Verliert Guanxi auf dem Markt an Bedeutung?
Der Prozess der Modernisierung wird häufig als eine eindimensionale Entwicklung angesehen, als deren Folge auf dem Markt schließlich ein unpersönlicher Austausch dominieren wird. Aus dieser Perspektive müssten Guanxi und andere Formen von traditionellen interpersonalen Beziehungen während des Aufstiegs der Marktwirtschaft allmählich in den Hintergrund geraten. Je mehr Ressourcen durch die Konkurrenz auf dem Markt verteilt werden, desto weniger sind die Akteure auf persönliche Beziehungen angewiesen. Auf den ersten Blick trifft diese Annahme zu, weil die gegenwärtige Geschichte Chinas tatsächlich eine „Dekonstruktion“ von Guanxi vor Augen zu führen scheint. Nachdem die Marktwirtschaft in China als Grundlage der Nationalökonomie akzeptiert wurde und die entsprechenden Gesetze zum Schutz des Privateigentums erlassen worden waren, besteht für die privaten Unternehmer im Prinzip die Möglichkeit, Transaktionen durch Marktinstitutionen durchzuführen, ohne Guanxi in Anspruch zu nehmen. Aus Interviews mit 155 Kadern und Unternehmern in Shanghai hat Douglas Guthrie auf eine abnehmende Bedeutung von Guanxi auf dem Markt geschlossen: Sowohl Kader als auch Unternehmer sprächen mehr von der Konkurrenz auf dem Markt und weniger von Guanxi. Guanxi ist nach Guthrie „an institutionally defined system – i.e. a system that depends on the institutional structure of society rather than on culture – that is changing in stride with the institutional changes of the reform era“ (Guthrie 1998: 255). Der Untergang von Guanxi sei durch den eingeschlagenen Modernisierungsprozess vorprogrammiert.
Im Gegensatz dazu argumentiert Mayfair Yang, dass Guanxi „is best treated as a multifaceted ever-changing set of practices which make acts of interpretation and representation a very complex and difficult undertaking“ (Yang 2002: 459). Laut Yang ist die kulturelle und soziale Prägung durch Guanxi dauerhaft, obwohl sich die formelle institutionelle Struktur verändert. Aus diesem Grund büße Guanxi durch die kontinuierlichen Reformen auch nicht an Bedeutung ein, sondern entfalte sich in einem neuen Territorium (Yang 1994: 167):
Far from fading into irrelevance in the rapidly commercializing society, the art of guanxi plays a new and important role in all types of commercial transactions which have emerged with the economic reforms. Money still cannot buy everything, and guanxi still provides a better access to goods. Guanxi and gifts have also come to be used explicitly to save money and to earn money in the new commercial context where they are frequently employed as money equivalents.
Ein von Yang genanntes Beispiel ist die private Nutzung der den Staatsunternehmen gehörenden Autos. In den 1980er Jahren und am Anfang der 1990er Jahre waren private Autos in China sehr selten. Um große Gegenstände zu transportieren (etwa bei einem Umzug), musste man in seinem Guanxi-Kreis einen Fahrer eines Staatsunternehmens oder einer Administration suchen, der in seiner Freizeit über ein Auto verfügen konnte. Früher hatte man dem Fahrer lediglich Geschenke zu geben oder ihn zum Essen einzuladen, um die Renqing-Schuld zu begleichen. Doch während der Herausbildung der Marktwirtschaft machte sich eine Tendenz bemerkbar, dass sowohl Bittsteller als auch Fahrer die Barbezahlung bevorzugten, weil sie einfacher und effizienter war. Hierbei spielte Guanxi jedoch weiterhin eine wichtige Rolle. Man konnte nicht direkt einen fremden Fahrer um Hilfe bitten. Man musste entweder früher schon einmal ein Guanxi mit ihm etabliert haben oder die Bitte mittels eines gemeinsamen Freundes an ihn richten. Auch der Preis war stark von Guanxi abhängig. Während der Fahrer bei nahen Verwandten oder Freunden die Zahlung kaum erwähnte oder sie entschieden ablehnte, forderte er von einem eher „marginalen“ Freund in seinem Guanxi-Netzwerk relativ hohe Beträge (vgl. Yang 1994: 163-164).
Yangs Untersuchung entspricht der alltäglichen Erfahrung vieler Chinesen in dem fraglichen Zeitraum – so war Guanxi nützlich, um ein Fernsehgerät zu kaufen oder eben um ein Auto zu benutzen. Als sich die Marktwirtschaft entwickelte, war Guanxi zwar keine notwendige Voraussetzung mehr: Man konnte ein Fernsehgerät auch auf dem Markt kaufen oder ein Auto mieten. Mit Guanxi konnte man jedoch einen Fernseher direkt bei der Fabrik zum Selbstkostenpreis kaufen oder ein Auto gegen die Zahlung lediglich eines symbolischen Betrags nutzen. Aus diesem Grund waren Guanxi-Praktiken auch nach der Etablierung der Marktwirtschaft in China weiterhin gängig.
