Kapitel: Das chinesische Puzzle
Kapitalismus ohne Rechtsstaat und Demokratie?
Im Jahr 2008 ist der Milchkonzern San Lu, einer der größten chinesischen Erzeuger von Milchprodukten und darüber hinaus eine der ältesten und bekanntesten Säuglingsnahrungsmarken in China, in einen schweren Skandal geraten. San Lu war mit erheblichen Mengen mit von Melamin verseuchter Milch beliefert worden. Durch die Beigabe des Stoffes Melamin sollte die Milch bei Kontrollen proteinreicher erscheinen. Bei Kleinkindern führt Melamin zu Nierensteinen und Nierenversagen. Insgesamt waren über 300.000 Kinder betroffen, sechs davon verstarben. Nach dem Bekanntwerden dieses Skandals meldete San Lu Konkurs an. Doch damit nicht genug: San Lu war nicht der einzige Milchkonzern, der Melamin unter seine Produkte gemischt hatte. Viele national bekannte Säuglingsnahrungsmarken, wie etwa Yi Li, Meng Niu und Guang Ming, waren in unterschiedlichen Ausmaßen in den Melamin-Skandal verwickelt. Der Einfluss dieses Skandals auf die Milchbranche Chinas ist groß und dauerhaft. Immer mehr Chinesen zweifeln an der Sicherheit von Milchprodukten „Made in China“, besonders an jenen für Kinder. Das Misstrauen ist so groß, dass zahlreiche chinesische Väter und Mütter trotz des damit verbundenen Aufwands und trotz des hohen Preises Kindermilchpulver aus dem Ausland kaufen. Die zunehmende Nachfrage nach Kindermilchpulver von Chinesen hat in Deutschland zeitweise sogar zu einem Milchpulver-Notstand geführt. „Chinesen trinken deutschen Babys die Milch weg!“ – berichtete etwa die Bild-Zeitung. Daraufhin haben viele Supermärkte in Deutschland den Kauf von Milchpulver für sämtliche Kunden eingeschränkt.
Anzeige in einem deutschen Supermarkt. Die chinesischen Wörter auf der Regalleiste bedeuten:
„Jeder kann maximal nur 3 Packungen Kindermilch kaufen.“
Quelle: Internet wethinker.com/2014/05/24/1131/
Der Skandal in der chinesischen Milchbranche ist kein Einzelfall. Wenn man chinesische Berichte aus den letzten Jahren durchgeht, ergibt sich eine lange Liste, aus der hervorgeht, dass fast jede Branche in China Skandale erlebt hat. So verwendeten z.B. Restaurants krebserregendes Öl; Pharmaunternehmen produzierten Medikamentenkapseln mit Leder aus gebrauchten Schuhen; Chemiefabriken pumpten verschmutztes Wasser ohne Rücksicht in die Flüsse, so dass in der ganzen Stadt kein sauberes Wasser mehr zur Verfügung stand; und neu gebaute Brücken brachen plötzlich zusammen. Viele chinesische Ökonomen sehen China an einem Wendepunkt angelangt und prognostizieren, dass die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung kollabieren werde, wenn keine wirksamen Gegenmaßnahmen getroffen würden [1]. Alle diese Probleme werden häufig auf einen Grund zurückgeführt: Korruption. Nach dem Corruption Perceptions Index 2012 von Transparency International nimmt China mit einem Index von 39 (wobei 100 korruptionsfrei, 0 absolut korrupt bedeutet) Platz 80 unter 176 erfassten Staaten ein.
Tatsächlich kann dieser Index die Situation in China nicht genau darstellen, weil die Korruptionspraxis in China sehr komplex ist und sie sich normalerweise in umfassendere soziale Beziehungen einbettet, wodurch man sie kaum von normalen sozialen Interaktionen unterscheiden kann. Im Alltagsleben existiert für Chinesen Korruption überall – etwa wenn sie in eine andere Stadt umziehen und dort die Bürgerschaft erhalten; wenn sie ihre Kinder von einer guten Schule oder Universität aufnehmen lassen; wenn sie eine billige Wohnung kaufen; oder wenn sie eine sorgfältige Behandlung in einem Krankenhaus bekommen wollen. Eine „gute Beziehung“ zu den Kadern ist unverzichtbar, wenn man ein Geschäft zu eröffnen versucht. Geschenke und Schmiergelder für Kader sind für private Unternehmer notwendig, um ihre Geschäfte reibungslos laufen zu lassen. Pressefreiheit und Demokratie sind im Einparteiensystem Chinas kaum realisiert, was nach wie vor die Korruption in der Partei fördert. Deswegen lässt sich bei der Korruption in China durchaus von systemischer Korruption sprechen.
