Die Theorie des Marktübergangs
Die erste Perspektive ist vor allem von Viktor Nee entwickelt worden. Laut Nee kann die Entwicklung der privaten Ökonomie die Grundlagen des Klientelismus in einem sozialistischen Staat zur Erosion bringen. In einer Planwirtschaft werden die wesentlichen Ressourcen durch die zentrale Regierung verteilt, so dass die grundlegenden Bedürfnisse des Volkes nur durch die staatliche Bürokratie befriedigt werden können. Diese redistributive Macht erzeugt – aus Nees Sicht – eine starke Abhängigkeit von den Kadern, die der Nährboden für Patron-KlientBeziehungen ist. Die Untersuchungen von Walder (1986) und Li (1991) über Danweis unterstützen diese Annahme. In Danweis verfügen die führenden Kader über sämtliche Zugänge zu ökonomischen und politischen Ressourcen. Vor diesem Hintergrund versuchen die meisten Arbeiter in Danweis eine stabile Patronage-Beziehung mit den Leitern aufzubauen, indem sie politisches Engagement und psychologische Ergebenheit als Gegenleistungen bieten.
Davon ausgehend behauptet Nee, dass redistributive Macht als Grundlage der Patron-Klient-Beziehung ausgehöhlt und geschwächt wird, sobald die Planwirtschaft durch ein marktwirtschaftliches System ersetzt wird. Nee stützt seine Theorie durch drei Thesen (1989): 1. Die These von der Marktmacht: Wenn die redistributiven Institutionen durch den Marktmechanismus ersetzt werden, wird die politische Macht der redistributiven Institutionen abgebaut. Dementsprechend nimmt die ökonomische Macht der Produzenten zu: „Therefore, the transition from redistribution to markets involves a transfer of power favoring direct producers relative to redistributors“ (Nee 1989: 666); 2. Die These vom Marktanreiz: Märkte motivieren Produzenten, während der redistributive Mechanismus sie demotiviert. Der Übergang zur Marktwirtschaft erzeugt deshalb größere Anreize als Produzent auf dem Markt tätig zu sein; 3. Die These von der Marktgelegenheit: Der Übergang zur Marktwirtschaft bietet neue Optionen zur freigewählten individuellen Betätigung. Während sich im staatlichen Sozialismus derartige Gelegenheiten nur innerhalb der politischen Hierarchie bieten, offerieren die Märkte neue Chancen für Bürgerinnen und Bürger und fördern auch die sozioökonomische Mobilität. Mit diesen drei Thesen versucht Nee die Annahme eines fundamentalen Wandels in der Machtverteilung als Folge der Herausbildung des Marktes in China plausibel zu machen (Nee 1989: 667):
Changes in distribution will flow from changes in power, incentives, and opportunities. The processes are interdependent and occur simultaneously. Overall, the theory of market transition predicts that direct producers gain in power relative to redistributors in the sectors of the socialist economy that experience a shift from redistributive to market allocation.
Wenn die Macht der Produzenten gegenüber den politischen „Umverteilern“ relativ zunimmt, wenn also die Ressourcenverteilung nicht mehr von der Zentralregierung gesteuert wird, sondern dezentralisiert durch die Märkte, „then the importance of clientelist politics will decline in relative terms“ (Nee 1991: 279). Die zwei Jahrzehnte der Entwicklung in China, nach deren Ablauf diese Prognose formuliert wurde, scheinen ein Beleg für die Richtigkeit der Thesen zu sein. In seiner neuesten Untersuchung aus dem Jahre 2012 (Nee/Opper 2012) ist Nee noch zuversichtlicher mit seiner Behauptung. Er will beobachtet haben, dass die fortschreitende Dezentralisierung und Liberalisierung der Nationalökonomie in China den politischen Einfluss auf den ökonomischen Prozess weiter verringert habe und politisches Kapital in China keine zentrale Rolle mehr spiele. Unternehmer, die weiterhin auf ihre politischen Patrone angewiesen seien, „are unlikely to emerge as winners in China's intense market competition over the long run“ (Nee/Opper 2012: 258). Im Gegensatz dazu gelte: „markets cumulatively shift the interest of economic actors away from self-enforcing reliance on vertical political connections characteristic of state socialism to self-reinforcing investment in horizontal network ties that sociologists emphasize as the basis of social capital in market economies“ (Nee/Opper 2012: 236).
