Fazit
Ähnlich wie in Laos (und China) ist Vietnam ein kommunistischer Einparteienstaat im Übergang. Die Kommunistische Partei hat die zentralgelenkte Planwirtschaft zugunsten einer „multisektoralen“, „sozialistischen Marktwirtschaft“ aufgegeben und befindet sich auf der Suche nach neuen Legitimationsquellen. Die KPV ist heute keine Revolutionspartei mehr, welche die Utopie einer kommunistischen Gesellschaft zum Ziel hat und einen neuen Menschen schaffen will, sondern eine Machterhaltungspartei. Als Vorteile erwiesen sich in der Vergangenheit die starke Kohäsion der Machtelite und das Fehlen eines dominanten politischen Führers. Was das Regime vor allem von anderen kommunistischen Diktaturen wie in Laos, China und Kuba, oder gar von Nordkorea, unterscheidet, ist der relativ hohe Grad an innerparteilicher Machtdiffusion, die Erprobung einer Reihe von neuen Instrumenten der (innerparteilichen) Konsultation und der Versuch, durch Stärkung einzelner Elemente von (begrenzter) politischer Konkurrenz und institutioneller Rechenschaftspflicht, öffentliche Unterstützung und politische Zustimmung zu maximinieren. Diese Versuche bewegen sich stets innerhalb dessen, was in der Partei konsensfähig ist und im Rahmen der Institutionenordnung des Parteistaats. Verglichen mit anderen kommunistischen Einparteienstaaten ist Vietnam ein lernfähiges, institutionell adaptives und innovationsfreudiges politisches System. Im Vergleich zu den nicht-kommunistischen Diktaturen und den (defekten) Demokratien in der Region, ist Vietnam weiterhin aber eines der repressivsten und abgeschlossensten politischen Regime. Was nicht (mehr) praktiziert wird, sind allerdings Massenmorde, Terror oder Internierung zwecks Vernichtung, wie sie in totalitären Regimen zu beobachten waren (stalinistische Sowjetunion, China während der sogenannten Kulturrevolution) bzw. noch sind (Nordkorea).
Dabei hat es das Regime in den knapp vier Jahrzehnten seit dem Ende des Kriegs 1975 verstanden, die Konfiguration seiner Stabilitätsstützen an die sich verändernden internationalen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anzupassen und hierdurch seine Lebensspanne zu verlängern. Diese Anpassungsstrategien sind keineswegs einzigartig. Sie kommen in unterschiedlichen Formen und Kombinationen in vielen kommunistischen Autokratien vor (Dimitrov 2013). Wenn das eigene politische Überleben als oberste Maxime des politischen Handelns der Herrschenden angenommen wird, war das kommunistische Regime mit seiner Strategie der einseitigen wirtschaftlichen Transformation und vereinzelter institutioneller Anpassungen bislang erfolgreich. Begreift man die Kommunistische Partei als das Machtzentrum des Regimes, lässt sich das Verhältnis von Nationalkongress, Zentralkomitee und Politbüro mit der Selektoratstheorie von Bueno de Mesquita (2003) als Beziehung von „Selektorat“, „Gewinnerkoalition“ und „Regimeführung“ beschreiben (vgl. Malesky et al. 2011, 2013). Demnach bildet der Nationalkongress die Gruppe der nominell an der Auswahl der politischen Führung beteiligten Personen („Selektorat“). Das Zentralkomitee ist die „Gewinnerkoalition“, d. h. jene Mitglieder des Selektorats, deren Unterstützung die Regimeführung benötigt um an der Macht zu bleiben. Das Politbüro, das vom ZK gewählt wird, bildet die „Regimeführung“. Diese Konstellation ist vergleichbar mit anderen kommunistischen Einparteienstaaten. Was Vietnam von der Sowjetunion, der Volksrepublik China oder Kuba unter der Führung von Fidel Castro unterscheidet, ist die relativ starke Stellung des ZK gegenüber dem Politbüro. Dies zwingt das Politbüro und die Regierung zur Konstruktion breiter Entscheidungskoalitionen, welche die Vielzahl der sektoralen und regionalen Interessen im Zentralkomitee berücksichtigen (Abrami et al. 2013). Folgt man den Annahmen der Selektoratstheorie, so ist dies auch für die Politikleistungen und das Staatstätigkeitsprofil der vietnamesischen Autokratie relevant (Abrami et al. 2013; kritischer hingegen: Gallagher und Hanson 2013).
Im Hinblick auf die Perspektiven autokratischer Regimestabilität fällt eine Prognose naturgemäß schwer. Einerseits gibt es bislang und aus den genannten Gründen, keine Anzeichen für die Formierung einer gesellschaftlich breiten Demokratiebewegung oder gar einer Massenmobilisierung nach dem Muster der Aufstände im arabischen Raum um die Jahreswende 2010/11. Andererseits sprechen die erwähnten Episoden gesellschaftlichen Protests, die zunehmend größere Heterogenität der Interessen und Akteurskoalitionen innerhalb der autoritären „Gewinnerkoalition“ und das höhere Niveau der „Humanentwicklung“ (Inglehart und Welzel 2007) dafür, dass die horizontalen (d. h., aus der Regimekoalition selbst) und vertikalen (aus der Gesellschaft) Herausforderungen für Regimestabilität tendenziell zunehmen werden. Daher sind die Stabilitätsaussichten des politischen Regimes in Vietnam deutlich skeptischer zu beurteilen, als beispielsweise in Laos, dem am ehesten mit Vietnam vergleichbaren Typ der Autokratie in Südostasien.