Kapitel: Eine Theorie institutioneller Entwicklung

Im zweiten Kapitel sind bereits drei Arten von Institutionen unterschieden worden: formelle, kulturelle und soziale Institutionen. Im dritten bis fünften Kapitel wurde dargestellt, wie diese drei Institutionen – politisch-rechtliche Rahmenordnung, Familismus und Guanxi – das Verhalten der Akteure in China beeinflussen. In diesem Kapitel soll nun der Versuch unternommen werden, die unterschiedlichen Perspektiven zusammenzuführen, um ein Gesamtbild der institutionellen Entwicklung in China zu skizzieren. Zu diesem Zweck ist zunächst eine Typologie der Beziehungen zwischen formellen und informellen Institutionen hilfreich. Danach soll die Rolle der Kultur bei institutionellen Veränderungen abschließend analysiert werden.

Eine Typologie institutioneller Konstellationen

Häufig wird die Wechselwirkung zwischen formellen und informellen Institutionen vereinfacht entweder als Verkoppelungsoder Entkoppelungsbeziehung („konvergent“ oder „divergent“) charakterisiert. Damit ist man aber nicht in der Lage, die Komplexität der möglichen Beziehungen zwischen formellen und informellen Institutionen hinreichend differenziert zu erfassen. Gretchen Helmke und Steven Levitsky (2004) haben dagegen eine Typologie entwickelt, in der nicht nur Verkoppelungsund Entkoppelungseffekte in Betracht gezogen werden, sondern auch die Leistungsfähigkeit formeller Institutionen als ein wichtiges zusätzliches Element berücksichtigt wird. Ich übernehme die Typologie von Helmke und Levitsky, beschränke mich bei den informellen Institutionen allerdings auf die Betrachtung von sozialen Institutionen.

Effektive formelle Institutionen

Ineffektive formelle Institutionen

Konvergente soziale Institutionen

komplementär

substitutiv

Divergente soziale Institutionen

vermittelnd

konkurrierend

Tabelle 4. Vier Beziehungen zwischen formellen und sozialen Institutionen. Angelehnt an: Helmke/Levitsky 2004: 728

Nach dieser Typologie können informelle bzw. soziale Institutionen in ihrem Verhältnis zu formellen Institutionen vier verschiedene Funktionen erfüllen: nämlich komplementäre, vermittelnde, substitutive oder konkurrierende Funktionen. Welche dieser Funktionen sie erfüllen, hängt davon ab, ob die formellen Institutionen effektiv oder ineffektiv sind und ob die Ergebnisse der formellen und sozialen Institutionen konvergieren oder divergieren. Die unterschiedlichen Entwicklungsphasen in China lassen sich in diese Typologie gut einordnen.

In der maoistischen Epoche existierten effektive staatliche Institutionen, die imstande waren, die kommunistische Ideologie wirksam zu verbreiten und die sozialistische Politik durchzusetzen. Nach der langen, turbulenten Zeit ausländischer Invasionen und blutiger Bürgerkriege setzten große Teile des chinesischen Volkes große Hoffnungen in die Kommunistische Partei, die Freiheit, Frieden und Wohlstand versprochen hatte. Soweit sich unter den Bedingungen einer kommunistischen Ideologie und Politik überhaupt informelle soziale Institutionen entwickeln konnten, standen sie deshalb nicht im Gegensatz zu den staatlichen Institutionen, sondern definierten sich „komplementär“ innerhalb des Ziels, eine kommunistische Gesellschaft in China zu verwirklichen. Gerade wegen solcher „komplementärer“ informeller Institutionen waren kommunistische Organisationen (wie die Volkskommunen und Brigaden) und Bewegungen (wie die Kulturrevolution) überhaupt möglich. „Die Kraft des Volks“, wie Mao selbst immer wieder hervorhob, unterstützte das kommunistische Regime.

