Duldung als Ausdruck für das Machtgefälle zwischen Raza und den deutschen Behörden

In Razas Erzählung über die Duldung[1] lassen sich zwei sich gegenüberstehende Erzählfiguren ausmachen: auf der einen Seite der deutsche Staat, repräsentiert durch die Ausländerbehörde in Stadt A, welche zuständig für die Erteilung der Duldung bzw. deren Verlängerung ist. Auf der anderen Seite findet sich der Befragte, der im Besitz einer Duldung ist. In der Darstellung lässt sich der offensichtliche Machtunterschied der Beziehung der beiden Seiten feststellen: So ist Raza, der in diesem Abschnitt selten über sich in „Ich“-Form spricht, das erleidende Objekt, wohingegen die Ausländerbehörde als handelndes und vor allem forderndes Subjekt dargestellt wird. So erzählt der Befragte wie „die“ von der Ausländerbehörde deinen Pass haben wollen (vgl. Z. 344) [2] und dich abschieben wollen (vgl. Z. 350), wie „die“ dir drei Monate Verlängerung geben (vgl. Z. 353) und dabei „viele Fragen“ (Z. 366) stellen. „Die“ von der Botschaft überprüfen dich „überall“ (Z. 381) um etwas von dir zu finden (vgl. Z. 383) und dürfen dich schlussendlich „einfach nehmen“ (Z. 389) und zum „Flughafen (…) bringen“ (Z. 389) (Hervorhebungen durch die Autorin). Demgegenüber steht der Befragte als Objekt dieser Politik: Er erhält eine Duldung (vgl. Z. 343), er muss (eigentlich) ausreisen (vgl. Z. 347, Z. 372), bekommt immer eine dreimonatige Verlängerung (vgl. Z. 364), sollte seinen Pass auf das Ausländeramt mitbringen (vgl. Z. 373) und muss von Amt zu Amt gehen um Bescheinigungen zu erhalten (vgl. Z. 363) oder Anträge zu stellen (vgl. Z. 377). Schließlich kann es immer sein, dass man abgeschoben wird (vgl. Z. 378). Dabei „nimmt“ einen die Polizei „einfach“ (Z. 389) und bringt einen zum Flughafen (vgl. Z. 389). Raza nimmt sich in dieser Phase als sehr fremdbestimmt und hilflos gegenüber der deutschen Politik und unberechenbaren Folgen derer wahr. Durch die Verwendung von vielen wörtlichen Zitate wird offensichtlich, wie emotional nahe dem Befragten die rekapitulierten „Besuche“ auf der Ausländerbehörde zum Interviewzeitpunkt noch sind (vgl. Z. 370f.; Thielen 2009: 129). Raza erzählt von der Angst, die man „immer“ (Z. 379) hat, weil man befürchten muss, dass die Behörde deinen Pass findet und dich dann abschieben kann. Er erläutert, dass „die“ (Z. 381) dich in Pakistan und überall überprüfen und nicht nur dein Reisepass notwendig ist, sondern auch dein „normaler Ausweis oder Schulzeugnisse“ (Z. 383) ausreichend für eine Identifikation und damit verbundener Abschiebung. Hier wird wiederum die vom Befragten wahrgenommene Macht und Einfluss der Ausländerbehörde ersichtlich, welche die Angaben des Befragten

„überall“ (Z. 381) mit irgend „etwas (…) von dir“ (Z. 383) überprüfen können. Die grenzenlose Macht wird durch die Nennung eines möglichen Endes der „Geschichte“ erneut sichtbar: „die dürfen dich auch einfach nehmen und dann nach Flughafen zu bringen“ (Z. 389). Der Flughafen dient als Sinnbild für das unwiderrufliche Ende des Aufenthaltes in Deutschland und einem Scheitern im Asylverfahren bzw. einer Niederlage gegenüber den deutschen Behörden und damit der Rückkehr in ein Land, aus dem man geflüchtet ist bzw. einer Abschiebung in ein anderes Land.

Raza zufolge ist die Duldung die „schlimmste Zeit als Asylbewerber“ (Z. 402). Auffällig ist, dass er dabei nicht von sich spricht, sondern sich von der augenscheinlich schmerzlichen Erfahrung distanziert und von AsylbewerberInnen im Allgemeinen, denen er jedoch zugehörig ist, spricht. Im Gegensatz zu anderen Stellen, an denen der Befragte ebenfalls eine bewertende Haltung gegenüber bestimmten Zeitabschnitten einnimmt, verwendet er bezüglich der Duldung ein Superlativ um dem Gesagten noch mehr Nachdruck zu verleihen.

  • [1] Obwohl der Befragte wusste, dass das Forschungsfeld der Arbeit geduldete Flüchtlinge sind, kam er in seiner Erzählung nicht explizit auf seine Duldung zu sprechen. Allerdings spielte diese jederzeit eine Rolle, da sie die rechtlichen Grenzen setzt, denen der Befragte ausgesetzt war und die während des Gespräches allgegenwärtig waren. Erst auf die Nachfrage der Interviewerin (vgl. Z. 340) bezieht sich Raza unmittelbar auf seinen Status der Duldung.
  • [2] Die folgenden Kursivsetzungen sind wie bereits in Fußnote 91 angemerkt, nicht im Rahmen der verwendeten Transkriptionsregeln zu verstehen, sondern dienen der Verdeutlichung des geschilderten Sachverhaltes.
 
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