Einleitung

Auch ohne faktische Regierung findet im politischen System der Europäischen Union (im Folgenden EU) Regieren als bewusstes Setzen von kollektiv verbindlichen Handlungszielen und Maßnahmen zu deren Realisierung statt. Infolgedessen sind die Bedingungen und Konsequenzen europäischen Regierens in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses gerückt (Greenwood 2007; KohlerKoch & Rittberger 2007; Benz 2004; Kohler-Koch et al. 2004; Brettschneider et al. 2003; Lepsius 2000; Zürn 2000). Normative Fragen hinsichtlich der als effektiv und legitim erachteten Verfahren der Willensbildung[1] und Entscheidungsfindung wurden zum Gegenstand der Debatte (Wimmel 2009; Kohler-Koch & Larat 2008; Steffek & Nanz 2008; Holzhacker 2007; Jachtenfuchs & KohlerKoch 2004; Papadopoulos 2004; Bellamy & Castiglione 2003) und der Begriff des Demokratiedefizits avancierte zum Schlagwort.

Die diesbezüglich geäußerten Vorwürfe sind vielfältig: Die Politikprozesse seien intransparent, gesamteuropäische Willensbildung und Interessenvermittlung nur bedingt vorhanden (Tömmel 2006; Beyers & Kerremans 2005; Tiedtke 2005), demokratische Standards wie politische Gleichheit und Rechenschaftspflicht nur ungenügend realisiert (Hüller 2010). Für andere Autoren[2] gründen die Defizite in fehlender Kommunikation der EU-Institutionen (Statham 2010: 3). In der Debatte um Lösungsansätze nehmen die Aspekte größere Bürgernähe, verstärkte Rückkopplung politischer Entscheidungen mit den Bürgern und verbesserte Partizipation der Zivilgesellschaft, speziell von Nichtregierungsorganisationen (im Folgenden NGOs) eine zentrale Stellung ein (Smismans 2006; Liebert & Trenz 2009; Finke & Knodt 2005; Callies 2005; Lemke 2003; Abromeit

2002).

Die EU ist mittlerweile eine wichtige Instanz für die Vertretung gesellschaftlicher Interessen. Folglich sind die Konsolidierung von NGOs in Netzwerken und ihre organisatorische Zentralisierung in Brüssel zu beobachten. Greven (2012: 56) spricht gar von einer riesigen Korona von NGOs, welche die EU-Institutionen in ihrem Handeln beeinflussen wollen. Mehr noch, im Rahmen der Good Governance-Initiative der EU sind NGOs verstärkt als Verhandlungsakteure in europäische Politikprozesse eingebunden. Die Initiative resultiert aus den konstatierten demokratischen Defiziten sowie der Wahrnehmung, dass sich viele Europäer dem Wirken der EU entfremdet fühlen und ist bestrebt, der anhaltenden Debatte um jene Defizite mittels Förderung und verstärkter Einbindung der Zivilgesellschaft entgegenzuwirken.

„From the point of view of European institutions, linking 'civil society organizations' to EU decision-making procedures aims at linking European citizen closer to the Union.” (Saurugger 2008a: 2 [Herv. i. O.])

Ergo manifestieren sich im Wachstum des europäischen NGO-Sektors auch Effekte europäischer Politikinitiativen, die in ihrer Bedeutung als strukturelle Rahmenbedingungen des Agierens der NGOs nicht zu unterschätzen sind (Princen

& Kerremans 2008; Curbach 2003: 63). Bereits in den 1990ern begannen die EU-Institutionen besonders transnational organisierte NGOs in europäisches Regieren einzubinden. Saurugger (2011: 2) spricht von einer participatory norm which insists on the association of nonstate actors to decision making processes in nearly all policy areas.” Vor allem die EU-Kommission (im Folgenden Kommission) wird als Wegbereiter für verstärkte Präsenz und Beteiligung gesehen (Smismans 2008; Armstrong 2002).