Nee versteht unter „horizontalen Netzwerken“ oder „sozialem Kapital“ allerdings nicht Guanxi, sondern allgemeine interpersonale Beziehungen, die von den jeweiligen institutionellen Rahmenbedingungen bestimmt werden. Dabei spielen kulturelle und historische Hintergründe keine Rolle, ebenso wenig wie die Normen von Renqing und Mianzi. Es geht um soziale Beziehungen, durch die Marktteilnehmer Transaktionskosten verringern, indem soziale Überwachung und Sanktionen als Nebenprodukte von sozialen Interaktionen wirksam werden.
5.1.2 Korruption als ein struktureller Defekt des kommunistischen Systems
Während sich Nee in erster Linie mit den ökonomischen Reformen in China beschäftigt, widmen sich andere Autoren den politischen Rahmenbedingungen des sozialistischen Chinas, unter anderen Jean Oi. Sie hält Korruption für einen systemischen Defekt des kommunistischen politischen Systems. Demnach sei die Patron-Klient-Beziehung nicht nur auf die distributive Macht der Regierung zurückzuführen, sondern auf das gesamte politische System des kommunistischen Staates. Neben der distributiven Macht nennt Oi noch zwei weitere politische Machtinstrumente: staatliche Regulierungen und die feindliche Behandlung von erfolgreichen Unternehmern (vgl. Oi 1989: 227). Aufgrund fehlender Pressefreiheit und der Monopolisierung der politischen Macht seien die Kader in der Lage, eine willkürliche staatliche Politik zu betreiben und politische Maßnahmen zu manipulieren. Auch unter den neuen Marktbedingungen könnten sie allein aufgrund persönlicher Abneigung irgendwelche „Gründe“ erfinden, um erfolgreiche Unternehmer zu erpressen oder ihnen zu schaden. Obendrein könnten sie ihren Freunden und Verwandten über politische Kanäle „Hintertüren“ öffnen, durch die sie andere Marktteilnehmer und Konkurrenten übervorteilen. Oi kommt zu folgendem Schluss (Oi 1989: 233):
… a free market environment does not necessarily lead to the end of bureaucratic control nor the demise of cadre power. Restructuring the economy and re-opening markets may offer peasants more opportunities and put limits on cadre power, and may even eliminate the power of certain cadres, such as team leaders in the Chinese case, but unless other conditions such as scarcity are removed, and unless access is equalized through a more developed market system and a complete dismantling of central planning and rationing, the prospects for overcoming the effects of systemic corruption and particularistic relationships are poor.
Aus dieser Perspektive ist der Marktmechanismus alleine nicht in der Lage, hierarchisch organisierte politische Machtgruppen dauerhaft zu schwächen. Vielmehr können politisch-bürokratische Organisationen und Marktinstitutionen in Symbiose existieren. Der sogenannte „lokale staatliche Korporatismus“ (vgl. Kapitel 1.2), bei dem lokale Regierungen als Vorstand kollektiver Unternehmen fungieren, ist eine Spielart einer solchen Symbiose: Die lokale politisch-bürokratische Macht in China geht vor der Marktwirtschaft nicht in die Knie, sondern zieht sogar noch Vorteile aus ihrer Entwicklung. Einerseits gehört der lokale staatliche Korporatismus, der unter dem Kuratel des politisch-bürokratischen Systems steht, zur staatlichen Ökonomie. Andererseits agiert der lokale staatliche Korporatismus jedoch entsprechend der Marktbedingungen: Er stellt sich der Konkurrenz auf dem Markt und trägt zum Aufschwung der chinesischen Ökonomie bei.
Die kommunistische politische Macht konnte daher in der neuen Marktwirtschaft bislang überleben. Aus der Sicht von Oi kann die Grundlage des Klientelismus nur zerstört werden, wenn die kommunistische Politik Chinas grundlegend verändert wird, was jedoch in der überblickbaren Zukunft nicht geschehen werde.