(Empirischer) Zusammenhang zwischen verfestigtem zählenden Rechnen und (mathematischen) Lernschwächen

Alle Studien, die sich mit dem Zusammenhang zwischen verfestigt zählendem Rechnen und Lernschwächen beschäftigen, sind deskriptiv angelegt. Es wird weder ein kausaler Zusammenhang zwischen mathematischen Lernschwächen als Folge von verfestigtem zählendem Rechnen hergestellt noch zählendes Rechnen als Folge von grundlegenden Lernschwierigkeiten beschrieben. Die Studien versuchen über eine Gruppenbildung von Kindern gemäß ihrer mathematischen Kompetenzen den Zusammenhang von (mathematischen) Lernschwächen und zählendem Rechnen deskriptiv zu erfassen.

Gray (1991) erhob in einer Studie die Lösungsstrategien von Kindern im Altern zwischen 7 und 12 Jahren beim Lösen von Additionsund Subtraktionsaufgaben. Die Ergebnisse zeigen, dass Kinder mit guten Rechenleistungen vom Beginn des zweiten Schuljahrs an kaum noch zählende Strategien verwenden, sondern die Aufgaben durch Abrufen oder Ableiten des Ergebnisses lösen. Dagegen lösen Kinder mit eher schwachen Mathematikleistungen auch in höheren Klassen weitgehend durch zählende Strategien. Ostad (1998, 2008) verglich die Lösungsstrategien von Kindern mit und ohne Schwierigkeiten beim Mathematiklernen über einen Zeitraum von je zwei Jahren. Er kommt zu dem Schluss, dass Kinder mit Schwierigkeiten beim Mathematiklernen schwerpunktmäßig zählende Strategien oder Vorgehensweisem am Material verwenden und eine geringere Variation sowie eine langsamere Entwicklung von Strategien zeigen. Der Zusammenhang zwischen zählendem Rechnen und niedrigen Leistungen in Mathematik zeigte sich auch in den Untersuchungen von Schäfer (2005) und Moser Opitz (2013) sowie von Moser Opitz und Ramseier (2012).

