Epistemologische Sicht auf kooperativ geprägte mathematische Lernsituationen
Wie Kinder in Interaktionen zu Lernzuwächsen kommen, wird im Rahmen einer epistemologischen Perspektive untersucht (Steinbring, 2005). Dabei wird mathematisches Wissen „nicht als ein vorgefertigtes, objektives und logisch konsistentes Produkt gesehen, sondern die Herstellung von Beziehungen zwischen Symbolsystemen und Deutungskontexten in den Mittelpunkt gestellt“ (Steinbring, 2000b, S. 29). Die mathematischen Zeichen und Symbole, wie z. B. Ziffern, Punktefelder oder Operationszeichen, die für alle sichtbar sind, sind nicht der mathematische Begriff an sich, sondern repräsentieren ihn und müssen in der Interaktion im Rahmen eines sogenannten Referenzkontexts gedeutet werden (Steinbring, 2005). In der Wechselbeziehung zwischen Zeichen und Referenzkontexten wird der Begriff konstruiert (Steinbring, 2000b, S. 34). Mathematische Begriffe und Ideen können somit nicht direkt mitgeteilt werden, sondern bedürfen immer konkreter Zeichen, die sie repräsentieren und ausdrücken sollen. „Eine inhaltliche Bedeutung der Zeichen wird vielmehr erst von den an der Interaktion beteiligten Personen herausgestellt, indem Sie die Zeichen aus einem für sie bedeutungsvollen Referenzkontext heraus interpretieren“ (Nührenbörger & Schwarzkopf, 2010a, S. 75).
In dieser Sicht auf Mathematik ist die Interaktion eine notwendige Bedingung, zumindest für fundamentales Lernen von Mathematik im Grundschulalter. In Anlehnung an den Soziologen Max Miller gehen Steinbring (2000b) sowie Nührenbörger und Schwarzkopf (Nührenbörger, 2009; Nührenbörger & Schwarzkopf, 2010a) davon aus, dass fundamentales Lernen in sozialen Prozessen stattfindet. „Nur in der sozialen Gruppe und aufgrund der sozialen Interaktionsprozesse zwischen den Mitgliedern einer Gruppe kann das einzelne Individuum jede Erfahrungen machen, die fundamentale Lernschritte ermöglichen“ (Miller, 1986, S. 21). Dabei liegt das Potential in der Aushandlung unterschiedlicher Deutungen – also dem Diskurs. Die Aushandlung strittiger Deutungen kann eine sogenannte „Reorganisation des Wissens“ (Miller, 1986, S. 142) auslösen, worunter Miller fundamentales Lernen versteht. Vom fundamentalen Lernen wird das relationale Lernen abgegrenzt, welches als „Erweiterung des Wissens um neue Fakten gekennzeichnet“ wird (Nührenbörger & Schwarzkopf, 2010a). Die Frage, ob Interaktion hilfreich ist, stellt sich also nicht, da die Grundannahme darin besteht, dass es für fundamentales Lernen (im Grundschulalter) notwendigerweise der Interaktion bedarf.
Nührenbörger untersucht, inwieweit sich in der Kooperation von Kinderpaaren im jahrgangsgemischten Mathematikunterricht derartige Lernprozesse zeigen (Nührenbörger, 2009; Steinbring & Nührenbörger, 2010). Dazu wurden Lernumgebungen für die Schuleingangsklasse konzipiert, an denen heterogene Kinderpaare (je ein jahrgangsjüngeres und ein jahrgangsälteres Kind) zusammen arbeiteten (Nührenbörger & Pust, 2011). Die Lernumgebungen sind methodisch so aufbereitet, dass Kooperationen zwischen den Kindern initiiert werden, z. T. im Sinne einer formalen Kooperation in Settings wie „Rechenduett“ oder „Koproduktionen“(Nührenbörger & Pust, 2011, S. 31). In allen Lernumgebungen finden sich Aktivitäten, die zum gemeinsamen Deuten über mathematischen Beziehungen und Strukturen anregen sollen (Nührenbörger, 2009, S. 155). Nührenbörger geht davon aus, dass durch das unterschiedliche Alter und die häufig damit einhergehenden unterschiedlichen Kompetenzen und Erfahrungen der Kinder auch Deutungsdifferenzen zu einem mathematischen Begriff zu erwarten sind. Diese werden auch durch das "parallelisierte" Material angeregt, das heißt jedes Kind bekommt die Aufgabenstellung auf seinem Niveau. Die Aufgaben sind dabei so aufeinander abgestimmt, dass ein gemeinsames Arbeiten möglich ist (vgl. auch Kap. 5.1.3). Für jahrgangsältere Kinder liegt zudem eine Chance in der Reorganisation ihres Wissen, wenn sie durch die Interaktion mit den jahrgangsjüngeren Kindern „neue Erkenntnisse über das alte Wissen […] konstruieren und dieses aus der gegenwärtigen Einsicht neu und fundamental […] durchdringen“ (Nührenbörger, 2009, S. 153).
