Institutionalismus in der neuen ökonomischen Soziologie
Eine dritte Perspektive entwickelte sich aus einer soziologischen Schule, die als
„neue ökonomische Soziologie“ bezeichnet wird. Für eine lange Zeit wurde ein Methodologischer Holismus, also die Tradition von Durkheim und Parsons, als Grundlage der Soziologie angenommen. Als Parsons in den 1960er Jahren jedoch seine dominante Position in der soziologischen Theorie verlor, spielte der Methodologische Holismus in den Sozialwissenschaften eine immer geringere Rolle. Viele Soziologen wurden zunehmend ungeduldig angesichts „a theory that stressed value consensus and in which change was seen as an adaptive reequilibration to strains on the social system“ (Swedberg/Granovetter 1990: 93). Sie wandten sich deswegen dem Methodologischen Individualismus zu, der in der Ökonomie bereits stark verbreitet war. Die Einflüsse der Ökonomik auf die Soziologie beschränkten sich aber nicht auf die Methodologie. Ehrgeizige Ökonomen wie Gary Becker stellten vielmehr die Arbeitsteilung zwischen Ökonomen und Soziologen in Frage, indem sie traditionelle soziologische Themen zum Gegenstand der Ökonomik erklärten: Kriminalität, Rassendiskriminierung und andere soziale Phänomene könnten im Sinne des ökonomischen Verhaltensmodells ebenfalls als Ergebnis individuell-rationaler Entscheidungen studiert und erklärt werden (vgl. Becker 1990).
Die aggressive Invasion der Ökonomen – die häufig als „ökonomischer Imperialismus“ bezeichnet worden ist – forderte die Soziologen zum Gegenangriff heraus. Zu Beginn der 1980er Jahre trat dabei die sogenannte „neue ökonomische Soziologie“ als eine Reaktion auf den ökonomischen Imperialismus auf den Plan. Sie ist eng mit Soziologen wie Mark Granovetter, Harrison C. White, Viviana Zelizer und anderen verbunden. Mit dem Adjektiv „neu“ versuchten sie, ihre Arbeiten von der alten, von Durkheim und Parsons begründeten soziologischen Tradition abzugrenzen. In den Augen von Granovetter hat Parsons dem strukturellen Funktionalismus fälschlicherweise ein „übersozialisiertes“ Menschenbild zugrunde gelegt, „a conception of people as overwhelmingly sensitive to the opinions of others and hence obedient to the dictates of consensually developed systems of norms and values“ (Granovetter 1985: 483). Gleichzeitig versucht Granovetter aber auch, das Konzept des „untersozialisierten“ Menschen zu vermeiden, das zur Grundlage der Ökonomik gehört. Nach seiner Auffassung ist das menschliche Handeln weder als das alleinige Ergebnis individuell rationaler Nutzenmaximierung noch als eine mechanische Reflexion der Gesellschaft anzusehen. Menschliches Verhalten müsse dagegen aus seiner „Einbettung“ in die Struktur sozialer Beziehungen verstanden werden. Das heißt, der Mensch verhält sich zwar weitgehend rational, aber die Ergebnisse rationalen Handelns sind abhängig von den den konkreten Handlungskontexten (Granovetter 1985: 506):
I suggest, in contrast, that while the assumption of rational action must always be problematic, it is a good working hypothesis that should not easily be abandoned. What looks to the analyst like nonrational behavior may be quite sensible when situational constraints, especially those of embeddedness, are fully appreciated. When the social situation of those in nonprofessional labor markets is fully analyzed, their behavior looks less like the automatic application of „cultural” rules and more like a reasonable response to their present situation.
