Zum Stand der politikwissenschaftlichen Südostasienforschung
Die enorme soziale, politische, kulturelle und wirtschaftliche Heterogenität der Region schlägt sich nieder in einer Vielzahl unterschiedlicher methodischer Herangehensweisen, analytischer Erklärungsperspektiven, theoretischer Grundannahmen und empirischer Forschungsinteressen. Somit entzieht sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit Politik in Südostasien – mehr noch als andere Forschungsregionen – einfachen Generalisierungen zum „state of the art“ (Rüland 2006, S. 83).
Hinzu kommt, dass die Südostasienstudien – im Unterschied etwa zu der traditionell sehr gut integrierten Lateinamerikaforschung – als einheitliches und klar definiertes Forschungsgebiet kaum existieren. So ist das Feld nicht nur entlang der fachdisziplinären Trennungslinien von Geschichtswissenschaften, Ethnologie, Anthropologie, Soziologie, Ökonomie und Politikwissenschaft fragmentiert, sondern fast noch stärker entlang geographischer Grenzen. Dies lässt sich zum einen auf die Tatsache zurückführen, dass die Südostasienforschung lange Zeit in der Tradition der Arbeiten kolonialer Verwaltungsgelehrter französischer, britischer und holländischer Herkunft stand, welche die westlich beherrschten Gesellschaften vorrangig unter dem Aspekt der besseren ökonomischen Ausbeutung und politischen Kontrolle durch die Kolonialmacht studierten. Dadurch wirkte die politisch-administrative Fragmentierung der Kolonialzeit in die frühe Phase des Faches hinein und wurde fortgeschrieben (SSRC 2000, S. 7; Korff und Schröter 2006). Zum anderen reflektiert dies die Wirkung bestehender Forschungsbarrieren, die sich aus der großen kulturellen und sprachlichen Heterogenität der Region ergeben. Darüber hinaus hat die Fragmentierung der Forschungslandschaft aber auch mit dem „wissenschaftlichen Parochialismus“ vieler Südostasienwissenschaftler zu tun, wie vom amerikanischen „Social Sciences Research Council“ (SSRC) vor einigen Jahren kritisch angemerkt wurde (SSRC 2000, S. 14). Allzu oft endet das Interesse von Südostasienexperten an den Grenzen des Landes zu dem sie selbst arbeiten, während Forschung, die sich mit ähnlich gelagerten Problemen in anderen Ländern der Region beschäftigt, ignoriert wird.
Gleichwohl lassen sich Grundmuster und Schwerpunkte der neueren Forschungslandschaft benennen. Mit Blick auf die Forschungsansätze in der politikwissenschaftlichen Südostasienforschung haben Erik Kuhonta und seine Mitautoren (2008) eine solche Bestandsaufnahme geleistet. Sie betonen zu Recht die besondere Bedeutung der komparativ-historischen Analyse („comparative historical analysis“) für die angelsächsische Forschung. Als Forschungsstrategie ist die komparativ-historische Analyse definiert durch das Bemühen um Kausalanalyse, die Betonung zeitlicher Prozesse, die Nutzung des systematischen und kontextualisierten Vergleichs sowie den Fokus auf „große Fragen“ (Mahoney und Rueschemeyer 2003, S. 7). Das Forschungsinteresse gilt der Identifikation und Erklärung kausaler Mechanismen, d. h. jener Prozesse, die „hinter“ den beispielsweise in quantitativen Analysen ermittelten Kausaleffekten „stecken“. In theoretischer Hinsicht resultiert hieraus eine Präferenz für Theorieansätze, die makrosoziale Strukturen und die historischen Sequenzialitäten institutioneller Prozesse betrachten sowie in methodischer Hinsicht die Vorliebe für den „qualitativen Vergleich“ (Kuhonta et al. 2008) mit kleiner Fallzahl oder Einzelfallstudien.
