Vergleich und Ausblick

Einleitung

In diesem abschließenden Kapitel soll ein vergleichendes Resümee der vorangegangenen Betrachtungen gezogen werden. Hierbei ist zunächst hervorzuheben, dass sich die historische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Heterogenität der Region auf der Ebene der politischen Systeme fortsetzt. Dies betrifft grundlegend den politischen Regimetyp in den elf Staaten. Zum einen ist zwischen drei (defekten) Demokratien in Indonesien, Ost-Timor und den Philippinen (Stand: 31. Dezember 2014) und acht Autokratien andererseits zu differenzieren. Zum anderen unterscheiden sich die autoritären Regime deutlich voneinander. Gegenwärtig umfasst diese Regimegruppe eine dynastischautoritäre Monarchie (Brunei), ein direktes Militärregime (Thailand), zwei sozialistische Einparteienregime (Laos und Vietnam) sowie die vier elektoralen Autokratien in Malaysia, Singapur, Myanmar und Kambodscha, wobei in den beiden zuletzt genannten Staaten das Militär bzw. ein politischer Führer (Hun Sen) das politische System kontrolliert.

Aufgrund dieser Unterschiede entzieht sich die vergleichende Analyse – mehr noch vielleicht als in anderen Forschungsregionen – handlichen Generalisierungen. Gleichwohl lassen sich aus ihr auch Rückschlüsse gewinnen, die für das Verständnis der regionalen Politik und für die interregional-vergleichende Forschung relevant sind. Die folgende Zusammenfassung ist strukturiert wie die Länderkapitel und betont die für das Verständnis der politischen Systeme besonders relevanten Aspekte, ohne Anspruch auf vollständige Einarbeitung der Eigenheiten der Fälle.

Verfassungsentwicklung und -prinzipien

Die in einer einheitlichen Urkunde niedergelegte („geschriebene“) Verfassung ist heutzutage ein fast universelles Merkmal moderner Staatlichkeit (Elkins et al. 2009). Südostasien ist keine Ausnahme. So gibt es heute keinen einzigen Staat in der Region, der nicht über ein solches Grundgesetz verfügt. In einigen Fällen wurden Vefassungen bereits früher diskutiert oder auch eingeführt, aber in den 1940er und 1950er Jahren wurden sie zu einem essentiellen Merkmal der proklamierten Souveränität der neuen Nationalstaaten. Eine zweite Welle der Verfassungsgebung ereignete sich in den 1970er Jahren, als Gründungsverfassungen, häufig aufgrund ihres kolonialen Ursprungs oder infolge kommunistischer Revolutionen, durch „genuin“ nationale Verfassungen verdrängt wurden. Ein dritter zeitlicher Höhepunkt der Verfassungsgebung lässt sich mit dem Ende der Sowjetunion und der regionalen Demokratisierungswelle nach 1986 ausmachen, als zahlreiche Verfassungen neu geschrieben und bestehende Texte grundlegend überarbeitet wurden (Tab. 14.1).

Die Unterschiede in den historischen Grundlagen der politischen Systeme korrelieren mit voneinander abweichenden Verfassungstraditionen. Die philippinische Verfassungsentwicklung ist geprägt durch US-amerikanische Einflüsse, während sich die Verfassungen von Brunei, Malaysia und Singapur stärker am britischen Vorbild orientieren und das osttimorische Grundgesetz lusophon geprägt ist. Die Verfassungen von Laos, Vietnam, Burma (1974) und Kambodscha (bis 1991) lassen sich dem sozialistischen Verfassungstyp zuordnen. Historische Erfahrungen des nationalen Befreiungskampfes (Indonesien, Vietnam, Laos), „Lehren“ aus dem Missbrauch der Verfassung durch autoritäre Herrscher (Philippinen) und die internationale Diffusion von Normen und Rechtsvorstellungen sind weitere wichtige Einflüsse. Letzteres zeigt sich in der vielfach zu beobachtenden Aufnahme von Menschenrechten der sogenannten zweiten und dritten Generation (wirtschaftliche, soziale und kulturelle sowie Kollektivrechte) sowie von Dezentralisierungsbestimmungen. Seltener ist hingegen die Einführung einer unabhängigen Verfassungsgerichtsbarkeit und insbesondere von Elementen der Direktdemokratie, welche in der Literatur (Hirschl 2004) ebenfalls als Bestandteile des sogenannten Neuen Konstitutionalismus genannt werden. Infolge dieser Entwicklung sind die Verfassungen zusehends eklektisch und nähern sich einander inhaltlich an (Tan 2002; Dressel und Bünte 2014).