Aber der Aussagewert von Yangs Untersuchung hat Grenzen. Ihr Buch Gifts, Favors, and Banquets wurde im Jahr 1994 publiziert. Was Yang damit nicht mehr erfassen konnte, ist die zunehmende Privatisierung und Liberalisierung der Nationalökonomie ab Mitte der 1990er Jahre. In der Zeit, als Guanxi noch als „money equivalent“ funktionierte, waren viele Produkte wegen der Geschlossenheit des Binnenmarktes noch zu teuer für die meisten Chinesen. Aus diesem Grund versuchten sie durch Guanxi die Preise zu senken, was zu Lasten der Renqing-Schuld gehen musste. Die größere Offenheit und die stärkere Konkurrenz führten jedoch zu immer niedrigeren Preisen und einer höheren Leistungsfähigkeit des Marktes. Nach 1994 hatte sich die Vielfalt der angebotenen Produkte und Dienstleistungen bei insgesamt stark gesunkenen Preisen bereits in einer Weise vergrößert, wie sie außerhalb der Vorstellungskraft der Zeitgenossen am Ende der 1980er Jahre lag. Wer umziehen wollte, wandte sich nicht mehr an Freunde oder an einen Fahrer in einem Staatsunternehmen, sondern suchte nun einfach nach einem professionellen Spediteur auf dem Markt. Der Erfolg der Marktwirtschaft ließ die Chinesen immer mehr vom Preis und von der Qualität der Produkte anstatt von Guanxi sprechen. Aus dieser Perspektive scheint die Behauptung von Guthrie zutreffend, dass Guanxi nach der Etablierung der Marktwirtschaft immer mehr in den Hintergrund geriet.
Im Jahr 2002 hat Yang versucht, ihren Ansatz mit neuen empirischen Untersuchungen zu stützen. Sie räumt zwar ein, dass Guanxi im alltäglichen wirtschaftlichen Leben nicht mehr von großer Bedeutung ist, doch beharrt sie darauf, dass Guanxi als ein kulturelles Erbe insgesamt immer noch eine zentrale Rolle spielt (Yang 2002: 463f.)
(…) with the consolidation of the new consumer economy, guanxi practice has moved out of the area of the acquisition of consumer goods and provision of everyday needs, and into a more restricted domain, exactly that area where Guthrie claims it is declining. That is, guanxi now flourishes in the realm of business and the urban-industrial sphere, whether in dealings among private entrepreneurs, between private entrepreneurs and state managers, or between entrepreneurs and officials, especially local officials.
Die These von einer weiterhin großen Bedeutung von Guanxi im chinesischen Wirtschaftsleben der Gegenwart wird von anderen Autoren unterstützt (Chan et al. 2002; Su/Littlefield 2001; Wang 2000). Ausländischen Investoren wird der Ratschlag erteilt, in China unbedingt auf Guanxi und Mianzi zu achten (vgl. Buckley et al. 2006). Sogar in Hongkong, Taiwan und Singapur, wo die private Ökonomie eine viel bessere institutionelle Umgebung genießt, verlässt sich ein großer Teil der chinesischen Geschäftsleute schließlich doch auf persönliche Beziehungen (vgl. Redding 1990). Auch im Alltagsleben der Menschen wird Guanxi nicht völlig ausgeklammert. In manchen Situationen ist Guanxi nach wie vor notwendig, z.B. wenn das eigene Kind in eine gute Schule gehen soll oder ein krankes Familienmitglied in einem guten Krankenhaus zu behandeln ist.
Wie sind die offenbar abweichenden Ergebnisse der Interviews von Guthrie zu beurteilen? Die Erhebung von Guthrie in Shanghai ist zwar nicht irrelevant. Dennoch ist es problematisch, dass er den Kreis seiner Informanten im Wesentlichen auf Kader und Manager in Staatsunternehmen beschränkte und die Interviews in formalen Kontexten durchführte. Es ist zweifelhaft, wie offen sich die chinesischen Gesprächspartner – die eng mit der Partei und Regierung verbunden waren – gegenüber einem ausländischen Wissenschaftler geäußert haben, gerade was ein solch sensibles Thema wie Guanxi angeht, das häufig mit Korruption in Zusammenhang gebracht wird. Im Gegensatz dazu hat Yang Informanten auf allen Ebenen befragt: Kader, Manager in Staatsunternehmen, private Unternehmer und auch einfache Leute. Die Gespräche fanden in informellen Situationen statt, wobei die Informanten die Wissenschaftlerin selbst als eine Freundin in ihrem Guanxi-Kreis ansahen. Aus diesem Grund sind die Untersuchungen von Yang als zuverlässiger einzuschätzen.
Zuzugestehen ist sicherlich, dass in den Bereichen, in denen der Markt gute und preiswerte Produkte und Dienstleistungen für den alltäglichen Gebrauch anbietet, Guanxi an Bedeutung verliert. Aber in denjenigen Bereichen, in denen die Ressourcen durch bürokratische Systeme oder persönliche Beziehungen verteilt werden, z.B. bei Ausbildung, medizinischer Behandlung und Arbeitssuche, spielt Guanxi weiterhin eine unverzichtbare Rolle. Es ist vorschnell zu behaupten, dass die Marktwirtschaft Guanxi-Praktiken schließlich in jedem Bereich verdrängen wird. Denn wie Yang und andere Wissenschaftler beobachtet haben, beherrschen die Normen von Guanxi das Verhalten von privaten Unternehmern, Managern in Staatsunternehmen und Kadern in einem gewissen Ausmaß nach wie vor. Die meisten von ihnen streben nach einer Balance zwischen den Normen von Renqing und Mianzi einerseits und den Profiten auf dem Markt andererseits. Deswegen lässt sich die Persistenz von Guanxi nicht nur auf die noch unvollkommene Marktdurchsetzung zurückführen. Vielmehr ist Guanxi als Institution viel komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint.