Debatten

Wie der Überblick zum Forschungsstand andeutet, unterliegt die Entwicklung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Politik in Südostasien Konjunkturzyklen. Aus der Vielzahl der Konjunkturen lassen sich drei Themenbereiche herausheben, die die Forschungsagenda der vergangenen etwa zwei Jahrzehnte besonders geprägt haben: 1) die „Asiatische-Werte“-Debatte zum Verhältnis von kulturellen Traditionen und Wertesystemen sowie politischer bzw. Wirtschaftsordnung in Asien; 2) die Diskussion um Chancen und Restriktionen demokratischer Entwicklung in der Region; 3) die Analyse der Ursachen des rasanten Wirtschaftswachsums in einigen Staaten der Region.

Die Wertedebatte

Die Frage nach den „asiatischen Besonderheiten“ von Politik und Gesellschaft ist an sich nicht neu. Sie findet sich bereits bei Aristoteles. Er stellte die zivilisierte Welt der griechischen Polis der barbarischen Despotie des Orients gegenüber. Über Hegel und Marx führte die Debatte zu Max Webers religionssoziologischen Studien über den Zusammenhang von religiösen Glaubensinhalten und menschlichem Verhalten und zu seinen herrschaftssoziologischen Deutungen der Eigenarten der chinesischen Kultur (Weber 1972). Ihre Fortsetzung fand die Diskussion in den 1980er Jahren in der von nordamerikanischen Sozialwissenschaftlern und Sinologen vertretenen These der „konfuzianischen Arbeitsethik“. In geradezu brachialer Umdeutung Webers, der in den quasi-religiösen Quellen des Konfuzianismus, dem chinesischen Staatsmodell sowie dem konfuzianischen Gesellschaftsmodell die Gründe für das Ausbleiben einer kapitalistischen Entwicklung im sinisierten Kulturraum feststellte, sahen Autoren wie Ezra Vogel (1979) gerade im Konfuzianismus die Erklärung für den rasanten Aufschwung der ostasiatischen Ökonomien nach dem Zweiten Weltkrieg (Brook und Luong 1997).

Die Debatte um den Zusammenhang von kulturellem und ökonomischem System wurde in den 1990er Jahren erweitert um die Frage nach der Vereinbarkeit von „asiatischen Werten“ und Demokratie. Der Begriff selbst stammt aus der Feder des früheren Regierungschefs von Singapur, Lee Kuan Yew, der in einem Interview in der einflussreichen Zeitschrift Foreign Affairs erstmals von „Asian Values“ sprach (Zakaria 1994). Die Initiatoren der Debatte wie Lee Kuan Yew und der damalige Ministerpräsident von Malaysia, Mohamad Mahatir, hatten keine wissenschaftliche Fragestellung im Sinn (Rüland 1996, 2006, S. 54; Chan 1997, S. 42 f.). Wie Mark Thompson (2001, S. 159) feststellt, war die Wertediskussion im Kern eine Auseinandersetzung zwischen autoritären Konzeptionen von Modernität, für die Protagonisten wie Lee und Mahatir Pate standen, und einem demokratischen Modernitätsverständnis, das nicht nur von westlichen Kritikern, sondern auch von zahlreichen politischen Entscheidungsträgern, Oppositionellen, Intellektuellen und sozialen Akteuren in Ostasien selbst geteilt wird.

Der These von den „asiatischen Werten“ liegen fünf Annahmen zugrunde: 1) es gibt

„asiatische Werte“, die sich von „westlichen Werten“ unterscheiden; 2) der Ursprung der unterschiedlichen Werte liegt in der unterschiedlichen kulturellen, insbesondere religionsgeschichtlichen Entwicklung europäischer und asiatischer Gesellschaften; 3) obgleich historisch gewachsen, sind diese Werte in der aktuellen Gegenwart präsent und relevant, da sie 4) von einer Mehrzahl der Menschen in mehr als nur einem oder wenigen Ländern in Asien geteilt werden, wobei sich 5) die einzelnen Werte zu einem „Syndrom“ der asiatischen Werte verdichten (Blondel und Inoguchi 2006).

