Die soziale Konstruktion der Korruption in China

Das Fortdauern der Korruption in China wird nicht nur dadurch verursacht, dass die meisten Chinesen auf ihre Techniken und Ressourcen des Guanxi vertrauen, sondern auch dadurch, dass ein solches Verhalten in großem Maße von der Gesellschaft toleriert wird. Es geht um die soziale Konstruktion der Korruption (vgl. Granovetter 2007). Trotz ihrer ansonsten divergierenden Ansichten gehen Nee, Oi und Wank gemeinsam davon aus, dass Korruption lediglich ein politischökonomisches Phänomen sei und „soziale Konstruktion“ dabei keine Rolle spiele. Doch im dritten Kapitel wurde bereits darauf hingewiesen, dass ineffektive formelle Institutionen häufig mit abweichenden sozialen Normen einhergehen. Dass sich die Korruption in China immer weiter verstärkt, kann also nicht alleine mit politischen oder ökonomischen Umständen erklärt werden. Vielmehr müssen auch die sozialen Faktoren berücksichtigt werden.

In China wird die Korruptionspraxis in den meisten Fällen nur in allgemeiner Form verdammt. Wenn jedoch Korruption in einem bestimmten Guanxi-Kontext erfolgt, wird sie von vielen Menschen als moralisch annehmbar empfunden. Erstens bietet die soziale Einbettung der Korruption einen

„moralischen Schirm“. Wie schon geschildert, werden in Guanxi-Kontexten Geschenke oder Geld mit Hilfe von Renqing und Mianzi vermittelt, wodurch der Akt des Gebens von dem Wunsch nach einer Gegenleistung getrennt wird. Dies erschwert es nicht nur, Korruptionspraktiken auf die Spur zu kommen, sondern beruhigt auch das Gewissen der Beteiligten, und hier vor allem jenes der Kader. Wenn etwa anlässlich besonderer sozialer Anlässe – meistens wenn die Tochter oder der Sohn eines Kaders eine Universität besucht, ins Ausland geht oder heiratet – Geschenke gemacht werden, fühlen sich die Kader kaum schuldig. Und sie können sich auch weismachen, dass sie eigentlich keine Bestechung erhalten und nur ihren „guten Freunden“ geholfen haben, gegenüber denen sie sich emotional und moralisch verbunden fühlen. Auf diese Weise erzeugen durch Guanxi vermittelte Geschenke eine mikrokosmische Welt, in der nicht nur das Machtverhältnis zwischen Patron und Klient umgekehrt werden kann (vgl. Yang 1994: 206), sondern auch die an sich verurteilte Korruptionspraxis einen gewissen ethischen Anstrich erhält.

Außerdem wird Korruption mit dem Argument gerechtfertigt, dass die politische Patronage eigentlich nur sinnlose und aufwendige bürokratische Prozesse erleichtere, ohne eine dritte Partei zu schädigen. Granovetter weist auf die Ambivalenz dieses Arguments hin: „whether one thinks that this was merely a rationalization for corrupt behavior that should be strongly condemned, or the expression of an appropriate local autonomy, depends on one's view of the legitimacy of the extraction that was being resisted“ (Granovetter 2007: 166). Am Beginn der Reformen, aber auch noch nach der offiziellen Anerkennung der Privatwirtschaft im Jahr 1988, mussten die privaten Unternehmen sowohl eine aufwendige Bürokratie ertragen als auch hohe Steuern zahlen (vgl. das Teilkapitel 3.3.1), die häufig als purer Unsinn und Schikane angesehen wurden. Vor diesem Hintergrund erschien politische Patronage als nichts anderes als eine vernünftige Korrektur von schlecht konzipierten staatlichen Strukturen. Auch wenn sich die Patronage auf die illegale Umverteilung von Ressourcen bezog – bei der etwa kollektives oder staatliches Eigentum zu einem extrem niedrigen Preis verschleudert wurde –, verstand man sie ebenfalls nicht unbedingt als unmoralische Handlung. Denn die große Unzufriedenheit mit dem staatlichen Monopol und der Ineffizienz der staatlichen Ressourcenverteilung führte zu einer inoffiziellen „Legalisierung“ der unter der Hand betriebenen Privatisierung.

Diese psychologische Ausgangslage veränderte sich auch nach der Etablierung der Marktwirtschaft kaum, als die politische Patronage immer mehr zu einer ökonomisch ineffizienten Ressourcenumverteilung führte. Denn Enttäuschung und Unzufriedenheit mit der existierenden politischen und administrativen Rahmenordnung waren nach wie vor weit verbreitet. Jeder glaubte deshalb, dass er unter solchen Umständen nur durch Patron-Klient-Beziehungen in den althergebrachten Guanxi-Netzwerken das erhalten und bewahren könne, was ihm gehöre und ihm zustehe. Wenn aber jeder eine solche Schlussfolgerung zog, verschob sich das „Kampffeld“ vom Markt zur Politik: Wettbewerb um Macht statt Wettbewerb um Kunden war nun die Devise. Als Konsequenz dieser Politisierung droht, dass die Quelle des

„Wohlstands der Nationen“ langfristig zerstört wird, da im politischen Wettbewerb nur eine Minderheit profitieren kann und die Anreize für Investitionen in eine produktive Marktwirtschaft unterlaufen werden.

