Die „weichen“ Erklärungen des chinesischen Puzzles

Auf der anderen Seite des Spektrums befinden sich die „weichen“ Theorien, nach der das ökonomische Handeln auch von nicht-ökonomischen Faktoren beeinflusst wird, so etwa von Moral, Kultur und Religion. Obwohl diese

„weichen“ Faktoren lange Zeit in zahlreichen Wissenschaftsdisziplinen – besonders in der älteren Nationalökonomie und den dann aufkommenden Wirtschaftswissenschaften – weitgehend ignoriert wurden, sind sie bereits in der klassischen Soziologie Max Webers berücksichtigt worden. Nach seinem epochalen Werk Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus besteht ein enger Zusammenhang zwischen der neuen Wirtschaftsform des Kapitalismus und der religiösen Weltanschauung der Protestanten, insbesondere der Calvinisten. Zwei Merkmale der Calvinisten fielen Weber auf: die innerweltliche asketische Lebensführung einerseits und das rationale Streben nach Gewinn andererseits. Diese zwei Eigenschaften haben laut Weber schließlich zur rationalen Buchführung, rationalen Betriebsorganisation und Akkumulation von Kapital geführt, wodurch sich die neue Wirtschaftsform

„Kapitalismus“ entwickelte. Dennoch ist es paradox, dass ein Mensch nach Geld strebt, ohne damit sein säkulares Leben verbessern zu wollen (Weber 2010: 78):

[…] der Erwerb von Geld und immer mehr Geld, unter strengster Vermeidung alles unbefangenen Genießens, so gänzlich aller eudämonistischen oder gar hedonistischen Gesichtspunkte entkleidet, so rein als Selbstzweck gedacht, daß es als etwas gegenüber dem „Glück“ oder dem „Nutzen“ des einzelnen Individuums jedenfalls gänzlich Transzendentes und schlechthin Irrationales erscheint. Der Mensch ist auf das Erwerben als Zweck seines Lebens, nicht mehr das Erwerben auf den Menschen als Mittel zum Zweck der Befriedigung seiner materiellen Lebensbedürfnisse bezogen.

Eine solche asketische, dennoch rationale Orientierung könne man nicht durch den materialen „Unterbau“ – wie Karl Marx behauptet – verstehen. Für Weber ist die besondere Haltung der Calvinisten vielmehr auf ihre spezielle Prädestinationslehre zurückzuführen, nach der der Gnadenstand jedes Menschen bereits im Schöpfungsplan festgelegt ist und der Mensch seinen Gnadenstand nicht verändern kann, aber in der Lage ist, durch den beruflichen Erfolg in seinem säkularen Leben den Gnadenstand zu bestätigen – das Vollbringen guter Werke ist selbst Ausdruck des Gnadenstandes. Als Folge dieser Weltanschauung praktizierten die Calvinisten eine systematische Selbstkontrolle.

Weber hielt seine Religionssoziologie für universell gültig, und zwar nicht nur für Westeuropa, sondern für die gesamte Welt. Seiner Theorie zufolge ist die Lehre des Konfuzianismus der Grund, warum in China kein Kapitalismus entstanden ist. Konfuzianismus und Puritanismus unterscheiden sich Weber zufolge in zwei Aspekten: „[W]ährend der Konfuzianismus“ einerseits „die Magie in ihrer positiven Heilsbedeutung unangetastet ließ, war hier (beim Puritanismus) alles Magische teuflisch geworden, religiös wertvoll dagegen nur das rational Ethische geblieben: das Handeln nach Gottes Gebot, und auch dies nur aus der gottgeheiligten Gesinnung heraus.“ Andererseits „rückte die puritanische Ethik, im starken Gegensatz zu der unbefangenen Stellungnahme des Konfuzianismus zu den Dingen der Erde, diese in den Zusammenhang einer gewaltigen und pathetischen Spannung gegenüber der Welt“. Diese zwei ideologischen Eigenschaften des Konfuzianismus hätten China in seiner Entwicklung zum Kapitalismus gehemmt: Indem er den „Zaubergarten vollends der heterodoxen Lehre (Taoismus)“ überlässt, habe der Konfuzianismus kein Chance, die Prinzipien des Naturrechts, der formalen Rechtslogik und des naturwissenschaftlichen Denkens zu entwickeln. Und wegen des Fehlens eines gewaltigen „Spannungsverhältnisses“ gegenüber der Welt habe der Konfuzianismus auch keine Veranlassung zur Veränderung und Revolution. Was übrig bleibt, sei nur „pietätvolle Fügsamkeit in die feste Ordnung der weltlichen Gewalten“ (Weber 1991: 193f.).