Das ist jedoch nur die eine Seite von China. Die andere Seite ist ein 30 Jahre währender wirtschaftlicher Aufstieg. Sich an einer hohen jährlichen Wirtschaftswachstumsrate von 7 bis 8 Prozent erfreuend, ist China heute schon zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht aufgestiegen. Der chinesische Übergang von der Planzur Marktwirtschaft wird wegen seines Erfolgs und seines Verlaufs weltweit reflektiert. Ohne das politische System grundsätzlich zu verändern, hat China durch einen allmählichen und kontinuierlichen Prozess eine marktwirtschaftliche Ordnung aufgebaut, was sich als viel erfolgreicher als die Reformen in Russland und Osteuropa erwiesen hat, wo „Big Bang“-Maßnahmen vorgenommen wurden. Chinas Wandel von einer geschlossenen und stagnierenden sozialistischen Planwirtschaft zur Werkbank der Welt und zum Motor der globalen Wirtschaft gilt seither als ein „Wirtschaftswunder“.
Damit drängt sich folgende Frage auf: Warum ist in China wirtschaftlicher Aufschwung ohne Rechtsstaat und Demokratie und mit systematischer Korruption möglich? Die Frage lässt sich in zwei Aspekte differenzieren: 1. Wie konnte sich die Wirtschaft Chinas unter einer defizitären politischen und rechtlichen Rahmenordnung relativ robust entwickeln? 2. Warum sind die zur neuen Elite aufgestiegenen Kapitalisten in China nicht in der Lage, einen Beitrag zur weiteren Verbesserung der marktwirtschaftlichen Ordnung und zur Demokratisierung der Politik zu leisten?
Betrachtet man die Ökonomie Chinas aus einer historischen Perspektive, ist der Anfang des Kapitalismus in China selbst ein Rätsel. In der Regel wird der Aufschwung der privaten Ökonomie in China als ein planmäßig anvisiertes Ziel und Ergebnis der Reform am Ende der 1970er Jahre angesehen. In der jüngsten Zeit sind jedoch immer mehr Wissenschaftler davon überzeugt, dass die Reform gar keine Blaupause für die Privatisierung der Wirtschaft besaß und der Aufstieg der privaten Ökonomie eigentlich nur ein Nebenprodukt der Reform war (Li et al. 2000; Lin 1989; Naughton 1995; Nee/Opper 2012; Peng 2004). Das ursprüngliche Ziel der Reform war es lediglich, die Kernaufgabe der Regierung von der politischen Bewegung zu wirtschaftlichem Aufbau zu verlagern. Die Leistungssteigerung der Staatsunternehmen war der Schwerpunkt, während die Partei in jener Zeit noch nicht dazu entschlossen war, die Planwirtschaft aufzugeben. Vor diesem Hintergrund wurde Privatwirtschaft nur am Rand der Nationalökonomie gestattet. Allein die selbständigen Haushaltsgeschäfte (Getihu) waren damals erlaubt, die nicht mehr als sieben Mitarbeiter anstellen durften und deren wirtschaftliche Aktivitäten von der Regierung sehr streng reglementiert wurden. Darüber hinaus fehlte auch ein gesetzlicher Schutz des Privateigentums. Die privatwirtschaftlichen Transaktionen fanden deswegen in einem „Hobbesschen Naturzustand“ statt, in dem keine staatlich garantierte Privatrechtsordnung existierte.
Trotz dieser ungünstigen Rahmenbedingungen entwickelte sich die private Wirtschaft in den 1980er Jahren in China relativ schnell. Die folgende Tabelle zeigt das hohe Entwicklungstempo:
Tabelle 1: Die Entwicklung privater Ökonomie Chinas Quelle: Tsai 2007: 55
Anders als in Europa ist die private Ökonomie in China in erster Linie auf dem Land entstanden. Nach der Ansicht mancher Wissenschaftler – wie Yasheng Huang (2008) – ist das Wirtschaftswunder Chinas in den 1980er Jahren vor allem auf die Erfolge der TVEs (Town and Village Enterprises) zurückzuführen, wohingegen die Staatsunternehmen in den großen Städten nur eine geringe Rolle gespielt haben.
