Arbeit und Ausbildung

Arbeit stellt sich als zentrale soziale Struktur, in die Flüchtlinge involviert sind, dar. Bei der Gegenüberstellung der fünf Interviews wird ersichtlich, dass die Bedeutung von Arbeit oder Ausbildung unterschiedliche Formen annimmt und dabei Individuen ein unterschiedliches Maß an Handlungsfähigkeit auf verschiedene Art und Weise erlangen können. Dabei lässt sich erkennen, dass je nach Situierung der Personen, welche wiederum stark von den Strukturen der Aufenthaltssituation geprägt ist, eine andere Ausprägung von Handlungsfähigkeit und verschiedenartige Motive und Absichten in Bezug auf Arbeit ausgebildet werden. Es lässt sich deutlich das Zusammenspiel von individueller Selbstbestimmung und sozialer Bestimmtheit bzw. der Einfluss der Strukturen auf die Akteure und vice versa beobachten.

Wie nicht anders zu erwarten, stellt das durch die aufenthaltsrechtliche Situation bedingte Arbeitsverbot eine nicht zu überwindende Grenze für die Personen, die dieser unterliegen, dar. Ein Eintritt in die Arbeitswelt ist damit, ungeachtet jeglicher Anstrengungen, nicht möglich. Die Tatsache, nicht selbstständig für seinen Lebensunterhalt aufkommen zu können und von finanziellen Zuwendungen abhängig zu sein, verstärkt die am Anfang oftmals vorherrschende Hilflosigkeit und Ohnmacht (vgl. Interview Raza Z. 289).

Die Aufhebung des Arbeitsverbotes ist jedoch nicht mit einem Wegfall aller hinderlichen Strukturen verbunden. So stellt es sich in einigen Fällen als schwierig dar, mit einer Duldung eine Arbeit oder eine Ausbildung zu finden. Dabei stoßen die individuellen Bemühungen bei der Suche nach einer Arbeit oder einer Ausbildungsstelle auf die Skepsis der ArbeitgeberInnen, welche die unsichere und immer auf drei bzw. sechs Monate begrenzte Aufenthaltsperspektive augenscheinlich als zu riskant für eine Einstellung erachten (vgl. Interview Nazim Z. 155). Rechtliche Bestimmungen wirken damit stark auf individuelle Anstrengungen, welche unter bestimmten Umständen aufgrund dessen erfolglos bleiben.

Somit bleibt manchen Personen der Zugang zur Arbeit verwehrt, mithilfe derer jedoch der Möglichkeitsraum und damit die Handlungsfähigkeit erhöht werden kann. Arbeit dient dabei nicht nur der Steigerung der finanziellen Mittel, sondern ist zugleich ein Weg, sich in die Gesellschaft zu integrieren und damit eine Art sozialer Akzeptanz zu erreichen (vgl. Interview Raza Z. 331ff.). Zudem ist es ein Mittel, um Unabhängigkeit gegenüber dem Staat und dessen finanziellen Leistungen sowie gegenüber Familienmitgliedern, zu erlangen (vgl. Interview Raza Z. 316). Ist eine gewisse Sicherung durch eine feste Arbeitsstelle erreicht, können Pläne für die Zukunft in Form von selbstständiger Erwerbstätigkeit oder Familiengründung imaginiert werden (vgl. Interview Fadil, Nazim, Raza, Shaikh).

Es zeigt sich auf der einen Seite ein sehr selbstbewusster Umgang bei der Suche nach einer Arbeit bzw. einer Ausbildungsstelle. Diese dient dabei der Erfüllung von persönlichen Interessen und geht dabei über die bloße Bedeutung des Geldverdienens hinaus. So hat Fadil seine Ausbildung zum Metzger/Fleischer nach kurzer Zeit abgebrochen, nachdem er feststellte, dass dies nicht der richtige Beruf für ihn ist (vgl. Interview Fadil Z. 37). Nun versucht er, eine Ausbildung als Tontechniker zu beginnen, was seinen Interessen mehr entspricht (vgl. Interview Fadil Z. 47). Diese Handlungsentscheidung beinhaltet eine starke projektive Komponente von Handlungsfähigkeit, da die zukünftige Vorstellung der Situierung im Berufsleben die aktuellen Handlungen, wie etwa der Abbruch einer Ausbildung, begründet. Mit dieser Entscheidung gibt Fadil die Sicherheit, die ein Ausbildungsplatz mit sich bringt, zugunsten einer Tätigkeit, von der er sich in Zukunft mehr Freude verspricht, auf. Eine solche Entscheidung lässt sich bei Fadil unter anderem auf die Gewissheit zurückzuführen, im Besitz einer abgeschlossenen Schulausbildung zu sein und damit erhöhte Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben (vgl. Interview Fadil Z. 33).

Auf der anderen Seite lässt sich, notgedrungen, ein sehr pragmatischer und zweckgebundener Umgang bei der Suche nach einer Arbeit oder Ausbildung beobachten. Eine Ausbildungsstelle oder ein festes Arbeitsverhältnis sind dabei Bedingung für einen weiteren Aufenthalt in Deutschland und stellen damit einen unumgänglichen Weg zu einer erhöhten Handlungsfähigkeit, die dann gegebenenfalls über die bloße Bewältigung des Alltages hinausgehen kann, dar. Arash ist sich der eingeschränkten Optionen, die der Arbeitsmarkt für geduldete Flüchtlinge ohne Schulabschluss und Ausbildung bietet, bewusst (vgl. Interview Arash Z. 84). Arbeit dient bei ihm damit der Gewährung eines finanziellen Minimums. Innerhalb dieser Konstellation ist Arash nicht fähig, sich eine Ausbildung, die seinen Interessen entspricht, auszudenken bzw. dies im Interview zu artikulieren (vgl. Interview Arash Z. 84). Eine ähnliche Situation findet sich wie bereits dargestellt bei Nazim, welcher gerne eine Ausbildung zum Maler machen würde, aufgrund der Dringlichkeit eines Arbeitsverhältnisses oder einer Ausbildungsstelle jedoch derzeit auch andere Gelegenheiten wahrnehmen würde (vgl. Interview Nazim Z. 378). Bei Shaikh zeigt sich sehr stark die soziale Komponente der Arbeit: Dies ist der Ort an dem er mit deutschen Personen in Kontakt kommt, mit denen er Deutsch sprechen kann und die er als Netzwerk z.B. bei der Suche nach einer Wohnung, wahrnimmt (vgl. Interview Shaikh Z. 76, 132).

Somit lässt sich zusammenfassend feststellen, dass für manche Personen der Erhalt einer Arbeit mit einer erhöhten und vor allem kreativeren Handlungsfähigkeit, welche alternative Möglichkeiten in der Zukunft erschaffen und somit Strukturen verändern kann, verknüpft ist. Für andere Personen reicht die Funktion einer Arbeit nicht über die Befriedigung der existentiellen Bedürfnisse hinaus und wirkt damit oft strukturreproduzierend. Selbst wenn eine Arbeit gefunden wird, kann diese die Handlungsfähigkeit nur sehr gering erhöhen, da sie sich beispielsweise im Niedriglohnsektor befindet und damit weder die finanziellen Mittel erheblich gesteigert werden können noch ein Beruf nach den eigenen Interessen und Fähigkeiten ausgeübt werden kann.

 
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