Der direkte Bezug auf Kultur und Werteinstellungen, die lange Zeit von Soziologen als die wichtigsten Waffen gegen den ökonomischen Imperialismus eingesetzt wurden, wird also als zu deterministisch aufgegeben. Stattdessen rückt Granovetter interpersonale Beziehungen und die soziale Situation in den Vordergrund, um Handeln – auch ökonomisches Handeln – zu verstehen. Aus dieser Sicht wird individuelle Rationalität nicht durch kulturelle Überzeugungen ausgeschaltet, sondern wird durch die jeweilige soziale Struktur geprägt: Sie wird zu einer „kontextabhängigen Rationalität“ (vgl. Boudon 1987: 63f.).
Granovetter vertritt ferner die These, dass ökonomische Institutionen als soziale Konstruktionen zu verstehen sind (vgl. Granovetter 1992). Diese These geht auf das Konzept „der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ von Peter L. Berger und Thomas Luckmann (Berger/Luckmann 1990) zurück. Während Berger und Luckmann soziale Institutionen jedoch aus einem historischen und kulturellen Blickwinkel betrachten – „it is impossible to understand an institution adequately without an understanding of the historical process in which it was produced“ (1990: 54f.) –, ist Granovetter der Auffassung, dass ökonomische Institutionen „are constructed by individuals whose action is both facilitated and constrained by the structure and resources available in social networks in which they are embedded“ (Granovetter 1992: 7).
Institutionen wären demnach weder allein das Ergebnis rationalen Designs noch eine bloße Reflexion kultureller Weltanschauungen. Sie würden vielmehr durch die Struktur der sozialen Beziehungen bestimmt, in die sie eingebettet sind. So fehlen in vielen Gesellschaften ökonomische Institutionen wie Unternehmen, obwohl die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen günstig erscheinen. Der Grund dafür besteht in der Sichtweise Granovetters aber nicht in der dort herrschenden Kultur, die die Entstehung effizienter neuer Institutionen behindere, sondern darin, dass die Struktur der sozialen Beziehungen nicht genügend interpersonales Vertrauen generieren könne. Nur in Gesellschaften (hier nennt Granovetter die chinesischen Gesellschaften in Südostasien als Beispiel), in denen stabile Vertrauensbeziehungen unter Menschen durch soziale Netzwerke zur Verfügung stünden, könnten Unternehmen gedeihen. In diesem Sinne würden ökonomische Institutionen sozial konstruiert.
Indem er Institutionen auf der Basis dynamischer interpersonaler Beziehungen versteht, versucht Granovetter, das Equilibrium-Paradigma in der Neuen Institutionenökonomik zu vermeiden. Beide – der „Calculus Approach“ und der
„Cultural Approach“ – sehen Institutionenentwicklung als eine quasi mechanische Bewegung zu einem statischen Gleichgewicht an, die entweder von rationaler Nutzenmaximierung oder von kulturellen Traditionen bestimmt wird. Mit dem Konzept von Granovetter lässt sich die Dynamik der Institutionenentwicklung besser erfassen. Die Entwicklung der Ökonomie folgt demnach keinem vorprogrammierten Pfad, sondern entfaltet sich im Rahmen kontextabhängiger menschlicher Interaktionen. Diese Auffassung entspricht der empirischen Evidenz, dass sich vor dem gleichen ökonomischen und kulturellen Hintergrund signifikant unterschiedliche Entwicklungen vollziehen können.
Victor Nee und Paul Ingram argumentieren jedoch, dass soziale Beziehungsstrukturen als alleinige Grundlage von Institutionen zu fragil seien (Nee/Ingram 2001: 22):
While Granovetter criticized the neoclassical model for building a house of cards on the fragile assumption of rationality, ironically, personal relationships as a basis present similar problems. Even the casual observer of social life can testify that personal relationships can be fragile as well as robust, and that they are often unpredictable, as reflected in the saying, „With a friend like you who needs an enemy?” When structural sociologists reify ongoing social exchanges, they assume a „harder” image of the fabric of social life than may be warranted. The imagery of network ties as a „hard” structural arrangement, for example, can lead an analyst to overlook their „softer” more elusive, and contradictory qualities.
