Empirische Erkenntnisse mit Bezug auf die Ablösung vom (verfestigten) zählenden Rechnen
Zielt der Mathematikunterricht insbesondere auf die Beschäftigung mit mathematischen Strukturen ab, so scheint dies auch zu einem stärkeren Erkennen und Nutzen von Strukturen zu führen. Studien auf unterschiedlichen Richtungen zeigten die Bedeutung des Erkennens von Strukturen für mathematisches Lernen. Mulligan und Mitchelmore gehen von einem Zusammenhang zwischen arithmetischen Kompetenzen und der Fähigkeit Strukturen in Darstellungen und Folgen zu sehen aus (Papic, Mulligan & Mitchelmore, 2011 vgl. auch Lüken 2012, Söbbeke, 2005). Während diese Studien mathematische Strukturen schwerpunktmäßig in Bezug auf Darstellungen untersuchen, legen Link (2012) und Steinweg (2001) den Fokus auf arithmetische Muster, wie operative Reihen, und kommen zu dem Schluss, dass Kinder mit zunehmendem Alter und zunehmender Rechenkompetenz besser in der Lage sind, auftretende unterschiedliche Strukturen eines Muster zu erfassen und bei der Fortsetzung von Mustern zu nutzen (Steinweg, 2001). Link (2012) zeigt, dass nach der unterrichtlichen Thematisierung eines mathematischen Musters wie, z. B. eines "Schönen Päckchens", Kinder im dritten und vierten Schuljahr quantitativ und qualitativ besser die das Muster konstituierenden Strukturen erkennen.
Dass dieses Sehen arithmetischer Strukturen gefördert werden kann, zeigt Rathgeb-Schnierer (2010) in einer qualitativen Unterrichtsstudie mit zwanzig Kindern, die über ein halbes Jahr einen auf Strukturen ausgerichteten Mathematikunterricht erhalten haben. Zentrales Ergebnis der Studie ist, dass die Kinder, eine Entwicklung im Lösungsverhalten hin zum Nutzen von Strukturen nehmen. Eine aufgabenadäquate, nicht zählende Strategie wurde auch von den leistungsschwachen Kindern der Klasse entwickelt. Zu ähnlichen Erkenntnissen kommt Rechtsteiner-Merz (2014), die Kinder einer ersten Klasse über den Zeitraum von einem halben Jahr in Hinblick auf den sogenannten „Zahlenblick“ förderte. Bei dieser Förderung stehen „Tätigkeiten des Sehens, Sortierens oder Strukturierens im Vordergrund“ (Rechtsteiner-Merz, 2014, S. 104), die mit dem Ziel durchgeführt werden, Kinder zum Erkennen und Nutzen von Zahlbeziehungen beim Rechnen zu befähigen (Schütte, 2008). Rechtsteiner-Merz kommt in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis (2014, S. 292, Hervorhebungen im Original):
„Kinder [hingegen], die zunächst Schwierigkeiten beim Rechenlernen zeigten und mit Aktivitäten zur Zahlenblickschulung arbeiteten, lösten sich vom Zählen ab und entwickelten mehrheitlich flexible Rechenkompetenzen“.
Thornton wies bereits 1990 in einer Interventionsstudie nach, dass durch einen Mathematikunterricht, der auf das Lernen von Strategien ausgerichtet ist, weniger Kinder bei der Lösung von Subtraktionsaufgaben zählend rechneten als in der Kontrollgruppe mit herkömmlichem Mathematikunterricht. Auch Moser Opitz (2008) zeigte, dass in einer Untersuchungsgruppe, in der mit strukturierten Mengenbildern gearbeitet wurde, signifikant weniger häufig Abzählstrategien zum Lösen von Additionsund Subtraktionsaufgaben verwendet wurden als in der Kontrollgruppe, in der diese Bilder nicht verwendet wurden. Ein gezielter Unterricht scheint demnach zu einem verstärkten Nutzen von nichtzählenden Strategien zu führen.