Weber selber hatte zwar das historische China vom ersten bis zum neunzehnten Jahrhundert vor Augen, aber sein Argument ist nach dem Urteil mancher Sozialwissenschaftler auch für das moderne China gültig. So ist beispielsweise Francis Fukuyama (1996) auf die traditionelle chinesische Kultur – den Familismus – eingegangen, der ihm zufolge für den Verlauf der ökonomischen Entwicklung im modernen China verantwortlich ist. Bereits Weber hatte behauptet, dass die „Sippenorganisation“ im antiken China die Entstehung kapitalistischer Beziehungen und Abhängigkeiten gehemmt habe. Während Weber aber eine Erklärung wirtschaftlicher Phänomene und Entwicklungen in China mit Hilfe des religiösen Glaubens und der Weltanschauung des Konfuzianismus versuchte, verwendet Fukuyama ein Konzept, das für viele moderne Sozialwissenschaftler eine zentrale Rolle spielt: „Vertrauen“. Vertrauen ist für Fukuyama das wichtigste Fundament für das, was er „spontane Soziabilität“ nennt: „the capacity to form new association and to cooperate within the terms of reference they establish“ (1996: 27). Aus der Perspektive von Fukuyama ist ein starker Familismus nicht kompatibel mit spontaner Soziabilität, weil er Fremden gegenüber Misstrauen aufbaut, indem er einen sehr engen Zusammenhang unter Verwandten herstellt. Diese Eigenschaft sei besonders in der chinesischen Tradition zu beobachten: „[…] the essence of Chinese Confucianism ist the elevation of family bonds above all other social loyalities“ (1996: 29). In den Worten von Yutang Lin bezeichnet Fukuyama die chinesischen Gesellschaften (also neben der VR China auch Hongkong, Taiwan und Singapur) als „a loose tray of sand“, in denen kein gruppenübergreifendes Vertrauen bestehe und eine starke spontane Soziabilität kaum möglich sei. Aus diesem Grund seien Chinesen nur schwer in der Lage, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Organisation jenseits von Familie und Verwandtschaft zu verwirklichen (1996: 29).

What is striking about Chinese industrialization, […] is the very great difficulty Chinese family businesses seem to have in making the transition from family to professional management, a step that is necessary for the enterprise to institutionalize itself and carry on beyond the lifetime of the founding family. The Chinese difficulty in moving to professional management is related to the nature of Chinese familism. There is a very strong inclination on the part of the Chinese to trust only people related to them, and conversely to distrust people outside their family and kinship group.

Nicht nur Vertrauen, sondern auch Verpflichtungen würden in den chinesischen Gesellschaften auf die Familie begrenzt. In gewisser Weise spiegelt die Einschätzung von Fukuyama die Religionstheorie Webers wider: „In Chinese Confucianism, there is no such thing as a universal moral obligation to all human beings as there is in the Christian religion. Obligations are graded and fall off in intensity the further one moves from the inner family circle“ (1996: 93). In der chinesischen Kultur gibt es demnach kein heiliges und verallgemeinerbares Prinzip, das für alle gleichermassen gültig ist, unabhängig davon, wer der betreffende Mensch ist. Stattdessen wird das Verhalten von Chinesen durch ihre „Rolle“ in Relation zu anderen bestimmt, so dass es sich durch Partikularismus auszeichnet. Diese Eigenschaft der chinesischen Kultur fördere auch die Korruptionspraxis, weil man dazu verpflichtet sei, öffentliche Macht oder Ressourcen zugunsten der Familie zu nutzen. Aufgrund des fehlenden moralischen Fundaments würden sogar solide verfasste Institutionen unterlaufen (Fukuyama 2001: 9). Geht man von einer solchen Sichtweise aus, dann ist auch ein Marktversagen vorprogrammiert und die Entstehung einer Bürgerklasse als Voraussetzung für Demokratisierung kaum vorstellbar.

