Zusammenfassende Rekonstruktion der Handlungsfähigkeit

Innerhalb Razas Erzählung lässt sich bezüglich Agency eine Grundfigur rekonstruieren, die als Nutzung von Unterstützung zur (Wieder-)Herstellung von Handlungsfähigkeit beschrieben werden kann. Zentral ist hierbei unter anderem die Einstellung des Befragten zum deutschen als auch pakistanischen System. [1] Vergleicht man Razas Beschreibungen des pakistanischen Gesundheitssystems sowie dem „Führerschein-und Terminesystems“ (vgl. Z. 63, 84) mit den Ausführungen über diese Bereiche in Deutschland, sind erstere geprägt von Korruption, Willkür und Ungleichbehandlung. Demgegenüber assoziiert der Befragte mit der in Deutschland vorzufindenden Ordnung dieser Teilsysteme Verlässlichkeit, Berechenbarkeit, Gleichberechtigung und Regeln, welche eingehalten werden. An mehreren Stellen der Erzählung zeigt er sich gegenüber dem deutschen Sozialsystem bzw. den Zuwendungen und der „großen Hilfe“ (Z. 165) des Sozialamtes dankbar und erkennt deren Nützlichkeit und Notwendigkeit an (vgl. Z. 13, Z. 45, Z. 165, Z. 464). Während der Beschreibung wird ersichtlich, dass es unter den pakistanischen Gegebenheiten sehr schwierig ist, Handlungsfähigkeit, die über die „alltägliche lebenspraktische und psychosoziale Selbsterhaltung“ (Scherr 2013: 240) hinausgeht, herzustellen. Den Schilderungen zufolge verliert man kostbare Zeit, indem man beispielsweise den ganzen Tag auf einer Behörde in der Schlange steht (vgl. Z. 94) oder man sich Gedanken und Sorgen um seine Gesundheitsversorgung machen muss (vgl. Z. 59f.). Hat man nicht genügend finanzielle Mittel oder die richtigen Kontakte, ist man schlecht ausgebildetem medizinischen Personal und deren willkürlicher Verabreichung von Medikamenten ausgesetzt. In der Erzählung wird deutlich, wie eingeschränkt sich Raza von den korrupten Strukturen seines Heimatlandes fühlt. Im Gegensatz dazu schätzt er das deutsche System, welches er als „sehr sehr wichtig“ (z. 46) ansieht und gerne auch in Pakistan vorfinden würde. An dieses funktionierende System zahlt er auch „gerne“ (Z. 332) Steuern, da er sich dessen Vorteile bewusst ist und seinen Teil dazu beitragen möchte. [2] Damit wird ersichtlich, dass die verlässlichen Strukturen, welche Raza in Deutschland durch das System gewährleistet empfindet, für den Befragten einen ermöglichenden Rahmen schaffen, in welchem Handlungsfähigkeit, welche über die Verfolgung von Gewohnheiten hinausgeht, herausgebildet werden kann (vgl. erste Frage bei Emirbayer und Mische [1998]).

Gleichzeitig lässt sich eine temporale Komponente bezüglich der Einstellung zum System identifizieren. So scheint Raza die Unterstützung anfangs als eine Art Starthilfe zu nutzen und ist froh um eine Versicherung, eine grundlegende medizinische Versorgung sowie der Möglichkeit, Deutsch zu lernen. Das System dient Raza als Kontext, um zu mehr Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit zu gelangen und sich damit gleichzeitig mehr, und so gut wie möglich, vom System und seiner Gebundenheit an dieses, zu lösen. Denn als ein weiterer zentraler Aspekt in Razas Leben, der vor dem Hintergrund der anderen Überlegungen betrachtet werden muss, ist Unabhängigkeit. Dies wird an mehreren Stellen der Erzählung deutlich: So will er sich nicht von sozialen Kontakten und deren Sprachkenntnissen abhängig machen, will nicht in finanzieller Schuld von anderen stehen und betont stolz, dass er seit Erhalt der Arbeitserlaubnis, keine finanziellen Leistungen mehr vom Staat bekommt. Zusätzlich zur Vorstellung von einer festen Arbeitsstelle in Zukunft erzählt er nach dem Interview (vgl. Interviewprotokoll), dass er davon träumt, später ein eigenes kleines Restaurant aufzumachen, was ein weiterer Schritt in Richtung Unabhängigkeit ist. Das Unabhängigkeitsstreben ist bei Raza ebenso mit einer Normalitätsvorstellung verbunden, was in seiner Erzählung über sein zukünftiges Leben, in welchem er einfach glücklich und normal leben will, zum Vorschein tritt. Der Befragte möchte ein Leben führen, in welchem er selbstbestimmt ohne Unterstützung leben kann, und welches er nach seinen Wünschen und Vorstellungen gestalten kann.

