Die alternative Erklärung – der Ansatz vom „finanziellen Anreiz“

Politische Ökonomen haben die wirtschaftliche Dynamik in China jedoch aus einer anderen Perspektive betrachtet. In ihrer sorgfältigen Untersuchung zur Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung in Wuxi, Shanghai und Wenzhou geht Susan Whiting (2006) davon aus, dass sich ein klarer Kausalzusammenhang zwischen der Politik der lokalen Regierungen und dem Entwicklungspfad der Wirtschaft ermitteln lässt. Sie nimmt an, dass die wichtigsten Triebkräfte der chinesischen Ökonomie die Finanzreform und die Reform des Kaderbewertungssystems waren. Während die Finanzreform den Kadern die Verantwortlichkeit für Gewinne und Verluste der lokalen Ökonomie übertrug, verknüpfte die Reform des Kaderbewertungssystems die Beförderung von Kadern eng mit der Leistungsfähigkeit der lokalen Ökonomie. Vor diesem Hintergrund seien die lokalen Kader sowohl finanziell als auch politisch motiviert worden, eine günstige Umgebung für die jeweilige lokale Ökonomie zu schaffen.

Ob dabei die kollektive oder die private Ökonomie gefördert wurde, sei von den lokalen historischen Traditionen abhängig gewesen. So verfügten z.B. in der Mao-Ära Shanghai und Wuxi schon über relativ große und robuste kollektive Ökonomien. Nach der Reform entwickelten die lokalen Regierungen in Shanghai und Wuxi deshalb in erster Linie die kollektive Ökonomie, weil sie ein höheres Einkommen garantieren würde. Im Gegensatz dazu besaß die lokale Regierung in Wenzhou zu Beginn der 1980er Jahre nur sehr wenige kollektive Ressourcen, weshalb die Regierung die private Ökonomie förderte, um ihre Einkünfte zu verbessern. Dafür wurde eine Reihe politischer Grundsätze zugunsten der privaten Unternehmer fixiert: So wurde etwa die Shareholding-Kooperative als Teil der kollektiven Ökonomie definiert und das Privateigentum in Unternehmen mit „rotem Hut“ geschützt. Dies erkläre, warum die private Ökonomie in Wenzhou – im Gegensatz zu anderen Gebieten wie Shanghai und Wuxi – gedeihen konnte. Persönliche Beziehungen alleine, betont Whiting, seien nicht ausreichend, um eine florierende private Ökonomie wie jene in Wenzhou ins Werk zu setzen.

Es stimmt sicherlich, dass lokale Politik einen wichtigen Einfluss auf die Ökonomie ausüben kann. Doch daraus folgt nicht, dass die sich auf Verwandte und Klans stützenden persönlichen Beziehungen eine geringere oder gar keine Rolle gespielt hätten. Auch in den kollektiven Unternehmen in Shanghai und Wuxi, die nach Whiting als Folge vor allem der formellen Institutionen anzusehen sind, spielten die kulturellen Institutionen und Guanxi eine zentrale Rolle. Die Eigentumsrechte in kollektiven Unternehmen waren vage definiert. Nominell gehörten die kollektiven Unternehmen zu den jeweiligen Gebietsgemeinschaften – also zu den Dörfern oder kleinen Städten. Aber tatsächlich wurden diese Unternehmen von den lokalen Regierungen geführt, die als Vorstand fungierten (vgl. Oi 1995). Die Tatsache, dass sich trotz der unsicheren Eigentumsrechte kollektive „TVEs“ (Town and Village Enterprises) in den 1980er Jahren robust entwickelt und die gesamte Konjunktur Chinas belebt haben, bedeutet laut Martin L. Weitzman und Chengguang Xu (Weitzman/Xu 1994) eine erhebliche Herausforderung für die konventionellen Eigentumsrechtstheorien, die bislang vor allem auf den Westen fokussiert waren. Nach ihrer Meinung liegt das Geheimnis des Erfolgs der kollektiven TVEs in der besonderen kooperativen Kultur Chinas. Grundlage dieser Kultur ist aber die Tradition des Familismus, wie das Gregory A. Ruf in seiner empirischen Studie eines Dorfs in der Provinz Sichuan, in dem die kollektive Ökonomie – ebenso wie in Shanghai und Wuxi – die lokale Wirtschaft prägt, deutlich macht (Ruf 1999: 29):

Kinship is, among other things, about property rights. It provides an ideological framework for structuring access to and control over resources, including the transmission of such privileges across time (through generational inheritance and succession) and space (through marriage, ritual

„godparentage”, and sworn brotherhood). […] various aspects of social organization, such as ties

of decent, marriage, and personal alliance, have provided an organizational nexus through which village managers have lowered enterprise „transaction costs”, as well as the costs of monitoring and enforcing the compliance of their labor forces.

Es ist interessant, dass Ruf und Chen (1999) dieselbe Schlussfolgerung ziehen, obwohl es sich bei ihren Forschungsgegenständen um zwei politisch und ökonomisch ganz unterschiedliche Gebiete handelt. Vielleicht kann ein Blick auf die lokale Politik in Shanghai und Wuxi erklären, warum sich die private Ökonomie dort nicht entwickeln konnte. Wichtiger ist es jedoch, sich Guanxi in Verwandtennetzwerken und Klans zuzuwenden, um den Erfolg der kollektiven Unternehmen zu verstehen. Auch die formelle institutionelle Unterstützung für das Privateigentum in Wenzhou erzählt nicht die ganze Geschichte. Warum engagierten sich die lokalen Kader für die Förderung der privaten Ökonomie, während sie doch über augenscheinlich attraktivere Alternativen verfügten – z.B. die privaten Unternehmen mit „rotem Hut“ in Besitz zu nehmen? Warum verließen sich die Unternehmer weiterhin vor allem auf Guanxi, also auf die persönlichen Beziehungen mit Verwandten und Freunden, obwohl der Schutz durch die formellen Institutionen schon vorhanden zu sein schien?

Der Großteil der offiziellen Politik zugunsten der privaten Ökonomie fand in Wirklichkeit erst ex poststatt: Die Regeln folgten den Tatsachen! Der Aufstieg der modernen politischen und ökonomischen Institutionen im Westen geschah ebenfalls genau nach diesem Muster: „good formal institutions have typically followed, rather than preceded, economic development“ (Nee/Opper 2012: 17). Die Reformpolitik in China – betrieben sowohl von der Zentralregierung als auch von den lokalen Regierungen – wäre demnach von der kontinuierlichen Entwicklung der privaten Ökonomie motiviert worden und nicht umgekehrt. Aus dieser Perspektive waren die formellen institutionellen Veränderungen ein Ergebnis der Alltagsinteraktionen von Hunderttausenden Kadern und Marktakteuren. Die Produkte dieser Interaktionen, nämlich innovative informelle Institutionen wie Shareholding-Kooperative oder Unternehmen mit „rotem Hut“, haben schließlich die gesamte Wirtschaftsstruktur Chinas verändert.

 
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