Auch wenn alle diese Studien aus der Mathematikdidaktik nicht schwerpunktmäßig die Ablösung vom zählenden Rechnen als Ziel haben, geben sie doch Hinweise darauf, dass eine Förderung in Bezug auf mathematische Strukturen eine zunehmende Bewusstheit für mathematische Strukturen erzielen kann. Diese würde dann auch eine Ablösung vom zählenden Strategien ermöglichen.
In ähnlicher Weise geben Studien aus der Psychologie Hinweise, dass eine Förderung von Kindern mit mathematischen Lernschwächen zu verbesserten Kompetenzen führen kann (für einen Überblick vgl. Sinner, 2011). Die Wirksamkeit von Interventionen mit mathematischem Inhalt kann in Einzeltrainings nachgewiesen werden (Dowker, 2001; Moog & Schulz, 1997). Die Interventionsstudie von Dowker (2001) mit sechsund siebenjährigen Kindern mit Schwierigkeiten in Mathematik zeigte beispielsweise signifikante Effekte einer Förderung, in der Kinder über einen Zeitraum von 30 Wochen eine halbstündige Einzelförderung u. a. zum Zählen, Ableiten von Aufgaben und zur Automatisierung erhielten. Auch die Studie von Bryant und Kollegen zeigt bei einer Förderung über einen Zeitraum von 18 Wochen verbesserte mathematische Kompetenzen bei Zweitklässlern (Bryant, Bryant, Gersten, Scammacca, & Chavez, 2008) bei einer Förderung in kleinen Gruppen. Die inhaltlichen Schwerpunkte lagen auf dem Zählen, dem Vergleich von Zahlen, Bündeln zur Basis zehn sowie Additionsund Subtraktionsaufgaben (Faktennutzung, Ableitungsstrategien). Fuchs zeigte ebenfalls Erfolge bei Zweitklässlern in einer Förderung in Zweierbzw. Dreiergruppen (Fuchs et al., 2005). Die Inhalte waren ähnlichen, jedoch zumindest bei Additionsund Subtraktionsaufgaben beschränkt auf den Zahlenraum bis 10 (Fuchs et al., 2005, S. 499). Bei all diesen Studien liegen keine Angaben zu den genauen Aufgabenstellungen oder zur Gewichtung der Inhalte vor. Ebenso liegt der Schwerpunkt der Untersuchung auf einer Steigerung der mathematischen Kompetenzen insgesamt und nicht auf der Ablösung vom zählenden Rechnen im Speziellen.
Vergleichende Zusammenfassung
Die referierten Studien geben aus unterschiedlichen Richtungen Hinweise, dass das Erkennen und Nutzen von Strukturen bei zählend rechnenden Kindern im Mathematikunterricht gefördert werden kann. Im Moment ist noch wenig darüber bekannt, wie zählend rechnende Kinder mathematische Muster und ihre Strukturen im Detail erkennen. Zudem wurde bisher noch nicht gezeigt, ob und wie durch eine explizite Thematisierung dieser Strukturen im Unterricht eine Ablösung vom verfestigten zählenden Rechnen angeregt werden kann. Dies betrifft sowohl den Aufbau von Zahlund Operationsvorstellung als auch das Rechnen mit Beziehungen. Hier zeigen zwar Interventionsstudien eine Erhöhung der Strategien, jedoch ohne die unterrichtlichen Anregungen offen zu legen. Aufgrund dessen gibt es kaum detaillierte empirische Erkenntnisse, wie verfestigt zählend rechende Kinder mit Anregungen zum Ableiten umgehen und inwiefern diese aufgegriffen werden. Anknüpfend an die ermutigenden Hinweise aus den referierten Studien ist deshalb zu untersuchen, inwiefern verfestigt zählend rechnende Kinder von einem struktur-fokussierenden Unterricht profitieren.