Den konzeptionellen Ausgangspunkt dieser Studie bildet, in Anerkennung dieser Tatsache, die Bezeichnung des politischen Entscheidungssystems der EU als Governance(Benz 2009; Eising & Lenschow 2008; 2007) bzw. MultilevelGovernance-System (Hooghe & Marks 2003; Marks 1992; Scharpf 1985)[3]. Entscheidungen werden in Verhandlungen sowie im Zusammenwirken der EU-Organe, unter aktiver Beteiligung nationaler Vertreter, einer Vielzahl von zivilgesellschaftlichen Repräsentanten und Experten getroffen (horizontaler Politikstil) und erfordern häufig eine Koordination der verschiedenen Ebenen des Mehrebenensystems (Kohler-Koch et al. 2004: 170ff; Knodt 2005: 35; Papadopoulos 2004; Huget 2002: 64). Es gibt zahlreiche Gremien und Ausschüsse, in die NGOs mit einem Anhörungsmandat eingebunden sind (Armstrong 2006; Warleigh 2003; Joerges & Neyer 1998). Diese sind in der Regel ausgesprochen effizienzund konsensorientiert (Eising & Kohler-Koch 1999). Es wird ein deliberativer Verhandlungsmodus gepflegt, weshalb den Governance-Netzwerken ein wesentlicher Beitrag zur Legitimation europäischer Politik attestiert wird (Sabel

& Zeitlin 2008; Cohen & Sabel 1997).

Nicht nur in Folge ihrer verstärkten Präsenz und Einbindung erweisen sich NGOs, im Kontext der Debatte um die Demokratisierung der EU, als besonders interessante zivilgesellschaftliche Akteure. Wie Parteien sind sie Akteure der Interessenaggregation und -artikulation (Frantz 2007; Zimmer & Weßels 2001; Rucht 1993) sowie der Willensbildung und erfüllen als intermediäre Akteure eine Bindegliedfunktion (im Folgenden Linkage) zwischen Bürgern bzw. ihrer Anhängerschaft und den Institutionen staatlicher Willensbildung (Knodt et al. 2011: 364), die in komplexen Systemen – und damit auch in der EU – unabdingbar ist. Konkret wird Linkage definiert als substanzielle interaktive Verbindung zwischen politischen Entscheidungsträgern und Bürgern (Lawson 1980: 3; Poguntke 2003), welche „die Politik der Eliten an die Präferenzen der Bürger zurückbindet“ (Poguntke 2000: 1) und gesellschaftlichen Rückhalt sowie die Legitimation kollektiv verbindlicher, politischer Entscheidungen sichert. Bei dem in der Parteienforschung zu verortenden Linkage-Konzept handelt es sich um ein mehrdimensionales Konzept, das neben der Interessenaggregation und -artikulation, die Responsivität – idealiter gegenüber gesellschaftlichen Interessen, zumindest aber gegenüber den Präferenzen der Unterstützer –, die Mobilisierung und die politische Sozialisierung (Poguntke 2000: 23f) als weitere, für Politikprozesse essenzielle, Funktionszuschreibungen an intermediäre Akteure erfasst. Voraussetzung jener Bindegliedfunktion ist ein beidseitiger Kommunikationsfluss, der durch die Linkage-Agenten realisiert wird (Poguntke 2005) und damit deren bedeutungsvolle gesellschaftliche Verankerung bzw. Verbindung zur Basis. Letztere wird NGOs als zivilgesellschaftlichen Organisationen im Besonderen attestiert (Jarren & Donges 2006: 132; Gebauer 2001; Kom 2001; 2000).

Da der einzelne Bürger schwerlich persönlich an Politikprozessen auf EUEbene partizipieren kann und Parteien ihrer Linkage-Funktion bis dato nur unzureichend nachkommen (Mair & Thomassen 2010), sehen viele Autoren in der organisierten Zivilgesellschaft bzw. in NGOs, eine bedeutende Vermittlungsinstanz zwischen EU-Organen und Bürgern (Kohler-Koch & Finke 2007; Hüller 2006; Smismans 2006; Nanz & Steffek 2005; Trenz 2005a). Angesichts ihrer transnationalen Organisation, der verstärkten Präsenz und Einbindung auf EUEbene, der ihnen nachgesagten Bürgernähe und ihrer Rolle als Linkage-Agenten wird vor allem von NGOs erwartet, als Katalysator für ein Mehr an Demokratie zu fungieren (Kohler-Koch 2007: 263; Rek 2007: 151; Armstrong 2006; Kom

2001).