Darüber hinaus lassen sich zwei weitere Charakteristika des Forschungsgebiets benennen. Das ist erstens der mit der Vorliebe für Einzelfallstudien einhergehende Fokus auf einige wenige Länder. Eine Sonderstellung haben vor allem Vietnam in der sozialwissenschaftlichen Forschung im Allgemeinen und Indonesien in der Politikwissenschaft im Besonderen (Kuhonta et al. 2008). Zwar gab es seit Anfang des Jahrtausends vermehrt auch Publikationen zu Thailand und Singapur. Jedoch stehen beide Länder – ebenso wie die Philippinen und Malaysia – deutlich im Schatten der beiden anderen Staaten. Eine geringe Rolle spielen Brunei, Burma, Kambodscha, Laos sowie Osttimor. Singapur ist zudem für die politikwissenschaftliche Forschung vor allem als Forschungsort von Bedeutung (vor allem am renommierten Institute of Southeast Asian Studies), weniger jedoch als Forschungsgegenstand. Während das Gros der Publikationen einzelne politische Systeme in den Blick nimmt, sind vergleichende Analysen weiterhin die Ausnahme. Allerdings haben vor allem das in den letzten Jahren gestiegene Forschungsinteresse an Demokratisierungsprozessen sowie die auch für Südostasien zu beobachtende Renaissance der Autokratien-Forschung dazu beigetragen, Teile der Südostasienforschung näher an die disziplinäre Forschung heranzuführen. Zudem verdeutlichen neuere Studien zu Parlamenten (Rüland et al. 2005), zu Demokratie und Diktatur (Slater 2010), zu politischen Parteien und Parteiensystemen (Hicken 2009; Hicken und Kuhonta 2014) sowie zu Prozessen der Staatsbildung (Vu 2010), dass inzwischen auch die komparative Forschung mit theoriebildendem Anspruch auf dem Vormarsch ist (vgl. auch Case 2015).
Das zweite Charakteristikum ist die lange Zeit schwache Anbindung der Südostasienforschung an die aktuelle politikwissenschaftliche Forschung, besonders die vergleichende Politikwissenschaft. Zwar sind die Gräben zwischen Regionalstudien (area studies) und den sozialwissenschaftlichen Fachdisziplinen in der deutschen Asienforschung einschließlich der Südostasienforschung traditionell tiefer als andernorts. Doch auch in den USA wurde lange Zeit ein heftiger Streit geführt zwischen traditioneller Regionalwissenschaft, deren primäres Ziel darin besteht, möglichst umfangreiches Wissen über ein Land oder eine Region zu schaffen, und der generalistisch ausgerichteten Politikwissenschaft, für die Regionen oder Länder vorrangig Testgebiete für die eigenen Theorien und Methoden sind (Kuhonta et al. 2008, S. 3 f.).
In dieser oft polemisch geführten Debatte hat erst seit einigen Jahren die Einsicht zu reifen begonnen, dass zwischen traditionellen area studies und area-based knowledge differenziert werden muss (Heilbrunn 1996). Letzteres bezeichnet einen Prozess der Erzeugung von Wissen, der mit Erkenntnissen über eine Region oder ein Land beginnt. Dieses Wissen wird dann dazu verwendet, um Trends und Phänomene zu untersuchen, die über die Grenzen einer bestimmten Region hinausreichen. In diesem Sinne bedeutet das Lernen über Werte oder soziale Bedingungen, Prozesse und Strukturen in einer bestimmten Region, mehr darüber zu erfahren, wie diese Region innerhalb sozialer Phänomene verortet ist, die über geographische Grenzen hinausreichen, wenngleich die Phänomene weiterhin in ihren jeweiligen lokalen oder nationalen Kontexten betrachtet werden (Prewitt 2002, S. 8). Das heißt nicht, dass es keine für die vergleichende Politikwissenschaft relevante Forschung auf dem Gebiet der Südostasienstudien gibt. In ihrer Darstellung zur Position der Südostasienforschung in der angelsächsischen Politikwissenschaft haben Erik Kuhonta und seine Mitautoren (Kuhonta et al. 2008) dargelegt, wie vielfältig die Palette der exzellenten Forschung ist. Gleichwohl orientiert sich nur ein vergleichsweise kleiner Teil der Forschung am Ideal einer theoretisch informierten, methodisch reflektierten und komparativ geschärften politikwissenschaftlichen Analyse.
