression von Seiten der Franzosen zu kämpfen (Blanc 2004). Der japanische Einmarsch im Juli 1941 und die Kollaboration der Vichy-treuen Kolonialverwaltung mit den Besatzern bot den Kommunisten eine Möglichkeit, sich als dominante Kraft in der Nationalbewegung zu etablieren. Die auf Initiative der Kommunisten gebildete Liga für die Unabhängigkeit Vietnams (Viet Minh) startete im März 1945 einen revolutionären Aufstand, in dessen Verlauf sie die vollständige Kontrolle über Vietnam erringen konnte. Im Zuge der „Augustrevolution“ proklamierte Ho Chi Minh am

2. September 1945 in Hanoi die Demokratische Republik Vietnam (DRV).

Frankreich, das nicht bereit war sein Kolonialreich aufzugeben, konnte die Kontrolle über den Süden zurückgewinnen, sah sich aber genötigt, im März 1946 die DRV als souveränen Staat innerhalb der Französischen Union anzuerkennen. Im Gegenzug stimmte Ho Chi Minh einer Stationierung französischer Truppen im Nordteil des Landes zu. Das Abkommen hielt nicht. Der folgende französisch-vietnamesische Krieg (1. IndochinaKrieg) endete erst, als es den Truppen der Viet Minh 1954 gelang, die Franzosen bei Dien Bien Phu entscheidend zu schlagen (Tucker 1999, S. 48 ff.). Verhandlungen zwischen Frankreich und der DRV, von denen Vertreter Südvietnams ausgeschlossen waren, führten im Juli 1954 zur Unterzeichnung des Genfer Abkommens. Darin vereinbart war eine vorläufige Teilung Vietnams am 17. Breitengrad, hinter den sich die Truppen Frankreichs und der Viet Minh zurückziehen sollten und die Schaffung einer Internationalen Kontrollkommission, welche die landesweite Durchführung von freien Wahlen überwachen sollte (Stockwell 1999, S. 43 ff.). Zu diesen Wahlen kam es nicht, da die im Süden proklamierten Republik Vietnam unter Staatspräsident Ngo Dinh Diem ihre Teilnahme verweigerte. Vielmehr blieben die beiden Landesteile getrennt. Der Norden orientierte sich politisch und wirtschaftlich an der Sowjetunion und China, der Süden stand unter amerikanischem Einfluss.

Die Konsolidierung des antikommunistischen Diem-Regimes scheiterte. Der Diktator wurde 1963 gestürzt, woraufhin das Militär die Regierung übernahm. Im Jahr darauf begann der 2. Indochina-Krieg („Vietnamkrieg“ oder „vietnamesisch-amerikanischer Krieg“). Im Norden hingegen konnte die 1951 als Partei der Werktätigen Vietnams (PdWV) reorganisierte Kommunistische Partei rasch ihren Herrschaftsanspruch durchzusetzen. Nach dem im Pariser Waffenstillstand von 1973 zwischen den USA, Südund Nordvietnam vereinbarten vollständigen Abzug der amerikanischen Truppen, war der Fall der Militärdiktatur im Süden nur noch eine Frage der Zeit. Als im März 1975 kommunistische Truppen die Demarkationslinie zwischen den zwei Staaten überschritten, brach die Republik Vietnam innerhalb weniger Wochen zusammen. Mit der bedingungslosen Kapitulation Südvietnams am 1. Mai 1975 endete der Vietnamkrieg. Kaum ein Jahr später, im Juli 1976, wurden beide Landesteile als Sozialistische Republik Vietnam vereint.

Wie in der historischen Darstellung anklingt, verlief die Entwicklung der kommunistischen Herrschaft in mehreren Phasen (vgl. auch Dimitrov 2013). In der Formierungsund Durchsetzungsphase (1954–1975) implementierte die PdWV im Norden ihr orthodox-sozialistisches Wirtschaftsprogramm (Nationalisierung von Banken und Industrien, Enteignung von Großgrundbesitzer und Kollektivierung der Landwirtschaft) und etablierte die Planwirtschaft. Zugleich verabschiedete die Partei eine sozialistische Staatsverfassung (1959), welche die Verfassung von 1946 ablöste, die noch keine Bezüge zum Sozialismus oder dem Einparteienstaat enthielt (Hill 2008, S. 333). Mit chinesischer Unterstützung und begleitet von landesweiten Massenkampagnen, Säuberungswellen in der Partei und dem Aufbau lokaler Parteiorganisationen in allen Landesteilen, wurde die Institutionalisierung der Partei bis Mitte der 1960er Jahre weitgehend abgeschlossen (Vu 2013). Das staatssozialistische System beruhte dabei auf fünf Ordnungsprinzipien: 1) dem Herrschaftsmonopol der leninistischen Staatspartei; 2) ihrer Selbstverpflichtung auf das Projekt der Schaffung einer souveränen und starken Nation durch rasche sozioökonomische Entwicklung, einschließlich der Schaffung eines rudimentären, aber universellen Gesundheitsund Bildungssystems; 3) der staatlichen Kontrolle der Produktionsmittel;