In den 1990er Jahren wurde der Diskurs um die asiatischen Werte auf zwei (miteinander kommunizierenden) Ebenen geführt (Blondel und Takashi 2006, S. 21–25; Kim 2010). Auf der ersten Ebene handelte es sich um eine Debatte zwischen Politikern, Journalisten und Kommentatoren über die kulturellen Grundlagen von Politik und Wirtschaft in Asien, die Kulturgebundenheit von sozialen Werten allgemein und politischen Ordnungskonzepten im Besonderen. Der Diskurs auf der zweiten Ebene wurde vor allem in der politischen Philosophie sowie zwischen Historikern geführt. Hier ging es darum, ob sich die „traditionellen“ Werte Ostund Südostasiens von den Werten westlicher Gesellschaften unterscheiden und welche (historischen) Ursachen den angenommenen Unterschieden zugrunde liegen (Ackerly 2005; Bell 1997, 2000; Bell et al. 1995; de Bary 1998; Fox 1997; Sen 1999; Tu 1984; Shin 2012).

Beide Debattenstränge berührten immer auch die Frage, in welchem Maße asiatische Werte mit westlichen Vorstellungen von Demokratie vereinbar seien, oder ob sie eine spezifische politische Ordnungskonzeption für asiatische Gesellschaften erforderlich machen, etwa im Sinne einer stärker kommunitaristisch und weniger liberal geprägten „asiatischen“ Variante der Demokratie (Bell et al. 1995; Kelly und Reid 1998; Bell und Bauer 1999; Croissant und Merkel 2010).

Die Frage, ob intraregionale Gemeinsamkeiten in den grundlegenden Einstellungen der Bürger zu Politik und Gesellschaft in Asien existieren, ob sie ein gesamtasiatisches Wertemuster ergeben, das sich eindeutig von den Wertestrukturen westlicher Gesellschaften unterscheidet und welche Konsequenzen daraus für die politische Ordnung ostund südostasiatischer Gesellschaften resultieren, ist von großer wissenschaftlicher und realpolitischer Bedeutung. Die Wertedebatte der 1990er Jahre hat insgesamt aber nur einen relativ bescheidenen Erklärungsbeitrag geleistet. Dies hatte mehrere Gründe. Ein Problem war die begriffliche und konzeptionelle Unschärfe, mit der die Debatte geführt wurde. Mitunter diente der Wertebegriff als ein Code für chinesische oder konfuzianische Werte, teilweise auch für das Ideal einer hoch zentralisierten und regulierten politischen Ordnung. Er wurde sowohl zur Bezeichnung von Werten im soziologischen Wortsinne, von Kulturen bzw. Zivilisationen als auch von politischen Ordnungsvorstellungen verwendet (Chua 1995; Ghai 1995; Rodan 1996). Während die philosophischen und religionsgeschichtlichen Hauptquellen der asiatischen Werte ausführlich diskutiert wurden, blieb ihr konkreter Gehalt vage. Am häufigsten genannt wurden (Blondel und Takashi 2006): 1) die Bedeutung des kommunitaristischen, die Gemeinschaftsgebundenheit des Individuums und seine Verpflichtung gegenüber dem Kollektiv betonenden Verständnisses von Gesellschaft (im Unterschied zur „individualistischen“ Gesellschaftsperspektive im Westen), 2) die größere Wertschätzung der Bürger von Macht, persönlicher Autorität und gesellschaftlichen Hierarchien (im Gegensatz zu dem Prinzip der politischen und bürgerlichen Gleichheit in den demokratisch strukturierten westlichen Gesellschaften),

3) die Präferenz der Bürger für politische Stabilität und gesellschaftliche Harmonie (im Vergleich zur offenen Konfliktaustragung und der Interessenkonkurrenz in den pluralistischen westlichen Gesellschaften) und 4) eine relativistische, an Kultur, Geschichte und Entwicklungsstand einer Gesellschaft gebundene Sicht auf Menschenrechte (gegenüber dem im Westen vertretenen universalistischen Geltungsanspruch der Menschenrechte).