Die Behauptungen von Weber und Fukuyama werden durch zahlreiche empirische Untersuchungen unterstützt, in denen das begrenzte und partikulare Vertrauen und Pflichtgefühl von Chinesen dokumentiert wird (Redding 1990; Wilson/Pusey 1982). Sie stoßen aber auch auf heftige Kritik. Obwohl die meisten Kritiker die Grundannahme akzeptieren, dass ökonomische Leistungsfähigkeit und institutionelle Veränderungen wesentlich durch kulturelle Faktoren mitbestimmt werden, hegen sie jedoch starke Zweifel daran, ob der Konfuzianismus die moderne Marktwirtschaft tatsächlich behindern muss.

Yingshi Yu argumentiert in seiner Studie, dass sich im Konfuzianismus tatsächlich sowohl das „Spannungsverhältnis“ als auch die Rationalisierungstendenz finden lassen. Webers Kenntnisse über den Konfuzianismus seien mangelhaft, da ihm chinesische Literatur und Dokumente nur sehr beschränkt zur Verfügung standen. Yu (1987) verwendet dagegen eine Vielzahl von historischen Dokumenten wie Briefe, Tagebücher und Inschriften, um ein möglichst umfassendes Gesamtbild des Konfuzianismus zu zeichnen. Nach seiner Meinung hat sich der Konfuzianismus seit der Song-Dynastie (960 n. Chr.) unter dem Einfluss des Buddhismus signifikant verändert. Ein transzendentes „Himmelsgesetz“ (tian li) sei von den Konfuzianern entworfen worden, die sich verpflichtet hätten, dieses in die Realität umzusetzen. Die große Lücke zwischen der Realität und dem Himmelsgesetz habe aber ein starkes „Spannungsverhältnis“ zur Folge gehabt, das sie dazu gezwungen habe, die Haltung einer „innerweltlichen Askese“ zwecks Realisierung des Himmelsgesetzes in ihrem säkularen Leben zu praktizieren. Diese „innerweltliche Askese“ des Konfuzianismus habe zunehmend an ökonomischer Bedeutung gewonnen, da der „Lebensunterhalt“ (zhi sheng) seit der Ming-Dynastie (1368 n. Chr.) immer mehr in den Vordergrund gerückt wurde, ohne den ein Konfuzianer den transzendentalen Zweck nicht erreichen und er sogar seine Integrität und Würde nicht behalten könne. Vor dem Hintergrund dieser Überzeugung gingen viele Konfuzianer kommerziellen Aktivitäten nach, ihr Ideal des Himmelsgesetzes hatten sie gleichwohl nicht aufgegeben. Diese heilige Aufgabe und die innerweltliche Askese führten dazu, dass die sogenannten „konfuzianischen Geschäftsleute“ wie ihr europäisches Gegenstück rationales Denken und Verhalten bei Buchführung und Management entwickelten. Yu gelangt deshalb zu dem Schluss, dass der Konfuzianismus ebenso wie die protestantische Ethik den „Geist des Kapitalismus“ befördert hat.

Herman Kahn (1979:121) argumentiert ebenfalls, dass Weber mit seinem Verdikt falsch gelegen hat. Er sieht in der tatsächlichen Entwicklung die größte Herausforderung für Weber, da stark vom Konfuzianismus geprägte Gesellschaften wie Südkorea, Singapur, Taiwan und Hongkong von den 1960er bis zu den 1980er Jahren einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt haben. In seinen Augen lassen sich die wirtschaftlichen Erfolge in Ostasien kaum von der konfuzianischen Lehre trennen. Diese Auffassung wird mittlerweile von vielen chinesischen wie westlichen Wissenschaftlern vertreten. Der Familismus Chinas sollte nicht mehr als ein Hindernis für den Kapitalismus angesehen werden, sondern vielmehr als eine Triebkraft. So motiviere die starke Verpflichtung gegenüber der Familie die Chinesen zu fleißiger und sorgfältiger Arbeit (Harrell 1985; Whyte 1996), und das tiefe Vertrauen unter nahen Verwandten sowie Freunden senke die Transaktionskosten und mache Kooperation generell effizienter (Redding 1990; Harvey 1999). Schließlich motivierten die starken emotionalen Bindungen an Verwandte und die Heimat ausgewanderte Chinesen nach ihrem Erfolg im Ausland das dort verdiente Geld wieder in China zu investieren (Whyte 1995).