4) zentraler Wirtschaftsplanung; und 5) politischer Massenmobilisierung durch die Partei und ihre Frontorganisationen (Vasavakul 1995, S. 288). Allerdings war der Legitimationsanspruch des Regimes komplexer, als die Charakterisierung als „kommunistische Parteidiktatur“ suggeriert. Von Beginn an war die Übernahme der kommunistischen Ideologie mit der Gleichsetzung von Partei, Patriotismus und dem Streben nach nationaler Selbstbestimmung verbunden (Vasavakul 1995, S. 288). Zugleich verhinderte das System der kollektiven Führung und Machtteilung zwischen verschiedenen Faktionen und Führungspersonen das Entstehen einer Führerdiktatur, wie in der UdSSR unter Stalin und in China unter der Führung von Mao Zedong (vgl. Vasavakul 1995, S. 263 f.).

Die zweite Phase der Vertiefung des Regimes (1975–1986) beginnt mit der Vereinigung von Südund Nordvietnam und der Proklamation der SRV. Innenpolitisch wurden die kommunistischen Herrschaftsinstitutionen und das sozialistische Wirtschaftsmodell auf den Süden übertragen. Außenpolitisch orientierte sich das Regime nun stark an der Sowjetunion, während sich die Beziehungen zur Volksrepublik China infolge der vietnamesischen Invasion in Kambodscha (1978; vgl. Kap. 5) zeitweise dramatisch verschlechterten. Die radikale Umformung der wirtschaftlichen Verhältnisse im Süden mündete jedoch in einem Fiasko. Gegen lokale Widerstände konnte bis 1985 nur ein Viertel der landwirtschaftlichen Nutzfläche kollektiviert werden (Schirokauer und Clark 2004, S. 420). Die Übertragung der ineffizienten Zentralplanwirtschaft auf den Süden und die dadurch ausgelöste Flucht zahlreicher alter Funktionseliten aus Beamtenschaft, Handel und Gewerbe, Unternehmerschaft und dem Bildungswesen mündete in einer systemischen Wirtschaftskrise, zumal die Hilfsleistungen der kommunistischen Bruderstaaten nach Kriegsende deutlich zurückgingen oder, im chinesischen Fall, zum Erliegen kamen. Angesichts des Versagens des planwirtschaftlichen Systems kam es bereits Ende der 1970er Jahre in der Partei zu Debatten über die Notwendigkeit von wirtschaftlichen Kurskorrekturen (Vasavakul 2006, S. 377).

Die dritte Phase des Übergangs von der revolutionären zur bürokratischen Herrschaft überschneidet sich daher mit der vorangegangenen Phase. Die „Sinnkrise“ des Regimes nach dem militärischen Sieg und dem Scheitern der orthodoxen Politik im Süden sowie die dramatische Versorgungslage drohten sich zu einer veritablen Legitimitätskrise der kommunistischen Diktatur auszuweiten (Vasavakul 1995, S. 273). Die Staatspartei reagierte hierauf mit der graduellen Neuausrichtung ihrer Wirtschaftsund Legitimationspolitik. Die auf dem VI. Parteitag (1986) eingeleitete Doi Moi-Politik hat zu einer gemischten Wirtschaftsordnung („multisektoralen Wirtschaft“)[2] geführt, in der dem Staatssektor weiterhin eine wichtige Rolle zukommt. Sein Anteil an der nationalen Wirtschaftsleistung (BIP) lag 2010 bei 33,7 %. Zugleich hat sich das Land ökonomisch geöffnet, was sich darin zeigt, dass Unternehmen mit ausländischer Beteiligung mittlerweile 18,7 % zum BIP beitragen (Mensel 2013, S. 286, 453).

Doch nicht nur das Wirtschaftssystem, auch die Gesellschaft durchläuft einen rapiden Veränderungsprozess. Im Zuge dieser Entwicklung haben sich die Rahmenbedingungen für den Regimeerhalt verschoben (London 2014, S. 5). In der Vergangenheit hat die Partei es immer wieder verstanden, alte und neue Eliten in die Regimestrukturen zu kooptieren sowie einen geregelten Elitenaustausch und den Zugang zu Führungspositionen für nachrückende Kader sicherzustellen. Zugleich wurden Mechanismen der politischen Verantwortlichkeit und Transparenz im Regierungssystem gestärkt (vgl. Kap. 13.3). Dennoch gibt es mehrere Herausforderungen, welche perspektivisch die Regimestabilität in Frage stellen.