Die Katastrophe der Kulturrevolution führte schließlich zu einer tiefen Enttäuschung über die herrschende Politik und sorgte für eine Abkehr der Bevölkerung von kommunistischen Idealen. In der Folge wurden in einem Akt der Rückbesinnung auf die unterdrückten kulturellen Traditionen Chinas soziale Institutionen wiederbelebt, die im Gegensatz zu der staatlichen und politischen Ordnung sowie zur herrschenden Ideologie standen. Am Ende der Kulturrevolution orientierten sich immer mehr Chinesen wieder an den familistischen Werten und Normen des Guanxi, statt an der politisch auferlegten Ideologie der „Kameradschaft“. Die Guanxi-Netzwerke „vermittelten“ so die Interessen ihrer Mitglieder mit einer nach wie vor stabilen politischen Rahmenordnung: Sie schützten vor staatlicher Kontrolle und reduzierten die Abhängigkeit von der Regierung bei der Zuteilung materieller Ressourcen (vgl. Yang 1994: 158).

Diese Entwicklung ging nach der Kulturrevolution ungebrochen weiter und verstärkte sich nach der Reform von 1978, die den lokalen Regierungen im ländlichen China fiskalische Selbständigkeit gewährte (vgl. Oi 1992). Gleichzeitig wurden die staatlichen Bürokratien und Verwaltungen zunehmend durch Korruption und die verdeckte Zusammenarbeit mit dem aufstrebenden Unternehmertum unterminiert und geschwächt. In der Terminologie von Helmke und Levitsky nahmen die informellen sozialen Institutionen – die Guanxi-Netzwerke – gegenüber einer ineffektiven formellen Rahmenordnung damit immer mehr den Charakter „konkurrierender“ Institutionen an. Während soziale Institutionen wie der „lokale staatliche Korporatismus“ noch eine eher vermittelnde Rolle spielten, befanden sich die Unternehmen mit „rotem Hut“ bereits in einem kaum noch verhüllten Gegensatz zur offiziellen Politik. Beide Varianten trugen zum Aufschwung der privaten Ökonomie in China bei, die nach der damaligen Rechtsordnung noch illegal war.

Unter dem Druck dieser durch die informellen sozialen Institutionen getragenen Entwicklung wurden die formellen Institutionen schließlich reformiert: Das Recht auf Privateigentum wurde gesetzlich kodifiziert, private Unternehmen mit mehr als sieben Angestellten wurden legalisiert, und die Marktwirtschaft als Grundlage der nationalen Ökonomie offiziell anerkannt. Diese Reformen mündeten aber nicht in effektiven und verlässlichen neuen formellen Institutionen. Zwar stand das Recht auf Privateigentum nun auf dem Papier, seine defizitäre Umsetzung führte jedoch dazu, dass ein wirksames und berechenbares Eigentumsund Vertragsrecht nicht etabliert werden konnte. Aus diesem Grund bewahrten die sozialen Institutionen des Guanxi weiterhin ihre wichtige Funktion, um nun im Sinne von „substitutiven“ Institutionen die Mängel ineffektiver formeller Institutionen auszugleichen und die Kooperation auf dem Markt abzusichern. Andererseits erzeugen die defizitären formellen Institutionen Anreize und Spielräume für eine Politisierung des Marktes und damit für eine Korruptionspraxis, die das Instrument der Bestechung nicht mehr einsetzt, um das Marktgeschehen vor politischer Willkür zu schützen, sondern um sich dem marktlichen Wettbewerb zu entziehen und auf politischem Weg Privilegien und Sonderkonditionen zu sichern. Indem so immer mehr Marktakteure dazu tendieren, mit korrupten Kadern zu „kooperieren“, anstatt mit anderen Marktteilnehmern, haben sich die Guanxi-Netzwerke wieder zu konkurrierenden informellen Institutionen entwickelt.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die ökonomische Entwicklung Chinas durch ein zweifaches Politikversagen bedroht war und ist: Zum einen versagte die Politik zu Beginn dieser Entwicklung darin, einer expandierenden Marktwirtschaft die notwendige institutionelle Rahmenordnung in Form einer verlässlichen Privatrechtsordnung zu sichern; zum anderen versagt die Politik in der Gegenwart bei der Aufgabe, eine Korruptionspraxis zu unterbinden, die das Funktionieren der mittlerweile etablierten Marktwirtschaft bedroht und einem Marktversagen Vorschub leistet. Während die informellen sozialen Institutionen des Guanxi im ersten Zeitraum eine für die Wirtschaftsentwicklung förderliche

„substitutive“ Funktion erfüllen konnten, spielen sie heute eine für die Wirtschaftsentwicklung zunehmend schädliche „konkurrierende“ Rolle.

 
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