Eine weitere Schwäche der Debatte war die schmale empirische Basis für die in Interpretationsverfahren gewonnenen Verallgemeinerungen. Hinzu kam die Neigung mancher Autoren, Sachverhalte und Begebenheiten ohne Ausweisung der Selektionskriterien oder ausreichende Begründung der Deutungsschritte im Sinne der eigenen Argumente zu interpretieren, und durch mehr oder weniger arbiträre Auswahl der Bezugspunkte bestimmte

„asiatische Gemeinsamkeiten“ herauszustellen, ohne im gleichen Maße die mögliche Varianz der regionalen Entwicklung zu berücksichtigen (Yasuaki 1999; Tatsuo 1999; Sen 1999).

Die mitunter recht schmale empirische Basis der Argumente in der Wertedebatte der 1990er Jahre resultierte auch aus der schlechten Datenlage, die kaum eine Überprüfung der Positionen durch die empirisch-analytische Politische Kulturforschung innerhalb der Sozialwissenschaften erlaubte. Dies hat sich inzwischen geändert. Mittlerweile liegen für viele asiatische Länder nationale Umfragen und internationale Surveys vor. Letztere sind für die Überprüfung der Wertethese von besonderem Interesse, da sie regional und interregional vergleichbare Frageprogramme aufgebaut haben, die Voraussetzung sind für den Vergleich der politischen Kulturen in verschiedenen asiatischen Ländern, beziehungsweise zwischen asiatischen und nicht-asiatischen Gesellschaften. Zu nennen sind neben den World Value Surveys vor allem der Asian Barometer Survey (asianbarometer.org) und das Asian Barometer (asiabarometer.org), die seit Anfang des Jahrtausends Umfragen in asiatischen Ländern durchgeführt haben, sowie der Asia-Europe Survey von 2000 (asiaeuropesurvey.org), der die Bürger in je neun europäischen und asiatischen Ländern befragte.

Diese Projekte bieten einen alternativen Zugang zu der interpretativ, mitunter aber auch schlicht impressionistisch begründeten These der „Asiatischen Werte“. Die Ergebnisse dieser Forschung stellen zentrale Grundannahmen der Wertethese in Frage. So haben Blondel und Takashi (2006) anhand der Daten des „Asia-Europe Survey“ die Validität des Konzepts der „Asiatischen Werte“ überprüft und untersucht, ob grundlegende Unterschiede der Einstellungen der Bürger gegenüber Politik und Gesellschaft existieren. Die Autoren finden vielerlei Unterschiede zwischen asiatischen und europäischen Gesellschaften. Sie sind aber eher gradueller als kategorialer Art und erlauben keinesfalls den Schluss, dass „asiatische Werte“ grundlegend verschieden von „europäischen Werten“ wären (Blondel und Takashi 2006, S. 51). Zudem sind die Unterschiede innerhalb Asiens mitunter deutlich größer als zwischen Asien und Europa. Eine gemeinsame regionale politische Kultur lässt sich weder in Ostund Südostasien noch in Westeuropa erkennen (Blondel und Takashi 2006, S. 9, 102). Die Annahme eines homogenen regionalen Musters politischer Einstellungen der Bürger in asiatischen Gesellschaften, das sich eindeutig von den in Europa identifizierten Wertestrukturen abgrenzt, ist „Wunschdenken“ und stimmt „nicht mit der empirischen Evidenz überein“ (Blondel und Takashi 2006, S. 63, 107). Weitere aktuelle Untersuchungen gelangen zu ähnlichen Schlussfolgerungen (Dalton und Ong 2005; Dalton und Shin 2006, S. 87 f.; Park und Shin 2006; Kim 2010).