Die soziale Konstruktion der Korruption – also deren moralische und gesellschaftliche Rechtfertigung – ermöglicht eine hohe Toleranz gegenüber der Korruption in China. Es ist zwar richtig, dass im heutigen China die Massenmedien, die Partei und auch das Volk Korruption verbal vorbehaltlos verurteilen, in Wirklichkeit aber fast alle Chinesen in sie verwickelt sind und ihr Verhalten obendrein kaum als Korruption verstehen. Die Korruptionspraxis wird häufig umschrieben als „einen Freund zu bitten“, „einem Freund zu helfen“ oder „sinnlose Regeln zu umgehen“. Ein Bauer kann durch Verwandtschaft oder Freundschaft ein Guanxi mit dem zuständigen Kader etablieren, wenn er das Bußgeld für einen Verstoß gegen die Ein-Kind-Politik verringern oder aufheben lassen möchte. Ein solches Verhalten gilt kaum als Korruption, zumindest nicht in den Augen der Betroffenen selbst. Diese Logik findet sich aber auch, wenn Millionen oder Milliarden im Spiel sind. Ihre besondere „soziale Konstruktion“ ist ein Grund, warum Korruption in China als eine „Spielregel des Geschäfts“ weithin toleriert wird.

Damit kann nun die Frage beantwortet werden, warum die erfolgreichen Unternehmer in China kein vordringliches Interesse darin sehen, sich für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einzusetzen. Die Pfadabhängigkeit der Korruption in China hat sie zu der Überzeugung gelangen lassen, dass es unter einem defizitären politischen System die beste Strategie für sie ist, die anstehenden Probleme durch Patron-Klient-Beziehungen zu lösen. Die soziale Konstruktion der Korruption bietet ihnen dabei die Möglichkeit, ihr Verhalten moralisch und pragmatisch zu rechtfertigen. Vor diesem Hintergrund kann es schwerlich zu wieteren politischen Reformen kommen, solange in der chinesischen Unternehmerelite die Notwendigkeit dazu nicht wahrgenommen wird.

Dabei sind zwei gegensätzliche Effekte von Guanxi zu beobachten: Guanxi kann entweder zu institutionellen Veränderungen beitragen – wie in den 1980er Jahren, als Guanxi zur offiziellen Anerkennung der privaten Ökonomie beigetragen hat – oder durch Guanxi können defizitäre formelle Institutionen dauerhaft gestützt werden. Man kann dies als „Veränderungseffekt“ und „Toleranzeffekt“ bezeichnen. Welchen Effekt divergierende soziale Institutionen auf die sie umgebenden formellen Institutionen haben, hängt davon ab, inwiefern die sie tragenden sozialen Akteure in der Lage sind, die von den defizitären formellen Institutionen ausgehenden Nachteile zu neutralisieren. In den 1980er Jahren konnten sich die privaten Unternehmer zwar durch soziale Institutionen wie Unternehmen mit „rotem Hut“ oder Shareholding-Kooporativen über legale Beschränkungen – wie das Gebot, nicht mehr als sieben Angestellte beschäftigen zu dürfen – hinwegsetzen, doch mussten die Unternehmer dafür zusätzliche „Management-Gebühren“ zahlen. Diese Art von Institutionen brachten ihnen keine Vorteile auf dem Markt, sondern erhöhten lediglich ihre Kosten. Darüber hinaus blieben diese Unternehmen stark von der Politik der lokalen Regierungen abhängig, die damals sehr instabil und unbeständig war. Ein Unternehmen mit „rotem Hut“ konnte über Nacht in den Besitz der lokalen Regierung übergehen, weil es gesetzlich ohnehin zur Regierung gehörte. Und auch eine Shareholding-Kooporative lief permanent Gefahr, wegen einer politischen Kursänderung als „private Ökonomie“ eingestuft zu werden, die damals von der KPCh stark unterdrückt wurde. Die privaten Unternehmer benötigten deshalb dringend eine offizielle Anerkennung der staatlichen Institutionen. Dieser Wunsch sorgte dafür, dass sie politische Rechte zu fordern begannen.

Nachdem die private Ökonomie dann gesetzlich anerkannt worden war und die Marktwirtschaft als Grundlage der Nationalökonomie galt, sahen sich die privaten Unternehmer ganz anderen Problemen gegenüber. Sie benötigten von den Patronen nun nicht mehr den grundlegenden Schutz ihres Eigentums, sondern den Zugang zu knappen Ressourcen, die vom Staat kontrolliert werden. Die weiterhin defizitären formellen Institutionen boten ihnen entsprechende Möglichkeiten, die bereits bestehenden Netzwerke und Beziehungen nun auch mit anderen Zielsetzungen zu verwenden. Die Erlaubnis zum Eintritt in die Partei (vgl. Dickson 2003) überzeugte die Unternehmer weiter, dass sie die staatlichen Institutionen in ihrem Interesse beeinflussen können, sofern sie über ausreichende Guanxi-Techniken und -Ressourcen verfügen. In dieser Situation konnte und kann von ihnen keine grundlegende politische Reforminitiative ausgehen.

 
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