Aus konstitutionalistischer Sicht sollen Staatsverfassungen eine „Rahmenordnung“ (Böckenförde 1994) für das Gemeinwesen bilden. Als Fundament des Staatswesens legen sie die Regeln fest, nach denen der politische Prozess ablaufen soll. Daher müssen sie eine gewisse Beständigkeit aufweisen (Busch 1999, S. 556 f.). Dennoch ist es wichtig, dass Verfassungen auch hinreichend flexibel sind, damit sie an die sich verändernden Verhältnisse der Gesellschaft angepasst werden und ihre Funktionsfähigkeit bewahren können (Elkins et al. 2009). Eine zu starre Verfassung kann das nicht leisten und läuft Gefahr, auf Akzeptanzprobleme bei Eliten und Bürgern zu stoßen. Steht die Verfassung

Tab. 14.1 Die Verfassungen Südostasiens (1898 bis 2014)

Land

Anzahl

Jahr

Brunei

1

1959a

Indonesien

4

1945, 1949, 1950(I)b, 1959c, (2002)d

Kambodscha

5

1947, 1972, 1976, 1981e , 1993

Laos

2f

1947, 1991g

Malaysia

1h

1957

Myanmar

3

1948, 1974, 2011

Ost-Timor

1

2002

Philippinen

7

1898, 1935, 1943, 1945i , 1973, 1986 (I), 1987

Singapur

1

1959j

Thailand

19

1932(I), 1932, 1946, 1947(I), 1949, 1952k ,

1959(I), 1968, 1972(I), 1974, 1976, 1977(I),

1978, 1991(I), 1991, 1997, 2006(I), 2007, 2014(I)

S Vietnam

3

1956, 1964(I), 1967

N Vietnaml

4

1946, 1959, 1980, 1992m

Quelle: aktualisiert nach Croissant (2014)

a Revidiert 2002–2006.

bInterim (I).

cWieder in Kraft gesetzte Verfassung von 1945.

d Grundlegend überarbeiteter Text der 1959 wieder eingeführten Verfassung von 1945.

e Revidiert 1989.

f Ohne die provisorische Verfassung der aufständischen Lao Issara-Bewegung.

g2003 revidiert.

hVielfach geändert.

iWieder in Kraft gesetzte Verfassung von 1935.

jMit zahlreichen Änderungen.

kWieder eingesetzte Verfassung von 1932.

lAb 1976 Gesamtvietnam (SRV).

m 2001 und 2013 revidiert.

jedoch gewohnheitsmäßig zur Disposition der politischen Mehrheiten, untergräbt dies ihre Geltungskraft.

Wie Tab. 14.1 andeutet, bestehen diesbezüglich beträchtliche Unterschiede: Während Brunei, Malaysia und Singapur mit nur einer Verfassung auskommen, gebührt den Verfassungsgebern in Thailand die zweifelhafte Ehre, alleine für ein Drittel aller Verfassungen in der Region verantwortlich zu sein. Diese Statistik sagt aber noch wenig darüber aus, wie stark sich der Grundgehalt einer Verfassung über die Zeit verändert. Tatsächlich wurden die Verfassungen von Malaysia, Singapur und Brunei vielfach und umfassend abgeändert und hierdurch immer wieder den Bedürfnissen der tatsächlichen Machthaber angepasst. Umgekehrt kontrastiert die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit der geschriebenen Verfassungen in Thailand mit der Geltungskraft der ungeschriebenen und Kraft der Konvention geltenden Verfassungsregeln, die sich seit den 1930er Jahren herausgebildet haben und die erst in jüngster Zeit offen in Frage gestellt werden.

Die Verfahren der Verfassungsgebung und die Regelungen der Verfassungsänderung unterscheiden sich beträchtlich. Die strengsten Abänderungserfordernisse bestehen in Myanmar und den Philippinen (Tab. 14.2). Die Rigidität dieser Verfassungen ist verfassungspolitisch problematisch. In Myanmar sichert sie die Prärogativen der Armee. Auf den Philippinen hat sie alle Anläufe zur Anpassung der Verfassung an den gesellschaftlichen und politischen Wandel zum Scheitern gebracht, was die ausgreifende Rechtsfortbildung durch das Oberste Gericht fördert. Hingegen kann die bruneiische Verfassung jederzeit nach dem Willen des Sultans verändert werden. Erhöhte Zustimmungserfordernisse existieren in den anderen Staaten, sind außer in Ost-Timor und Indonesien aufgrund der Kontrolle der Herrschaftspartei über das Parlament aber keine Erschwernis. Thailand ist ein Sonderfall: Die Interimsverfassung von 2014 regelt lediglich das Verfahren der Ausarbeitung einer neuen Verfassung.