Der Aufschwung des privaten Sektors zwang die Regierung, Schritt für Schritt nachzugeben und ihre Politik und Gesetze ex post anzupassen (vgl. Peng 2004: 1055). Beispielsweise wurde es erst 1988, als sich die Privatwirtschaft bereits seit fast zehn Jahren in hohem Tempo entwickelt hatte, privaten Unternehmern gesetzlich erlaubt, mehr als sieben Mitarbeiter einzustellen. Und erst im Jahr 2004 wurde der Schutz des Privateigentums in der Verfassung verankert. Die rasante Expansion der chinesischen Privatwirtschaft stellt daher ein Puzzle für diejenigen politischen Ökonomen dar, die in einem stabilen Privateigentumsrecht eine wesentliche Voraussetzung für ökonomische Entwicklung und Industrialisierung erblicken (vgl. North/Thomas 2009).
Auf der anderen Seite wundert es viele Wissenschaftler, dass die Entwicklung des Kapitalismus in China keine Demokratisierung mit sich gebracht hat. Nach 30 Jahren kontiuierlicher Entwicklung sind die Errungenschaften der privaten Ökonomie eindrucksvoll. Im Jahr 2009 haben die privaten Unternehmen in China 40 Prozent der nationalen industriellen Produktion beigesteuert und 47 Prozent der Arbeiter in einheimischen privaten Unternehmen angestellt [2].
Angesichts des Aufstiegs der Kapitalismus wird häufig prophezeit, dass die Politik in China unter dem Druck der privaten Unternehmer zur Demokratisierung bewegt werde, weil eine liberale politische Rahmenordnung eng mit ihrem Interesse verbunden sei. Shaohua Hu führt diese Logik so aus (Hu 2000: 155):
China is one of the fastest-growing economies in the world, and its economy probably will continue to expand in the foreseeable future. The growing economy will bring higher living standards, a higher level of education, and a more complicated socioeconomic structure in its wake. Under these circumstances, more people will demand more freedom and democracy.
Diese Prognose wird von vielen Wissenschaftlern unterstützt, für die Kapitalismus und Demokratie zwei Seiten derselben Medaille sind. Doch zu ihrer Enttäuschung kümmern sich die zu neuem Wohlstand aufgestiegenen Kapitalisten in China nicht um politische Aktivitäten, sondern um ihren eigenen Wohlstand, z.B. um die Ausbildung ihrer Kinder und um die medizinische Versorgung der Familie. Nach einer Umfrage in sechs Städten in China (Tang 2005: 70) möchten nur 18 Prozent der Befragten eine Reform der Politik, während 31 Prozent kein Interesse daran hatten und 44 Prozent überhaupt keine Veränderung wollten.
Das Desinteresse an politischer Reform bedeutet aber nicht, dass Chinesen keinen oder einen nur geringen politischen Einfluss ausüben. Im Gegenteil: Gute Beziehungen mit den Regierungen und zuständigen Kadern gelten in der Marktwirtschaft Chinas als Voraussetzung, wenn man ein erfolgreiches Geschäft betreiben möchte. Auf diese Weise sind fast alle chinesischen Privatunternehmer in ein „power game“ (vgl. Hwang 1987) geraten, in dem um politische Macht konkurriert wird. Sie sind davon überzeugt, dass sie zu den Begünstigten im herrschenden politischen System werden können. In diesem Sinne haben sich die Kapitalisten „harmonisch“ in den sozialistischen Staat integrieren lassen und auch einen Beitrag zu seiner Stabilisierung geleistet, anstatt die Demokratisierung gefördert zu haben. „Kapitalismus ohne Demokratie“ nennt Kellee Tsai (Tsai 2007) die politische Ökonomie in China, was jedoch nur schwer mit konventionellen Vorstellungen über den Zusammenhang von Ökonomie und politischem System in Übereinstimmung zu bringen ist.
Für jeden, der mit der ökonomischen und politischen Geschichte in Europa vertraut ist, ist der Fall China in der Tat überraschend. Man muss deshalb untersuchen, welche Faktoren für den besonderen Entwicklungsweg Chinas ursächlich sind. Im Folgenden werde ich zunächst zwei Ansätze zur Beantwortung dieser Frage skizzieren: Manche Wissenschaftler gehen davon aus, dass die revolutionären Veränderungen Chinas mit „harten“ Faktoren – also den politisch-ökonomischen Bedingungen – erklärt werden müssen, während sich die „weichen“ Erklärungen Einflüssen wie der Kultur zuwenden. Diese zwei Perspektiven können in einem Mittelweg münden, bei dem die verborgene Macht der sozialen Beziehungen als Schlüssel zum Verständnis des chinesischen Puzzles erkennbar wird.