Demzufolge können soziale Beziehungen sowohl eine Quelle für Vertrauen als auch für Täuschung sein, weil diejenigen, denen Vertrauen entgegengebracht wird, auch in der Lage sind, andere auszunutzen. Ohne eine institutionalisierte Sanktionsmacht erscheint es deswegen für Individuen als zu riskant, unbesehen mit Personen in ihren jeweiligen sozialen Netzwerken zu kooperieren, besonders in der modernen Gesellschaft, die sich durch hohe Anonymität und komplexe Arbeitsteilung auszeichnet. Die bereits erwähnten unterschiedlichen Schicksale der zwei mittelalterlichen Händlergruppen bilden für Granovetter in der Tat eine Herausforderung. Während die kollektivistischen Maghribis ihre Transaktionen auf der Grundlage persönlichen Vertrauens und sozialer Netzwerke durchführten, waren die individualistischen genueser Juden auf eine dritte Partei angewiesen. Am Ende blühten die Genueser gerade aufgrund der institutionellen Unterstützung im mittelalterlichen Europa weiter auf, während die Maghribis allmählich verschwanden. Sie scheiterten mit ihren fragilen sozialen Beziehungen an der Aufgabe, eine nachhaltige und feste Grundlage für die sich immer weiter ausdehnenden Transaktionen zu schaffen (vgl. Greif 2006). Das ist auch der Grund, warum Ökonomen wie North (North/Thomas 2009) und Olson (1982) den wirtschaftlichen Erfolg in Europa auf die Entstehung formaler Institutionen wie der Eigentumsrechte zurückführen.
Nee und Ingram versuchen deshalb, die in der Einbettungstheorie verloren gegangene Verbindung zwischen institutioneller Analyse und interpersonalen Interaktionen wieder herzustellen. Ihr Schlüsselkonzept ist das der sozialen Norm. Sie machen dabei Anleihen bei der sozialen Austauschtheorie von George Homanns, derzufolge soziale Ordnung als ein Nebenprodukt iterativer sozialer Beziehungen entstehe. Wirksame soziale Normen würden in einem informellen Prozess institutionalisiert, während die Menschen miteinander interagieren (Nee/ Ingram 2001: 25):
(…) informal norms arise in the course of social interactions as standards of expected behavior and are maintained when reward is expected to follow conformity and punishment, deviance. Members of a group reward conformity to norms by conferring social approval. Conversely, members punish failure to conform to norms through their social disapproval and, ultimately, through ostracism.
Nee und Ingram gehen also ebenfalls von sozialen Beziehungen aus, sie sind aber skeptisch, dass persönliches Vertrauen in sozialen Beziehungen ausreicht, um auch risikantere Formen interpersonaler Transaktionen abzusichern – wie Granovetter unterstellt. Sie heben vielmehr die Kontrollmechanismen durch soziale Normen hervor, die durch kontinuierliche soziale Interaktionen als Nebenprodukte etabliert werden und Kooperationsprobleme lösen können, ohne dass eine Zwangsinstitution von außen eingreifen müsste. Wechselseitige Überwachung und Sanktionierung normrelevanten Verhaltens innerhalb von sozialen Netzwerken – etwa durch soziale Anerkennung und Missbilligung – stellen eine wirksame Unterstützung für stabile Kooperationsbeziehungen dar. Formelle Institutionen sind aus dieser Sichtweise darauf angewiesen, dass sie durch informelle soziale Normen getragen werden. Aus diesen Überlegungen von Nee und Ingram ergibt sich das folgende Modell:
Abb. 2 Modell für den neuen soziologischen Institutionalismus Quelle: Nee/Ingram (2001: 31)
In diesem Modell bezieht sich „Institutional Framework“ auf die formellen Institutionen, die den übergreifenden Rahmen für Organisationen – etwa wirtschaftliche Unternehmen – darstellen. „Small Groups“ werden gebildet durch soziale Netzwerke, in denen Individuen miteinander agieren und informelle Normen produzieren. Von oben nach unten besteht eine Regulierungsbeziehung, bei der die institutionelle Rahmenordnung Organisationen reguliert, während Organisationen wiederum Einfluss auf die sozialen Gruppen ausüben. Von unten nach oben verläuft eine Konstruktionsbeziehung: Kleine Gruppen produzieren informelle Institutionen durch interpersonale Interaktionen, die auf der organisatorischen Ebene und auf der Ebene der institutionellen Rahmenordnung zu formellen Institutionen weiterentwickelt werden können.