Erstens sind die unerwünschten sozialen Folgen der ökonomischen Transformation zu nennen. Zum einen ging der Wirtschaftsboom der letzten 25 Jahre mit einer Zunahme des wirtschaftlichen Gefälles zwischen prosperierenden und ökonomisch wenig leistungsstarken Provinzen einher. Zum anderen haben Einkommensdisparitäten in der Gesellschaft stark zugenommen[3]. Zugleich teilt sich die Gesellschaft zusehends in Bevölkerungsgruppen, die aufgrund ihrer privilegierten Position in Partei, Staat oder Privatwirtschaft zu den wirtschaftlichen Gewinnern gehören sowie Schichten, die den Risiken des Marktes mehr oder weniger schutzlos gegenüberstehen und den schrittweisen Rückzug des Staates aus immer mehr Leistungsbereichen nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten kompensieren können (London 2014; Dixon 2004; Jandl 2013).

Zweitens schwächt die wirtschaftliche Diversifizierung die Kohäsion der Elitenstruktur und die Integrationskraft der Massenorganisationen der Partei (Elliott 2013; Vu 2014, S. 36). Ausdruck dieser Entwicklung ist das Auftreten neuer Konfliktlinien in den Führungsorganen der Partei und von zunehmend schwerer zu regulierenden Konflikten zwischen sektoralen und Provinzinteressen. Damit verbunden sind nachlassende Steuerungsund Durchgriffsmöglichkeiten der Zentralregierung gegenüber den nachgeordneten Ebenen, aufgrund von zentrifugalen Tendenzen in den besser gestellten Provinzen und des Aufstiegs „rentensuchender“ Elitengruppen (Vuving 2013). In Teilen der Literatur wird diese Entwicklung als „institutionelle Fäulnis“ (Vu 2014) oder „systemische politische Krise“ (Fforde 2013; vgl. auch Fforde 2012) des Einparteienstaats charakterisiert.

Eine dritte Herausforderung ergibt sich aus der Erosion der ideologischen Legitimitätsansprüche der Partei und den Schwierigkeiten der Neulegitimation des bestehenden Systems. Der Legitimitätsanspruch der Partei basierte bis in die 1980er Jahre auf ihrem Erfolg im opferreichen Kampf gegen ausländische Mächte und dem Anspruch, durch die Umsetzung der sozialistischen Ideologie die wirtschaftliche und gesellschaftliche

„Rückständigkeit“ des Landes überwinden zu können. Zwar bildet der MarxismusLeninismus weiterhin einen wichtigen Baustein der Legitimation des Regimes. Aufgrund der Marktreformen und des gescheiterten orthodox-planwirtschaftlichen Strategie wird sie aber ergänzt um die Betonung der patriotischen Verdienste der Staatspartei und die konstruierte Kontinuität von der mythisch überhöhten ersten Führungsgeneration der Revolutionszeit zur heutigen Parteiführung, manifestiert in der Aufnahme der „Gedanken Ho Chi Minhs“ in die Verfassung. Zudem sind pragmatische, „gute“ Regierungsführung, ökonomische Leistungsfähigkeit und Bewahrung der gesellschaftlichen Stabilität und Kohäsion inzwischen zentrale Legitimationssäulen des Regimes (Thayer 2010, S. 427; Le 2012, S. 145). Konflikte innerhalb der Partei und Folgeeffekte des vietnamesischen „Kaderkapitalismus“ wie Korruption, Amtswillkür und Klientelwirtschaft bedrohen aber diese Geltungsgründe.

  • [1] Die anderen sind Laos, Kuba, Nordkorea und die Volksrepublik China. Das Kapitel verwendet die Begriffe Kommunismus und Sozialismus synonym.
  • [2] Mit den Wirtschaftssektoren sind verschiedene Eigentumsformen gemeint: Staatsunternehmen, Privatunternehmen, Genossenschaften, Haushaltsunternehmen und Unternehmen mit ausländischer Beteiligung.
  • [3] Diese Entwicklung verläuft jedoch spürbar langsamer und weniger dramatisch als beispielsweise in China. Die verfügbaren Daten deuten darauf hin, dass der Gini-Koeffizient, das gängige Maß zur Bestimmung der Ungleichverteilung von Einkommen in einer Gesellschaft, weiterhin beträchtlich unter den Werten für China liegt (Solt 2014).
 
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