In diesem Zusammenhang wurden NGOs lange Zeit mit „Vorschusslorbeeren versehen“ (Zimmer 2010: 151). Inwieweit sie den hohen Erwartungen an ihre Linkage-Leistung gerecht werden, ob sie überhaupt die Kapazitäten haben, diese zu erfüllen, lag außerhalb des Forschungsinteresses. Die Frage nach ihrem, untrennbar mit ihrer Linkage-Leistung verknüpften, Demokratisierungspotenzial wird in akteurszentrierten Arbeiten zwar impliziert, aber nicht systematisch problematisiert oder beantwortet (Finke 2005: 41). Viele Studien pflegen somit eine relativ unkritische Betrachtungsweise des Akteurs NGO oder konzentrieren sich auf Beiträge von (einzelnen) Organisationen in spezifischen Politikbereichen oder Problemfällen (Geiger 2005; Beisheim 2004; Roose 2003; Wendler 2002; Altvater & Brunnengräber 2002; Furtak 2001; Willets 1996), weshalb die Frage nach ihrem tatsächlichen Potenzial meist offen bleibt. Erst in den letzten Jahren ist der Forschungsgegenstand in den Fokus gerückt[4], obgleich mit divergierenden Schwerpunkten, Ansätzen (auf konzeptioneller Seite u.a. Saurugger 2008a

& b; 2006; Greenwood 2007; für empirische Arbeiten u.a. Steffek et al. 2010; Altides & Kohler-Koch 2009; Kohler-Koch & Buth 2009; Dür & de Bievre 2007) und Kriterien zur Bewertung des Potenzials.

Jene jüngste Forschung äußert sich, entgegen der hoffnungsvollen Erwartungen der EU-Organe, kritisch gegenüber ihrer Fähigkeit, Linkage zu realisieren respektive eines NGO-Beitrags zur Minderung demokratischer und legitimatorischer Defizite. Die Einschätzung gründet in der Prämisse, dass erfolgreiches Agieren im EU-System NGOs vor vielfältige Herausforderungen stellt, die ihre Rolle als Linkage-Agenten beeinflussen. Die institutionelle Umwelt – die Interdependenz der Politikprozesse, der deliberative Verhandlungsstil und die diesbezüglich erforderliche Expertise – verlangt teils erhebliche Adaptionsleistungen. Nur in dieser Hinsicht ressourcenstarke und effizient organisierte NGOs vermögen ihre Anliegen durchzusetzen (Saurugger 2009; Beyers 2008). Viele NGOs durchliefen – bzw. durchlaufen immer noch – in Reaktion auf diese Kontextfaktoren einen Professionalisierungsprozess (Frantz & Martens 2006), begünstigt durch diverse, meist von der Kommission unterstützte Programme oder an bestimmte Auflagen gebundene finanzielle Unterstützung (Kohler-Koch & Buth 2011).

Nicht wenige Beobachter sehen in jener Anpassung bzw. den vermuteten Folgen, in Gestalt der Konzentration auf politische Akteure und strategische Partner, gepaart mit Veränderungen auf organisationsstruktureller und prozessualer Ebene, die Gefahr der Vernachlässigung der kommunikativen Rückkopplung mit den Unterstützern und Begünstigten ihrer Arbeit sowie schwindender Einflussmöglichkeiten von Mitgliedern und Basis und somit das Risiko der Herausbildung einer, von ihrer Basis losgelösten, zivilgesellschaftlichen Elite (Maloney 2008; Frantz & Martens 2006; Smismans 2006). Demnach wird im Zuge der Professionalisierung ihre Fähigkeit, die Kluft zwischen EU und Bürgern zu überwinden, in gleicher Weise wie ihre authentische Interessenvertretung und Repräsentativität als Grundlage ihrer Legitimation und ihres Demokratisierungspotenzials in Frage gestellt (Greven 2012; Saurugger 2006).