Bei der Interpretation des Interviews lässt sich ebenso die im Agency-Konzept vertretene Vorstellung über die Fähigkeit von Individuen, sich gleichzeitig in unterschiedlichen Kontexten zu bewegen, bestimmen (vgl. zweite Frage bei Emirbayer und Mische [1998]). So findet beispielsweise Raza sofort nach Erhalt einer Arbeitserlaubnis eine Arbeitsstelle und ist von da an finanziell unabhängig. Zeitgleich präsentiert er sich dazu als isoliert, einsam und sehr passiv im Wohnheim, nachdem sein Mitbewohner ausgezogen ist. Sein Tag besteht lediglich aus Arbeiten und „Zuhausesein“, er scheint keine wirklichen sozialen Kontakte außerhalb der Arbeit zu knüpfen und scheint diesen Zustand eher passiv zu ertragen als aktiv etwas daran zu ändern. Dies verdeutlicht die relationale Einbettung des handelnden Akteurs, dessen Agency nicht als gegebene Eigenschaft, sondern als kontextuell situierte Fähigkeit verstanden werden muss.

Bei der Betrachtung von Razas Erzählung ist bemerkenswert, wie der Befragte selbst in sehr einschränkenden Strukturen die geringen vorhandenen Ressourcen nutzt. So ist er sich seiner anfänglichen Hilflosigkeit in Deutschland bewusst und ist dankbar um das Sozialamt, das ihn in Form einer Unterkunft und finanziellen Mitteln unterstützt. Es scheint, als ob er sich trotz objektiv vorzufindender Ohnmacht gegenüber einschränkenden Strukturen zu gewissen Teilen als handlungsfähig wahrnimmt. Dies lässt sich auf die Tatsache zurückführen, dass er Unterstützungsprozesse nicht (immer) als Entmündigung und Fremdbestimmung wahrnimmt, sondern ebenso als Mittel, um verlorene Agency wiederherzustellen. Somit lässt sich Raza in dem ihm vorgegebenen strukturellen Kontext als bedingt handlungsfähig konzipieren, indem er sich Wegen bewusst ist, wieder ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Damit sieht er die positiven Aspekte der Hilfe und Unterstützung, auf die er trotz allem angewiesen ist. Es lässt sich ein pragmatischer Umgang mit der Abhängigkeit vom System erkennen, indem er es, so gut wie möglich, für seine Zwecke nutzt. Der Befragte weiß, wie er innerhalb von vorgegebenen Kontexten und Strukturen handeln kann und muss, um persönliche Möglichkeitsräume zu erweitern. So erzählt er im Anschluss an das Interview, dass er gerne eine Kochausbildung machen möchte. Er fügt dem hinzu, dass er zwar schon sehr oft als Koch gearbeitet hat und deshalb sehr gut kochen kann, er jedoch weiß, dass man in Deutschland formelle Abschlüsse braucht, um bestimmte Positionen bzw. Stellen zu besetzen (vgl. Interviewprotokoll). Raza eignet sich hier, gemäß der oben präsentierten Definition von Agency, „kulturelle Kategorien sowie Handlungsbedingungen auf der Grundlage persönlicher (…) Interessen [an, um sie] potentiell zu verändern“ (Scherr 2012: 108).