Außer dem Familismus sind auch andere die Ökonomie fördernde Elemente des Konfuzianismus in die Diskussion eingebracht worden: konfuzianische Verhaltensnormen wie Fleiß, Sparsamkeit und Integrität sowie die moralische Verpflichtung des „konfuzianischen Geschäftsmanns“, z.B. eine Schule, Brücke oder Straße in der eigenen Heimatstadt zu bauen (Cheung/King 2004; Zhang 2002). Allerdings drängt sich die Frage auf, warum der Markt im heutigen China dennoch in Unordnung geraten ist, obwohl die konfuzianische Ethik doch einen Beitrag zur modernen Marktwirtschaft leisten kann. Diese Frage wird häufig so beantwortet, dass nach dem Kollaps des sozialistischen Ideals es noch nicht zur Wiederbelebung der konfuzianischen Ethik in der Marktwirtschaft gekommen ist. Es fehle den Chinesen an moralischen Werteinstellungen, die ihr Verhalten regulieren könnten. Po Keung Ip (2009: 214) erklärt die Probleme Chinas deshalb so:

Old values and norms were either thrown into doubt or perceived to be irrelevant, and abandoned. However, new norms and values had yet to be established to provide the basic guidance for people's behaviors. This great disruption in values and norms nurtured an environment of anomie. People's behaviors were largely shaped and motivated by naked self-interests and greed.

Diese Auffassung wird von vielen chinesischen Wissenschaftlern akzeptiert, besonders von jenen in der VR China selbst. Die zahlreichen Untersuchungen zur konfuzianischen Wirtschaftsethik in der VR China folgen meistens demselben Schema: Sie betonen die potentiell positiven Effekte der konfuzianischen Ethik in einer Marktwirtschaft und halten deshalb eine konfuzianische Moralerziehung für erforderlich (vgl. Ji, D. 2000; Tang/Luo 1998; Zhang, H. 2010). Für diese Wissenschaftler sind sowohl die Erfolge der chinesischen Wirtschaft als auch ihre Defekte Beweise für ihre Behauptungen.

Es ist insgesamt schwierig, die Frage, ob die konfuzianische Ethik die moderne Ökonomie fördern kann oder nicht, abschließend zu beantworten. Denn zentrale Begriffe einer solchen Antwort wie Kultur, Weltanschauung und Ideologie sind selbst nur schwer zu präzisieren. Versucht man die ökonomische Entwicklung allein durch diese Faktoren zu erklären, sind kontroverse Interpretationen desselben sozialen Phänomens nahezu zwangsläufig. Ohne rigorose Kriterien ist man nicht in der Lage, den ökonomischen Effekt von Kultur zu messen: In welchem Maße behindert der Familismus ökonomische Entwicklung aufgrund des Fehlens von universalem Vertrauen und genereller Verpflichtung? Und in welchem Maße fördert er die Ökonomie gerade aufgrund des starken Vertrauens zwischen Familienangehörigen? In welchem Maße wirkt der Familismus überhaupt auf das tatsächliche Verhalten der Chinesen? Hier fehlt den „weichen“ Theorien das, was zu den Stärken der Wirtschaftswissenschaften gehört: Genauigkeit und Nachprüfbarkeit. Wegen dieser Schwäche sind die Kenntnisse über die ökonomischen Effekte von Kultur sehr begrenzt, weshalb man sie mittels greifbarer Elemente – also der „harten“ Faktoren – zu fassen versucht hat, wie etwa Douglass North betont: „Our understanding of the source

of such behavior [1] is deficient, but we can frequently measure its significant in choices by empirically examining marginal changes in the cost of expressing convictions“ (North 1990: 43).

Der taiwanesische Wissenschaftler Yingshi Yu (1989) behauptet in seiner umfangreichen historischen Untersuchung zur konfuzianischen Weltanschauung, dass durch die chinesische Kultur allein nicht zufriedenstellend erklärt werden kann, warum in China kein Kapitalismus entstanden ist. Er schlägt deshalb vor, bei dieser Frage die Politik Chinas in den Vordergrund zu rücken. Andere Wissenschaftler aus Taiwan wie Ambrose King, Junshi Yang, Xinyi Xiao und Weixun Fu (vgl. King 1985; Yang/Du 1989) halten sowohl die „Inkompatibilitätsthese“ als auch die „Förderungsthese“ für irrelevant, weil die Antwort auf die Frage, ob der Konfuzianismus einen positiven oder negativen Einfluss auf den Markt hat, nicht generell gegeben werden kann, sondern von dem konkreten politisch-ökonomischen Hintergrund abhängt.

  • [1] Mit „such behavior“ meint North das von Kultur regulierte Verhalten.
 
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