Die Debatte um mögliche negative Auswirkungen der Professionalisierung ist nicht neu. Sie wurde schon für Parteien geführt (Bender & Wiesendahl 2011; Jun 2010; Detterbeck 2005; Wiesendahl 2001a) und auch „schon in der ersten Phase der Institutionalisierung aus den sozialen Bewegungen heraus wurde in den NGOs hierzu hitzig diskutiert“ (Frantz 2007: 194). Vor dem Hintergrund der verbesserten Einflussmöglichkeiten im EU-System und der hohen Erwartungen an die Linkage-Leistung von NGOs gewinnt die Diskussion indes an neuer Qualität. Überdies sprechen divergierende normative Ansichten, welche Funktionen NGOs zur Minderung des Demokratiedefizits erfüllen müssen, die Heterogenität der organisierten Zivilgesellschaft sowie die uneinheitliche und biswielen synonym verwendete Bezeichnung der Organisationen als NGOs, (Transnational) Social Movement Organizations oder Interessengruppen, genauso wie die variierende bzw. unpräzise Verwendung des Begriffs Professionalisierung gegen generalisierende Aussagen zum Konnex von Linkage und Professionalisierung – zumal diese meist nicht auf systematischen empirischen Untersuchungen basieren. Ferner, so die Argumentationslinie dieser Studie, ist nicht von einem Professionalisierungsgrad aller auf EU-Ebene agierenden NGOs auszugehen. Während einige ihr Handlungsund Interaktionsspektrum erweitern oder ihre Prioritäten verschieben, sind solche Prozesse in anderen NGOs kaum wahrnehmbar (Martens 2005a). Es soll keinesfalls negiert werden, dass die relevanten Organisationsumwelten die organisationsinternen Strukturen im Sinne einer Professionalisierung beeinflussen. Gleichwohl wird der Standpunkt vertreten, dass die Professionalisierung in Anbetracht ungleicher Ressourcenausstattung, Organisationsstruktur oder variierendem Selbstverständnis und Tätigkeitsgebiet bei verschiedenen NGOs unterschiedlich stark ausgeprägt ist.

Die Studie ist damit in dem Strang der Forschungsarbeiten zu verorten, der Organisationswandel sowohl durch externe, als auch interne Faktoren beeinflusst sieht (Kieser & Walgenbach 2007; Martens 2005a; Harmel 2002; Gibson

& Römmele 2001). Eine systematische empirische Analyse, wie weit fortgeschritten die Professionalisierung von auf EU-Ebene agierenden NGOs ist bzw. wie sich das Phänomen konkret in der Organisationsrealität manifestiert, wurde bisher vernachlässigt. Fragen nach der Kausalität von Professionalisierung und kommunikativer Rückkopplung mit Mitgliedern und Basis bedürfen somit einer differenzierteren, auf empirischen Erhebungen basierenden Betrachtung.

  • [1] Darunter wird (1) der Prozess verstanden, bei dem bestimmte Umstände zu politischen Überzeugungen, Zielen und Handlungen führen sowie (2) der Prozess, bei dem die Interessen vieler durch Parteien, NGOs oder Verbände zum Ausdruck gebracht, von politischen Einrichtungen aufgenommen und mit anderen Interessen zur Entscheidungsfindung zusammengefasst werden (Schubert & Klein 2011)
  • [2] Aus Gründen der Einfachheit sind bei der Verwendung der männlichen Form immer beide Geschlechter angesprochen
  • [3] Den Kern des Konzepts bilden veränderte Regulierungsmodi und die Übernahme politischer Funktionen durch nichtstaatliche Akteure (Benz & Papadopoulos 2006: 2ff; Schuppert 2005; Kooiman 2005; Benz 2004; Hooghe & Marks 2001). Der Etablierung von Governance-Strukturen liegt die Einsicht zugrunde, dass nur in Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Akteuren Effektivität und Legitimität zu realisieren sind (Mayntz 2004: 68). Für eine Übersicht der Anwendungsweisen des Begriffs Governance siehe Kooiman (2003; 2002)
  • [4] Zu den umfassendsten empirischen Arbeiten gehören CONNEX und NEWGOV: mzes.unimannheim.de/d7/de/projects/exzellenznetzwerk-connex-effizientes-und-demokratischesregieren-im-europaischen-mehrebenensystem und eu-newgov.org
 
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