Nührenbörger untersucht sowohl die sozialen Strukturen als auch die epistemologischen Besonderheiten der mathematischen Wissenskonstruktion. Die Studie zeigt, dass die Lernprozesse der Kinder zum großen Teil relationales Lernen beinalten. „Das neue Wissen selbst hatte eher den Status eines Faktenund Regelwissen, und das alte Wissen wurde nicht systematisch überschritten“ (Nührenbörger, 2009, S. 168). Selten waren strukturelle Deutungen zu beobachten, die zu einer Neukonstruktion und fundamentalem Lernen führten. Wenn diese erfolgten, dann geschah das stets im kommunikativen Prozess (Nührenbörger, 2009, S. 169)
In der Interaktion zwischen den Kindern im jahrgangsgemischten Unterricht konnten mathematische Lernprozesse unterschiedlicher Art rekonstruiert werden. Nührenbörger beschreibt diese im engen Bezug zum mathematischen Gegenstand und lokal verortet in der Interaktion. Im Gegensatz dazu werden Kooperationsprozesse verallgemeinernd als interaktiven Handlungen charakterisiert (z. B. Initiierung von Arbeitsvorgängen, Prozesse des Helfens, Entwicklung von Diskursen; Nührenbörger, 2009, S. 168). Für die mathematischen Lernprozesse finden sich keine differenzierenden Charakterisierungen. Vielmehr scheint die Ko-Konstruktion von Deutungen zu einer Integration der Deutungen in eigenes Wissen und zu einer Reorganisation zu führen (Nührenbörger & Steinbring, 2009, S. 128).
In einem Forschungsprojekt zu Deutungsund Argumentationsprozessen rekonstruieren Nührenbörger und Schwarzkopf die interaktiven mathematischen Deutungen in kooperativ strukturierten Lernumgebungen (Nührenbörger, 2010b; Nührenbörger & Schwarzkopf, 2013b). Die Lernumgebungen wurden laut Nührenbörger (2010b, S. 643) so konstruiert, dass über interaktive Prozesse bei der Bearbeitung von Aufgaben fundamentale Lernprozesse initiiert werden können (Nührenbörger, 2010b, S. 643). Die Aufgaben zum mathematischen Gleichheiten sind als diskursive Aufgaben konzipiert (vgl. 5.1.3; (Brandt & Nührenbörger, 2009). Das bedeutet, dass die Kinder nicht die gleichen, aber aufeinander bezogene Aufgaben erhalten, deren Vergleich zu Diskursen anregen kann und soll (Nührenbörger & Schwarzkopf, 2013a, 2013b).
In ersten Erprobungen zeigte sich, dass folgende Geschehnisse produktiv für einen Deutungsaushandlung zu wirken scheinen (Nührenbörger, 2010b, S. 644ff):
• Parallele Deutungen, d.h. mathematische Zeichen werden in Bezug auf unterschiedliche Referenzkontexte gedeutet
• Mehrere Deutungen, d.h. verschiedene Sichtweisen werden zu einem Zeichen entwickelt
• Widersprüche, d, h. Umdeutungen von Aufgabenvorschriften, so dass Widersprüche konstruiert werden
• Irritationen, d.h. Umdeutungen durch reflektive Auseinandersetzung
Diese interaktiven Prozesse sind dadurch gekennzeichnet, dass Differenzen entstehen, nach Miller also Dissens (2006), welche die Kinder gemeinsame lösen müssen. Das Aushandeln von Deutungen kann Lernprozesse initiieren (Gellert & Steinbring, 2013, S. 18). Dies scheint besonders dann produktiv zu sein und zu fundamentalem Lernen zu führen, wenn „die Kinder Möglichkeiten zur Aufklärung der Spanne zwischen Erwartung und Enttäuschung entwickeln“ (Nührenbörger & Schwarzkopf, 2013b, S. 719).
Vergleichende Zusammenfassung
Zusammenfassend zeigen die Studien von Nührenbörger und Kollegen, dass in der Kooperation aufkommende oder initiierte Differenzen in der Deutung mathematischer Zeichen fundamentale Wissensprozesse auslösen können. Bei der Konstruktion kooperativer Settings kommt es also aus Sicht des Faches darauf an, die Aufgaben und das methodische Setting so zu gestalten, dass unterschiedliche Deutungen angeregt werden. Dazu können "diskursive Aufgabenformate","struktur-fokussierende Anregungen" und "strukturierte Kooperationsformen" genutzt werden (Brandt & Nührenbörger, 2009).
Bei der Gestaltung der Kooperation muss zum einen bedacht werden, dass eine Kooperation als soziales Setting auch von den Schülerinnen und Schülern gelernt werden muss und sie dazu Zeit, Gelegenheit und Transparenz über das Ziel der Kooperation benötigen. Auf der anderen Seite scheinen sowohl formale Kooperationsformen oder Strukturierungshilfen für freiere Kooperationsformen wie Mathe-Konferenzen (Anders & Oerter, 2009; Götze, 2007) förderlich zu sein, um Kinder in die Interaktion einzubinden und entsprechende Schlüsselaktivitäten herauszufordern.