Aufgrund der autoritären Systembedingungen, die historisch die Entstehung der meisten Verfassungen begleitet haben, erstaunt es nicht, dass es um die demokratische Legitimität des Verfahrens der Ausarbeitung und Verabschiedung meist bedenklich bestellt war (Rüland 1998, S. 59 ff.). In abgeschwächter Form gilt das aber auch für Prozesse im Kontext demokratischer Systemwechsel. Das demokratietheoretisch vorbildliche Verfahren der Verfassungsgebung durch eine demokratisch legitim zustande gekommene Konstituante, die in einem transparenten, inklusiven und partizipativen Prozess einen Verfassungsentwurf ausarbeitet, der dem Volk in freier und fairer Abstimmung zur Entscheidung vorgelegt wird (Elster 1993; Merkel 2010), fand nur in den Philippinen (1987) Anwendung. In Indonesien (2002), Thailand (1997), Kambodscha (1993) und Ost-Timor (2002) hatte die verfassungsgebende Instanz ein demokratisches Mandat, das Ergebnis der Beratungen wurde jedoch nicht den Wählern zur Entscheidung vorgelegt. Zudem verliefen die Anhörungen in den beiden letztgenannten Fällen ohne Bürgerbeteiligung und wurden von einzelnen Parteien oder Führungspersonen dominiert. Den übrigen Verfassungsgebungen fehlte jede prozedurale Legitimität. Wo Verfassungsreferenden stattfanden (Thailand 2007, Myanmar 2008), waren die Bedingungen irregulär (Croissant 2014, S. 32 ff.). Dies bedeutet nicht, dass autokratische Verfassungen reine Fassade sind. In Vietnam etwa hat nach dem Ende der Sowjetuion ein konstitutioneller Dialog begonnen, welcher die Stärkung von Rechtsund Verfassungsstaat zumindest als Reformperspektive perzipiert (Bui 2014). Zudem haben autoritäre Verfassungen Signalwirkung gegenüber Bürgern, Regimeeliten und externen Akteuren, können Sicherheit für politische Entscheidungen schaffen und Koordinationsprobleme innerhalb der Regimekoalition dämpfen oder die domestische Legitimität des Regimes und seine Glaubwürdigkeit gegenüber internationalen Akteuren stärken (Law und Versteeg 2014, S. 187). Mitunter entwickelt die “Konstitutionalisierung” autokratischer Herrschaft eine nicht intendierte Dynamik und wird zum Ausgangspunkt für weitere Liberalisierungsprozesse. Letzteres deutet sich in Myanmar an.

Tab. 14.2 Regelungen zur Verfassungsänderung

Staat

Jahr

Zuständiges Staatsorgan

Quorum

Schranken

Brunei

1959

Herrscher

Indonesien

2002

MPR

Zweidrittelmehrheit

Art. 37

Kambodscha

1993

Nationalversammlung

Zweidrittelmehrheita

Art. 153

Laos

1991

Einkammerparlament

Zweidrittelmehrheit

Malaysia

1957

Oberu. Unterhaus

Zweidrittelmehrheit in beiden Häusernb

Myanmar

2011

Oberu. Unterhaus

Dreiviertelmehrheit in beiden Häusern und einfache Mehrheit in einem Referendum

Ost-Timor

2002

Einkammerparlament

Zweidrittelmehrheit

Art. 155

Philippinen

1987

Senat u. Repräsentantenhaus

Dreiviertelmehrheit im Kongress und einfache Mehrheit im Referendumc

Singapur

1959

Einkammerparlament

Zweidrittelmehrheit oder Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten und der gültigen Stimmen in einem Referendumd

Thailand

2014

Vietnam

1992

Einkammerparlament

Zweidrittelmehrheit

Quelle: eigene Zusammenstellung

a Seit 2005 kann die sich konstituierende Nationalversammlung mit einfacher Mehrheit verfassungsändernde Gesetze beschließen.

bEinfache Mehrheit in zwei Kammern bei Art. 159(4); Zweidrittelmehrheit in zwei Kammern

u. Zustimmung der Konferenz der Herrscher, wenn Befugnisse der Herrscher, Verfassungen der Bundesstaaten, die Stellung des Islam, der Malaien und der indigenen Bewohner Sabahs und Sarawaks oder der Status der malaiischen Sprache als Landessprache berührt sind; Zweidrittelmehrheit in beiden Häusern u. Zustimmung der Gouverneure von Sabah u. Sarawak nach Artikel 161E.

cWege nach Art. 17 sind: 1) die Wahl eines Verfassungskonvents auf Antrag von Zweidrittel in

beiden Häusern oder in einem mehrheitlich befürworteten Referendum und die Annahme des Konvententwurfs mit einfacher Mehrheit in einem zweiten Referendum. 2) Verfassungsänderung durch Volksinitiative, auf Antrag von 12 % der Wahlberechtigten und Annahme in einem Referendum. d Nach Art. 5 kann der Präsident ein Referendum ansetzen wenn fundamentale Freiheiten der Bürger, Einzelbestimmungen zum Präsidentenamt, die nationale Souveränität oder das Verfahren der Parlamentsauflösung betroffen sind.

 
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