Umzug nach Stadt B

Raza verliert nicht viele Worte über seine letzte Zeit in der Gemeinschaftsunterkunft in Stadt A, die er aufgrund von dauerndem Streit und Ärger mit seinen neuen Mitbewohnern, sehr „unzufrieden“ (Z. 245) verbrachte. An dieser Stelle zeigt sich der Befragte jedoch der willkürlichen Zimmerzuteilung bzw. gesamten Praxis der Ausländerbehörde nicht völlig ausgeliefert. Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon seine Verlobte kennengelernt, die ihr Studium in Stadt B fortsetzte. Der Befragte sucht sich daraufhin von Stadt A aus eine Arbeitsstelle in Stadt B (vgl. Z. 261). Dabei präsentiert er sich als aktiv Handelnder, der selbstbestimmt eine Arbeit sucht und nach dem Finden einer solchen nach Stadt B zieht. Dies bedeutet für Raza einen neuen Zeitabschnitt. Im Gegensatz zu seinem letzten Ortswechsel von Karlsruhe nach Stadt A, bei dem er lediglich „genommen“ und „geschickt“ wurde, ist der Umzug dieses Mal ein aktiver und selbstinitiierter Prozess.

Die anfängliche Zeit in Stadt B erlebt Raza als „ein (…) bisschen anders“ (Z. 266f.) bzw. konkretisiert es in ein „bisschen (h) schwierig“ (Z. 267). Dies scheint zunächst nach den gemachten negativen Erfahrungen in der Gemeinschaftsunterkunft und der unzufriedenstellenden letzten Zeit in Stadt A unerwartet. Er bezieht dies auf die Tatsache, dass er „drei vier Jahre(…)“ (Z. 268) in Stadt A wohnte. Er hatte dort „alle [s]eine Freunde“ (Z. 270) und seine Arbeit (vgl. Z. 270). Es scheint, als ob er sich trotz der Schwierigkeiten in Stadt A, zumindest in manchen Lebensbereichen, wohlfühlte und gewissermaßen dort „seinen Platz“ mit Freunden und einer Arbeit, hatte. Stadt B ist zu diesem Zeitpunkt für ihn nur ein anderer Ort „irgendwo anders“ (Z. 273) in Deutschland, in welchem er keine Menschen kennt (vgl. Z. 274). Das erinnert an seine Anfangszeit, als Raza in ein ihm unbekanntes Deutschland kommt. Es wird deutlich, welche Bedeutung ein Netzwerk an sozialen Beziehungen und die Arbeit für den Befragten spielen. Diese scheinen auf den ersten Blick mehr ins Gewicht zu fallen als die schwierigen zurückgelassenen Umstände in der Gemeinschaftsunterkunft.

Raza markiert jedoch in seiner Erzählung zu seinem Leben in Stadt B einen erneuten Zeitabschnitt, (vgl. Z. 274: „Aber dann“), als er merkt, dass dies seine „beste“ (Z. 276) Zeit in Deutschland ist. Der Grund ist das Zusammenleben mit seiner damaligen Verlobten und dem Auszug aus der Gemeinschaftsunterkunft. Raza spricht in diesem Zusammenhang zum ersten Mal von „meine[r] Zeit“ (Z. 278), was den Unterschied zu vorherigen fremdbestimmten Zeitabschnitten erneut zum Ausdruck bringt. Der Befragte zeigt eine selbstbestimmte Haltung gegenüber seiner Zeit in Stadt B. Zentral sind auch hier die vorhin identifizierten zentralen Ressourcen Freunde und seine Arbeit. Raza ist froh, mit seiner Verlobten zusammenwohnen zu können und lernt zudem schnell Freunde in Stadt B kennen. Zusätzlich macht ihm seine Arbeit Spaß, was insgesamt zu einem positiven Gefühl beiträgt.

Er zieht sodann einen eindeutigen Schlussstrich hinter die Zeit in Stadt A, indem er erwähnt, dass er seine Vergangenheit fast vergessen hat (vgl. Z. 282f.). Es wird deutlich, dass die fast vier Jahre in der Gemeinschaftsunterkunft keine gute Erfahrung für den Befragten darstellen und er sich von dieser Zeit distanziert, indem er sie in der Vergangenheit verortet und damit eine klare Grenze zur Gegenwart zieht.

Verdrängen und vergessen scheint hier die Bewältigungsstrategie des Befragten zu sein. Es wird deutlich, dass dies nicht ganz gelingt, da er davon spricht, dass er die Vergangenheit „fast“ (Z. 282) vergessen hat. Raza grenzt die „vergessene Vergangenheit“ ein indem er sie auf die Zeit im „Asylheim“ (Z. 287) bezieht und Freunde dabei ausklammert (vgl. Z. 283: „Also nicht Freunde“, vgl. auch Z. 249ff.). Es wird offenkundig, welchen Stellenwert Freunde für den Befragten haben: Sie können unzufriedene und schwierige Zeiten erträglicher machen und sind dauerhafter und bleibender als Erinnerungen an schwere Phasen.

 
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