Die Unterschiede zwischen den Einstellungsund Orientierungsmustern der asiatischen Gesellschaften lassen sich auf eine Vielzahl von Faktoren zurückführen. Geschichte, Geographie, Wirtschaft, Religion, aber auch politische Systemstrukturen spielen eine Rolle. Die naheliegende Annahme, dass die chinesisch beeinflussten Gesellschaften wie China, Singapur, Taiwan, Südkorea und Japan und die südostasiatischen, vorwiegend malaiischen Gesellschaften in Indonesien, Malaysia, den Philippinen sowie Thailand zwei distinkte Cluster bilden („Chinese-Malay-divide“; Blondel und Takashi 2006, S.

104) trifft jedoch ebenso wenig zu wie die Vermutung, dass die politischen Kulturen in Demokratien und in Autokratien deutlich unterscheidbare Muster ergeben (Blondel und Takashi 2006, S. 109 ff.).

Ob das weitgehende Fehlen empirischer Evidenz für die Wertethese auf die Veränderung der politischen Kultur als Folge vorangegangener Prozesse des ökonomischen, sozialstrukturellen und politischen Wandels zurückzuführen ist, oder auf den Einfluss alter diskrepanter politischer Teilkulturen, lässt sich aufgrund fehlender Zeitreihen kaum überprüfen. Damit muss auch offen bleiben, ob sich die politischen Kulturen der asiatischen Länder durch sozioökonomischen Wandel in den Einstellungen in Westeuropa annähern werden, wie etwa die Wertewandelforschung und die Humankapitaltheorie vermuten (Inglehart 1977; Inglehart und Welzel 2005; kritisch hierzu: Shin 2012a, b).

Eine andere Frage ist freilich, ob die politischen Kulturen in Ostund Südostasien auch die Transformation autoritärer oder defekt-demokratischer Regime zur liberalen Demokratie stützen. Ob die Demokratie unter asiatischen Bürgern akzeptiert ist, welches Demokratieverständnis vorherrscht und wie das die Demokratieentwicklung in Asien beeinflusst, ist in den letzten Jahren vor allem von Sozialwissenschaftlern im Projektumfeld des Asian Barometer Survey (ABS) untersucht worden. Die Ergebnisse ihrer Forschung sind keineswegs eindeutig und sie fallen nicht unbedingt zugunsten der (liberalen) Demokratie aus. Einerseits führen manche Autoren auf der Grundlage der Auswertungen der ersten Umfragewelle des ABS aus, dass die Demokratie als ideelles Ordnungskonzept in asiatischen Ländern fast einhellig unterstützt wird. Zudem entspricht das Niveau der normativen Unterstützung für die Demokratie den Werten in anderen Weltregionen oder übersteigt sie sogar (Chu et al. 2008; Diamond 2008, S. 37).

Andererseits bedeutet dies noch nicht, dass die Bürger in Ostund Südostasien auch demokratische Werte und Normen internalisiert haben. So zeigen etwa Doh Chull Shin und Youngho Cho, dass die überwältigende Mehrheit der Befragten in Vietnam, Singapur, Malaysia, Philippinen, Indonesien und Thailand die Demokratie gegenüber anderen Herrschaftssystemen präferiert und für das beste verfügbare politische Ordnungskonzept hält (Shin und Cho 2011, S. 34 f.). Im Unterschied zu den Befragten in westlichen und in anderen asiatischen Ländern (Südkorea, Taiwan) definieren sie jedoch Demokratie nicht im liberalen Sinne, sondern weisen stark autoritäre Orientierungen auf. Die große Zustimmung zur Demokratie und die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in autoritär regierten Staaten wie Singapur, Malaysia und Vietnam lassen sich eben auch damit erklären, dass die Bürger die eigene politische Ordnung mehrheitlich bereits als demokratisch definieren. Authentische Unterstützer der Demokratie, die etwa eine bedeutende Rolle im Demokratisierungsprozess spielen könnten, bilden in jedem südostasiatischen Land nur eine kleine Minderheit, während die große Mehrheit der Bürger anscheinend keine Notwendigkeit für einen demokratischen Regimewechsel sieht (Shin und Cho 2011, S. 35; Shin 2012b).

 
< Zurück   INHALT   Weiter >