In der Politikwissenschaft, ebenso wie in der Soziologie und den geisteswissenschaftlichen Fächern, sind Sammelbände und Monographien (noch) die bedeutendste Publikationsform. Allerdings werden Zeitschriftenartikel als Publikationsart immer wichtiger (Schneider 2009). Das Publikationsverhalten deutschsprachiger Forscher folgt hier dem
Tab. 2.5 Regionalforschung in ausgewählten politikwissenschaftlichen Zeitschriften (1990–2005)
PVS& ZPol |
Comparative Politics, CPS & World Politics |
Journal of Democracy & Democratization |
|
Afrika |
0,5 % |
9,1 % |
20,3 % |
Lateinamerika |
2,2 % |
26,8 % |
15,6 % |
Westeuropa (inklusive Deutschland) |
79,9 % |
24,5 % |
4,6 % |
Nordamerika |
5,4 % |
3,9 % |
1,4 % |
Osteuropa |
4,3 % |
14,0 % |
22,7 % |
Nordafrika und Mittlerer Osten |
2,7 % |
5,4 % |
11,4 % |
Ostasien |
3,2 % |
13,4 % |
12,6 % |
Südostasien |
1,1 % |
1,9 % |
6,5 % |
Südasien |
0,5 % |
2,1 % |
4,3 % |
Total |
N = 184 |
N = 685 |
N = 835 |
Gezählt wurden nur Artikel mit Analysen zu einem oder mehreren politischen Systemen (einschließlich Deutschland), nicht jedoch Beiträge zur Politischen Theorie, den Internationalen Beziehungen, Wissenschaftstheorie und Methoden der Politikwissenschaft, Literaturberichte oder Untersuchungen mit hoher Fallzahl, die nicht eindeutig einer Region zuzuordnen waren.
angelsächsischen Trend. Unabhängig davon, ob man dem amerikanischen Forschungsund Publikationsstil viel abgewinnen kann oder davon wenig hält, ist zu konstatieren, dass „begutachtete“ („peer-reviewed“) Zeitschriften auch in den Sozialwissenschaften ein zunehmend zentraler Ort geworden sind, an dem wichtige Forschungsergebnisse zuerst publiziert werden. Die Einzelanalyse von sechs politikwissenschaftlichen Fachzeitschriften (Tab. 2.5) lässt die schwache Präsenz der politikwissenschaftlichen Südostasienforschung in der deutschen und englischsprachigen vergleichenden Politikwissenschaft besonders deutlich hervortreten. Stellvertretend für die deutschsprachige Politikwissenschaft wurden die Politische Vierteljahressschrift (PVS) sowie die Zeitschrift für Politikwissenschaft (ZPol) ausgewählt, für die amerikanische vergleichende Politikwissenschaft die Zeitschriften World Politics, Comparative Politics und Comparative Political Studies (CPS). Zusätzlich wurden das Journal of Democracy und die Zeitschrift Democratization als die derzeit wichtigsten Fachzeitschriften auf dem Gebiet der vergleichenden Demokratisierungsforschung untersucht.
Beiträge zu Südostasien (Region oder einzelne Länder) spielen in den deutschsprachigen Zeitschriften eine geringe Rolle. Dies gilt im Grunde aber für die meisten Weltregionen außerhalb von Westeuropa. Das Ergebnis veranschaulicht also weniger eine besondere Schwäche der Südostasienforschung als vielmehr den traditionell geringen Stellenwert der Analyse der außereuropäischen politischen Systeme in der deutschen Politikwissenschaft und ihre Ausrichtung auf das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Dies erklärt jedoch nicht die ähnlich schwache Vertretung der Forschungsregion in den traditionell breiter ausgerichteten amerikanischen Fachzeitschriften (vgl. Tab. 2.5). Zum Teil könnte das schlicht daran liegen, dass weniger Komparativisten zu Südostasien forschen und publizieren, als zu anderen Regionen. Ebenso ist es möglich, dass sich hierin ein Stück weit die Präferenz der disziplinären Forschung für stärker methodologisch und theoretisch fokussierte Forschung widerspiegelt. Dennoch bleibt zu konstatieren, dass die Südostasienforschung weniger präsent ist in den disziplinären Publikationsorganen und daher sowohl in der vergleichenden Politikwissenschaft als auch von der Disziplin insgesamt kaum wahrgenommen wird.