Schäfer (2005) untersuchte Lernstand, Einstellungen und Wahrnehmungsleistungen von Lernenden der 5. Klasse der Hauptschule. Dazu wurden Schülerinnen und Schüler aus 15 Eingangsklassen anhand eines Kriterienkatalogs von ihren Lernkräften als "rechenschwach" oder "nicht rechenschwach" eingeschätzt. Anschließend wurde der Lernstand der rechenschwachen Lernenden in Einzelsitzungen erhoben, wobei die methodischen Ausführungen keinen genauen Hinweise darüber geben, inwieweit die Vorgehensweisen lediglich beobachtet oder auch noch nachgefragt wurde. Anhand der Vorgehensweise wurden die 43 untersuchten rechenschwachen Schülerinnen und Schüler in die Gruppen "zählende Rechner" oder "Nicht-Zähler" eingeteilt. Als "Zähler" bezeichnet Schäfer, diejenigen Lernenden, die beim Addieren und Subtrahieren „in Einerschritten zählende Strategien zu Lösungsfindung“ heranzogen, wobei Schäfer nicht angibt, ab welcher Anzahl zählender Strategien die Schülerinnen und Schüler als "Zähler" klassifiziert wurden. Von den 43 rechenschwachen Kinder werden 25 in diese Kategorie eingeordnet. 18 verfügen über alternative Strategien wie z. B. das Nutzen von Umkehraufgaben oder die Zerlegung eines Operationsschrittes (Schäfer, 2005, S. 51). Die Gruppe der zählend rechnenden Lernenden unterscheidet sich signifikant in Hinblick auf das Zahlverständnis, die verbale Zählfertigkeit und das Operationsverständnis von der Gruppe der "Nicht-Zähler" (S. 441), zeigt also noch einmal gravierendere Schwierigkeiten. Moser Opitz (2013) erforschte die Leistungen von rechenschwachen Schülerinnen und Schülern aus dem 5. und 8. Schuljahr. Zur Ermittlung der Lernenden mit schwachen Mathematikleistungen entwickelte sie einen Test, der wesentliche (arithmetische) Inhalte des vierten Schuljahres umfasste und einige Aufgaben aus dem 5. Schuljahr beinhaltete. Der Test wurde im unteren Leistungsbereich angereichert um Aufgaben aus dem Stoff der 2. und 3. Klasse, da angenommen wurde, dass rechenschwache Kinder evtl. bereits bei Aufgaben aus früheren Schuljahren Schwierigkeiten haben. Ebenso wurde ein Test für die Klasse 8 konzipiert. Anhand der erhobenen Daten wurden drei Gruppen von Lernenden gebildet: (1) rechenschwache Kinder mit einem IQ von 75-94, (2) rechenschwache Kinder mit einem durchschnittlich IQ (95-115) und (3) eine Vergleichsgruppe von Kindern mit durchschnittlicher Intelligenz und durchschnittlichen Mathematikleistungen. Allen Gruppen wurden im Hinblick auf den mathematischen Basisstoff untersucht. Dazu wurde ein weiterer Test konzipiert und eingesetzt, welcher „basale mathematische Kompetenzen sowie die zugrunde liegenden Vorstellungen“ (Moser Opitz, 2013, S. 159) erfassen konnte. Dieser Test wurde den schwachen Lernenden beider Schuljahre vorgelegt. Als ein Ergebnis zeigte sich, dass die rechenschwachen Schülerinnen und Schüler des 5. Schuljahres [1] in geringerem Umfang als die Vergleichsgruppe über Rechenstrategien verfügten, „welche über das bloße Abzählen hinausgehen“ (Moser Opitz, 2013, S. 192). Bei den untersuchten Lernenden aus dem 8. Schuljahr zeigte sich dieser Unterschied nicht mehr. Die meisten Schülerinnen und Schüler lösten die Aufgaben durch Abrufen oder Ableiten. Bei der Subtraktion hingegen zeigten sich bei beiden Altersgruppen Abzählfehler, vor allem bei Subtraktionsaufgaben mit Zehneroder Hunderterübergang (Moser Opitz, 2013, S. 193). Insgesamt kommt Moser Opitz zu dem Schluss, dass Additionsund Subtraktionsaufgaben im 8. Schuljahr von rechenschwachen Lernenden besser gelöst werden als von rechenschwachen Lernenden im 5. Schuljahr. Ältere rechenschwache Schülerinnen und Schüler scheinen also Additionsund Subtraktionsaufgaben nicht mehr zählend lösen zu müssen. Schwache Fünfklässler hingegen zählen noch, es zeigt sich jedoch kein signifikanter Unterschied zur Vergleichsgruppe im Hinblick auf die korrekte Lösungsquote. Die meisten zählend rechnenden Lernenden fanden sich in der Gruppe der rechenschwachen Lernenden mit schwachen Intelligenzleistungen, wie Moser Opitz (2013, S. 221) über eine Analyse der Strategien heraus fand.

Moser Opitz und Ramseier (2012, S. 109) untersuchten die Strategien, die Mathematikleistung und die Intelligenzwert von Schülerinnen und Schüler des 5. und 6. Schuljahres. Sie konnten beobachten, dass die Schülerinnen und Schüler, die von ihren Lehrkräften als rechenschwach eingeschätzt wurden, deutlich seltener effektive Strategien wie Abrufen, Zerlegen oder Ableiten verwendeten als andere Lernende. Insgesamt zeigte sich, dass die Strategien zu einem ähnlich hohen Anteil mit der Mathematikleistung korrelierten wie die Intelligenz. Moser Opitz und Ramseier kommen somit zu dem Schluss, dass die „Strategieverwendung ein eigenständiger Faktor ist, der […] wesentlich zu Mathematikleistung beiträgt. Mit der Art der Strategieverwendung dürfte somit auch ein spezifisches Merkmal von Rechenschwäche identifizierbar sein“ (2012, S. 110).