In den Zeiten, in denen der Befragte einem Arbeitsverbot unterliegt und in den beengenden Verhältnissen der Gemeinschaftsunterkunft leben muss, lässt sich seine Agency als Wissen über erschließbare Möglichkeiten der (Wieder-)Herstellung dieser, konzipieren (vgl. Bender et al. 2013: 262). So findet eine eindeutige Problemerkennung in Bezug auf die mangelnden Sprachkenntnisse und der folgenreichen Bewältigung des Alltages statt. Raza ist sich dessen bewusst und nimmt aktiv Einfluss auf diese einschränkenden Lebensbedingungen, indem er sich darum „kümmert“ (Z. 416), die Sprache zu lernen. Dabei lässt sich eine projektive Dimension von Agency herausarbeiten: Der Befragte lässt sich, bis auf wenige Stellen, von den restriktiven Bedingungen, die sich nur zum Teil verändern lassen, nicht entmutigen, sondern hofft auf eine Besserung in der Zukunft. Auf diese wartet er jedoch nicht nur untätig, sondern handelt vor dem Hintergrund gemachter Erfahrungen und der Vorstellung einer besseren Zukunft.

Emirbayer und Mische (1998) beziehen in ihre Konzeption von Agency ebenso die Rekonstruktion bzw. reflexive Auseinandersetzung derer mit ein. So wird Agency gemäß der Theorie ebenso retrospektiv erlangt und verändert, indem Akteure ihre Handlungen und ihre Handlungsfähigkeit bewerten und beurteilen können (vgl. dritte Frage bei Emirbayer und Mische [1998]). An einigen Stellen des Interviews äußert sich Raza explizit zu von ihm bewältigten Herausforderungen (vgl. Z. 422), wodurch eine gegenwärtige Rekonstruktion von vergangener Handlungsfähigkeit und Einflussnahme auf Handlungsbedingungen ersichtlich wird. Als Folge des Erwerbs einer Arbeitserlaubnis nach einem Jahr sowie verbesserter Sprachkenntnisse nennt Raza die Tatsache, nun „überall“ (Z. 328) arbeiten zu können und dank seiner Deutschkenntnisse „überall“ (Z. 428) selbstständig hingehen zu können. Diese Aussagen sind im Zusammenhang mit den bei Schütze (1983) in der Theorie verankerten evaluativen Äußerungen im Rahmen einer Wissensanalyse interessant zu betrachten. Faktisch gesehen besitzt Raza zwar eine Arbeitserlaubnis, da er aber weder in Pakistan noch in Deutschland eine formale Ausbildung durchlaufen hat, ist davon auszugehen, dass ihm auch gegenwärtig aufgrund dessen der Zugang zu vielen, vor allem besser bezahlten, Arbeitsstellen verwehrt bleibt. Betrachtet man die Wahrnehmung des Befragten von fast schon grenzenlosen Möglichkeiten im Rahmen seines „lebensgeschichtlichen Ereignisund Erfahrungsrahmen“ (Schütze 1983: 265), hier vor allem eingegrenzt auf die Zeit in Deutschland, wird deren Entstehung und Funktion verständlich. So erscheint sowohl der Arbeitsmarkt als auch das deutsche Alltagsleben nach den vorherigen Einschränkungen durch Arbeitsverbot und Vorrangprüfung sowie fehlender Kommunikationsmöglichkeit nun als „bezwingbar“ und offen für den Befragten und seine Bemühungen. Gleichzeitig schafft Raza sich dadurch erweiterte Handlungsund Gestaltungsoptionen, wodurch eine verstärkte Wahrnehmung der Selbstwirksamkeit erreicht wird.

Zu beachten ist hinsichtlich dieser Beobachtungen die Tatsache, dass Raza zum Zeitpunkt des Interviews bereits mit seiner deutschen Frau verheiratet ist und sich sicher ist, zeitnah eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Es kann vermutet werden, dass der Befragte aus dieser Situation einer gewissen Sicherheit heraus Agency in besonderer Weise (re-)konstruiert. Doch diese, in diesem Falle positive, Rekonstruktion, hat nach Emirbayer und Mische (1998) Einfluss auf die jetzige Handlungsfähigkeit. So wirken subjektivierte Zuschreibungen von Handlungsfähigkeit in der Vergangenheit und damit positive Erlebnisse bezüglich der Selbstbestimmungsfähigkeit förderlich auf die aktuelle Handlungsfähigkeit und Selbstwahrnehmung des Befragten bezüglich gegenwärtigen Problemlagen (vgl. ebd.: 1010ff.).