Nach diesem Modell ist der Motor institutioneller Dynamik ganz unten verankert. Stimmen die informellen sozialen Normen in der kleinen Gruppe mit
den formellen Institutionen auf höheren Ebenen überein, wird eine hohe Leistung der Organisationen und der Rahmenordnung das Ergebnis sein. Doch wenn die formellen Institutionen den Präferenzen und Interessen in den kleinen Gruppen nicht mehr entsprechen und die den formellen Institutionen unterliegenden informellen Normen sich verändern, könnte die Entkopplung von formellen und informellen Institutionen schließlich zum Zerbrechen des „stahlharten Gehäuses“ führen und die gesamte institutionelle Rahmenordnung verändern. In seinen späteren empirischen Studien zum Kapitalismus in China (Nee/Opper 2012) folgt Nee genau diesem theoretischen Schema. Seiner Meinung nach resultierte die Entstehung des Kapitalismus in China aus den dynamischen interpersonalen Interaktionen von unten anstatt aus den von formellen Institutionen von oben betriebenen Reformen.
Das von Nee und Ingram skizzierte Modell mit seiner systematischen Einbeziehung der Rolle sozialer Normen ermöglicht einen besseren Einblick in den dynamischen Vorgang der Institutionenentwicklung. Ein wesentliches Defizit ist aber nicht zu übersehen: Indem soziale Interaktionen und Normbildungsprozesse aus den konkreten historischen und kulturellen Kontexten herausgelöst werden, gerät der Ansatz angesichts der beobachtbaren Varianz der Institutionenentwicklung in unterschiedlichen Gesellschaften in Erklärungsnot. In der Theorie von Nee und Ingram gibt es keinen Platz für das, was hinter der Struktur sozialer Beziehungen und sozialer Normen steht. Sie begnügen sich mit der Feststellung, dass die Präferenzen und Interessen der Individuen in kleinen Gruppen die Triebkräfte interpersonaler Interaktionen und informeller Normen sind. Kultur wird völlig außer Acht gelassen.
Es ist bemerkenswert, dass Ökonomen wie Hayek, North oder Greif kulturellen Faktoren durchaus eine wichtige ökonomische Bedeutung zuschreiben, die neue ökonomische Soziologie bei ihren Untersuchungen ökonomischer Phänomene diesen Begriff hingegen meidet, obwohl er einstmals zum zentralen Gegenstand der Soziologie gehörte. Der Grund liegt vielleicht darin, dass die kulturelle Perspektive – die sich meistens eng mit einem Methodologischen Holismus verbindet – für eine lange Zeit die Entwicklung der Soziologie behindert hat, während Ökonomen bedeutende Fortschritte bei der Erklärung der Mikrofundierung sozialer Ordnung gemacht haben. Bei den Soziologen, die heute zum Methodologischen Individualismus tendieren, wird Kultur als möglicher Einflussfaktor in der Regel übergangen. Diese Tendenz ist ein Fehler, weil man nur unter Berücksichtigung der historischen und kulturellen Kontexte in der Lage ist, die unterschiedlichen Entwicklungspfade der Institutionenentwicklung in Gesellschaften zu verstehen. Die Herausforderung besteht darin, Kultur als erklärenden Faktor zu berücksichtigen, ohne die eigenständige Dynamik sozialer Interaktionen und Beziehungen und die Anpassungsfähigkeit von Individuen wieder zu vernachlässigen.