Zusammenfassend belegen die Studien die Korrelation zwischen zählendem Rechnen und schwachen Mathematikleistungen. Dieser Zusammenhang zeigt am deutlichsten im Grundschulalter und nimmt dann ab. Es ist also davon auszugehen, dass rechenschwache Kinder im Laufe ihrer Schulzeit alternative Strategien zum zählenden Rechnen ausbilden. Das bedeutet, dass Schülerinnen und Schüler mit Schwierigkeiten beim Mathematiklernen lernen können, Additionsund Subtraktionsaufgaben durch abrufen und ableiten zu lösen. Möglicherweise ist ihre Strategieentwicklung gegenüber anderen Kindern verlangsamt, so dass sie erst im Verlauf der dritten und vierten Grundschulklasse (Gerster & Schultz, 2004) sowie in der Sekundarstufe zählende Strategien zugunsten von Abrufen und Ableiten aufgeben. Dies gilt auch für Kinder, denen ein unterdurchschnittlicher Intelligenzquotient zugesprochen wird. Einerseits ist dies ein erfreulicher Befund, da er aufzeigt, dass zählendes Rechnen überwunden werden kann, andererseits weist die lange Zeit, in der zählendes Rechnen die vorrangige Strategie zu sein scheint, auf die massiven Schwierigkeiten hin, die sich dadurch ergeben können.

Studien, welche die Vorgehensweisen von Kindern mit Förderbedarf im Lernen beim Lösen von Additionsund Subtraktionsaufgaben analysieren, zeigen, dass diese Kinder zu einem hohen Anteil zählende Strategien verwenden. Moog (1993) untersuchte Kinder mit Förderbedarf im Lernen aus dem zweiten und dritten Schuljahr und erhob ihre Strategien beim Lösen von Additionsaufgaben mit der Summe :S 10. In der Untersuchung berechnete über die Hälfte der Kinder, welche die Aufgabe erfolgreich mit Material dargestellt hatten, die Lösung anschließend zählend an den Fingern. Insgesamt bestätigt sich auch in der Kohorte der Kinder mit Förderbedarf im Lernen der Zusammenhang zwischen zählenden Strategien und verhältnismäßig schwachen Leistungen im Test. Dass Kinder mit Förderbedarf im Lernen insgesamt häufiger zählende Strategien benutzten als gleichaltrige Schülerinnen und Schüler ohne Förderbedarf zeigen Ergebnisse vielfältiger Studien (Andersson, 2010; Geary, Hoard, Nugent, & Bailey, 2012). Es scheint somit so zu sein, dass Kinder mit über das Fach Mathematik hinausgehenden, umfassenden und schwerwiegenden Schwierigkeiten beim Lernen vergleichbare Strategien benutzen wie Kinder, die ausschließlich oder vor allem beim Mathematiklernen Probleme zeigen. Sie sind in der Lage ebenfalls alternative Vorgehensweise zu entwickeln, wie z. B. in der Studie von Moser Opitz (2013) deutlich wird, in der auch diejenigen rechenschwachen Kinder mit Intelligenzwerten unter dem Durchschnitt alternative Strategien ausbilden. Auch wenn Förderbedarf im Lernen nicht auf den Intelligenzquotienten reduziert werden sollte (Wocken, 2000), geben diese Werte einen Hinweis, dass faktennutzende Strategien sich entwickeln können.

Vergleichende Zusammenfassung

Zwar stimmt es positiv, dass die Kinder mit (mathematischen) Lernschwächen Alternativen zum zählenden Rechnen entwickeln, trotzdem bleibt es problematisch, wie bis zum diesem Zeitpunkt die Anforderungen des Mathematikunterrichts bewältigt werden können. In den Studien wird zwar deutlich, dass Kinder auch mit zählenden Strategien zum Erfolg kommen, doch trifft dies nur für die in den Untersuchungen verwendeten Aufgaben im Zahlenraum bis 100 mit einstelligen Subtrahenden bzw. analogen Aufgaben mit Zehnern (430-70) zu. Bei zweistelligen Subtrahenden oder Aufgaben, die im dritten Schuljahr mit halbschriftlichen Strategien gelöst werden sollen, ist zählendes Rechnen nicht tragfähig und kann, wie aufgezeigt, zu grundlegenden Schwierigkeiten beim Mathematiklernen führen (Kap. 2.2.1).

Zentrale Aufgabe des Mathematikunterrichts muss deshalb von Beginn an sein, einer Verfestigung zählenden Rechnens vorzubeugen und über operative Beziehungen Zugang zu Ableitungs-und Automatisierungsstrategien zu geben. Doch bevor didaktische Konzeptionen zur Ablösung vom zählenden Rechnen erläutert werden, sollen zunächst mögliche Ursachen verfestigt zählenden Rechnens diskutiert werden.

  • [1] Bei dieser und den folgenden Auswertungen wurden die Gruppen rechenschwacher Lernender zusammen betrachtet und der Vergleichsgruppe gegenübergestellt
 
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