Trotz der skizzierten Handlungsfähigkeit in Form von Nutzung von und Wissen über Unterstützungsprozesse wird jedoch bei Betrachtung des Interviews von Raza ebenso deutlich, welchen gravierenden und beschränkenden Einfluss der Status der Duldung auf Handlungsund Lebensgestaltungsoptionen hat. Die mit einer Duldung verbundenen Regelungen und Bestimmungen tangieren alle Lebensbereiche – von der Erfüllung existenzieller Bedürfnisse über die Art des Wohnens bis zur Möglichkeit der eigenständigen Lebenssicherung. Raza lässt sich in dem Maße als handlungsfähig konzipieren, als dass er, sobald sich Handlungsoptionen auftun, diese erkennt und nutzt. Gleichzeitig stoßen seine Bemühungen um Selbstbestimmung jedoch auch an unveränderliche Grenzen in Form von restriktiven Gesetzen und Regelungen der deutschen Asylpolitik. An manchen Stellen erscheinen diese fehlenden Möglichkeiten nicht durch Ressourcen des Befragten kompensiert werden zu können. Die einschränkenden Strukturen wirken übermächtig und verhindern, dass Ziele mithilfe von persönlichen Fähigkeiten und Kapazitäten erreicht werden können (vgl. Bender et al. 2013: 265). Es wird erkennbar, welcher Fremdbestimmung Akteure während einer Duldung ausgesetzt sind und welche Anstrengung es sie kostet, in diesen Strukturen ein gewisses Maß an Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten bzw. zu erlangen. Gleichzeitig wird in Razas Erzählung erkennbar, wie viele neue Gestaltungsmöglichkeiten sich beim Wegfall der Duldung plötzlich auftun (vgl. Z. 462ff.), wodurch der erhebliche Beitrag dieser zur Beschränkung der Handlungsfähigkeit der Personen erneut sichtbar wird.

Anhand der Interpretationen lässt sich für Razas Fall feststellen, dass, entsprechend der hier verwendeten Agency-Konzeption, soziale Strukturen sowohl beschränkend als auch ermöglichend sein können und dementsprechend als solche entworfen werden müssen. Die zunächst offensichtlich einschränkenden Strukturen werden von Raza in dem Sinne genutzt, als dass sie ihm zu einem gewissen Maß an Handlungsfähigkeit und Unabhängigkeit verhelfen, indem er sich ihrer Verlässlichkeit gegenüber des pakistanischen Systems bewusst ist und finanzielle Zuwendungen als auch vorhandene Zeitfenster nutzt, um die Sprache zu lernen, Geld für eine eigene Wohnung zu sparen und Zukunftspläne zu entwerfen. Dabei werden, wie an anderen Stellen auch, die Wechselwirkung und das Zusammenspiel von individueller Selbstbestimmung und sozialer Bestimmtheit offenkundig. Der Befragte nimmt die Handlungsbedingungen und die ihn umgebenden Strukturen und die daraus resultierenden Spielräume wahr. Diese bedingen damit seine unterschiedlich ausgerichteten Handlungen und die Ausprägung seiner Handlungsfähigkeit. Durch diese verändert er jedoch wiederum Strukturen und Kontexte, indem er sich beispielsweise durch das Erlernen der Sprache weitere Bereiche des Alltages zugänglich macht oder indem er durch eine Ausbildung seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhöht.

  • [1] Der Befragte verweist in seiner Erzählung häufig auf das deutsche bzw. pakistanische „System“. Da er dies nicht weiter differenziert, wird dieser Begriff hier ebenfalls verwendet. Damit gemeint ist damit das Gesundheitssystem, aber auch das Sozialsystem als auch das allgemeine deutsche Gesellschaftssystem als Organisationsform und gesellschaftliche Struktur.
  • [2] Dabei ist auffällig, dass er auf der einen Seite begeistert von der Nützlichkeit und Funktionalität verschiedener Bereiche des deutschen Systems redet. Auf der anderen Seite ist dies auch das System, aufgrund dessen Regelungen er beispielsweise in einer Gemeinschaftsunterkunft wohnen musste und nur eine Duldung besitzt, unter welchen Umständen er offensichtlich zu leiden hatte. In der Erzählung Razas kommt es dabei jedoch zu keiner Verknüpfung der unterschiedlichen Bereiche bzw. Auswirkungen des Systems.
 
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