Forschungsgegenstand – NGOs als zivilgesellschaftliche Organisationen
Zivilgesellschaft
Im Zuge des Aufstiegs der Neuen Sozialen Bewegungen (im Folgenden NSB) [1] entwickelte sich das Konzept der Zivilgesellschaft zu einem der zentralen Bezugspunkte der Debatten über die Intensivierung gesellschaftlicher Beteiligung an politischen Prozessen. Das Konzept ist meist mit positiven Werten assoziiert, dennoch ist es trotz anhaltender Diskussion nicht eindeutig definiert (Mai 2013).
„'Civil society' is a buzzword in the EU and a vast array of organisations claim to represent Erope's civil society. Nevertheless, academics and practitioners find it difficult to agree which associations rightly belong to this category.” (Kohler-Koch & Quittkat 2009: 11 [Herv. i. O.])
Das Zitat pointiert eines der zentralen Probleme, mit dem sich Arbeiten im Kontext der Fragestellungen zum europäischen Regieren auseinander setzen (müssen). Sowohl die Politik, als auch diverse Forschungsarbeiten rekurrieren auf die Relevanz der Zivilgesellschaft für die Verankerung der Demokratie in Europa, doch die vermuteten Effekte zivilgesellschaftlicher Partizipation sind vielfältig und werden häufig entweder nicht expliziert oder variieren je nach Verständnis von Demokratie und Zivilgesellschaft (Kohler-Koch 2012: 67; 2011c; Jensen 2006). Der Begriff Zivilgesellschaft ruft mannigfaltige und sich z.T. widersprechende Konnotation hervor (Kohler-Koch & Quittkat 2009). Es soll an dieser Stelle nicht um eine Auseinandersetzung mit der Problematik der Begriffsdefinition oder den historischen Traditionen gehen (siehe dafür u.a. Klein 2001). Da im Mittelpunkt der Arbeit aber die Bewertung der Linkage-Leistung von NGOs als einem spezifischen Typus zivilgesellschaftlicher Akteure steht, ist jedoch eine Explikation der hier relevanten Aspekte des Zivilgesellschaftskonzepts von Nöten.
Die der Arbeit zugrundeliegende Definition folgt den Ansätzen von van Deth (2004) und Geißel et al. (2004), welche Zivilgesellschaft bereichsbezogen als gesellschaftliche Sphäre jenseits der Privatsphäre bzw. Lebenswelt des Einzelnen, Markt und Staat verstehen, die eine Vielzahl freiwilliger, gesellschaftlicher Organisationen und Assoziationen umfasst[2]. Gemeint sind selbstorganisierte Assoziationen, wobei dies als Sammelbegriff für unterschiedliche Formen kollektiven Handelns genutzt wird: Vereine, (transnationale) Verbände, NGOs, ebenso wie NSB (Geißel 2009). Zivilgesellschaft bezeichnet aber nicht nur eine eigene Sphäre, sondern überdies eine spezifische soziale Handlungslogik (Gosewinkel et al. 2004), die sich neben Selbstständigkeit und -organisation, durch Handeln im öffentlichen Raum und Bezugnahme auf (wie auch immer geartete) allgemeine Angelegenheiten auszeichnet (Geißel et al. 2004: 8) [3].
Meist wird das Konzept aus Perspektive normativer Demokratietheorien betrachtet. Vertreter der liberalen Demokratie fokussieren die Prinzipien Gleichheit und Repräsentation. Sie verbinden mit Zivilgesellschaft aus pluralistischer Sicht vergrößerte Interessenbandbreite und größeres Gewicht unterrepräsentierter gesellschaftlicher Interessen im Politikprozess (Greenwood 2007; Leggewie 2003; Cohen & Rogers 1995: 43). Dementsprechend ist Interessenvertretung die Hauptfunktion der Akteure.
Vertreter deliberativer Theorien (Neyer 2006; Habermas 1992) hingegen konzipieren Zivilgesellschaft, unter Bezugnahme auf die Qualität der Argumente und die öffentliche Debatte, als Schlüsselelement eines diskursiven Prozesses demokratischer Willensbildung. Zentrales Prinzip der Deliberation ist neben einer Rechtfertigungspflicht gegenüber den von den Entscheidungen betroffenen Bürgern, die Inklusivität, also die Berücksichtigung aller relevanten Interessen und Argumente (Cohen & Sabel 2003). Die Präsenz der Argumente kann durch die Partizipation der Betroffenen bzw. ihrer Advokaten an der Entscheidungsfindung oder die Verknüpfung der Willensbildung mit einer horizontal und vertikal durchlässigen Öffentlichkeit gesichert werden. Voraussetzung beider Optionen ist die organisierte Zivilgesellschaft (Finke 2005: 48). Diese transportiert nicht nur die (im Idealfall in egalitärer Kommunikation gewonnenen) Argumente von der Peripherie in das Zentrum des politischen Systems. Sie stellt auch die Anschlussfähigkeit deliberativer Prozesse – d.h. den nachträglichen Bezug auf vorangegangene Handlungen mittels der Information der Öffentlichkeit (Benz 2005: 264; Take 2002: 60ff; Habermas 1992: 366) – und damit Verantwortlichkeit her.
Nach Habermas (1992: 443) sind zivilgesellschaftliche Akteure prädestiniert, gesellschaftliche Interessen zu artikulieren, da sie die Problemlagen aus den privaten Lebensbereichen aufnehmen, verdichten und an die Öffentlichkeit weiterleiten. Der Zivilgesellschaft wird demnach zum einen eine direkte Verbindung mit der Lebenswelt der Bürger attestiert, zum anderen wird ihre intermediäre Funktion betont.
„Civil society (…) collects, organizes, thematizes and communicates public opinion to the formal structures of will-formation within the political system. At the same time, civil society reflexively attends to its own needs, ensuring the capacity to continue undistorted processes of communication and opinion formation.” (Armstrong 2006: 47)
Für Vertreter partizipatorischer Theorien wiederum gründen die demokratisierenden Effekte zivilgesellschaftlicher Organisationen in der Stimulierung politischen und sozialen Engagements, das nicht nur die Entwicklung des Einzelnen zum mündigen emanzipierten Bürger erlaubt (Naschold 1969), sondern auch die Defizite in modernen repräsentativen Strukturen wie der EU ausgleichen kann (Maloney 2008: 70; 2006: 9). Sie sehen die Förderung von Volkssouveränität, Bürgertugenden, Solidarität und kollektiver Identität als die zentralen Funktionen der Zivilgesellschaft (Hüller 2006; Barber 2004; Fung 2003; Tocqueville 1976; Pateman 1970)[4]. In dieser Lesart sind zivilgesellschaftliche Organisationen eher „Arenen der Partizipation, denn Agenten der Repräsentation.“ (KohlerKoch 2011c: 55)
Der (organisierten) Zivilgesellschaft werden folglich zahlreiche Funktionen zugeschrieben, welche für die Vitalität und Stabilität eines politischen Systems sowie dessen demokratische Legitimation von vitaler Bedeutung sind (Mai 2013: 3; Maloney 2008: 70; Fung 2003; Cohen & Arato 1997; van Deth 1996a: 390;
Hirst 1994; Habermas 1992; Tocqueville 1976).
„Die Existenz einer organisierten Zivilgesellschaft ist eine notwendige Voraussetzung sowohl für unterschiedliche Formen der politischen Partizipation als auch für die Formation, Artikulation und Ausbreitung politikrelevanter Meinungen sowie die damit verbundene Entstehung einer politischen Öffentlichkeit“ (Finke 2005: 32).
Indes demonstriert die Gegenüberstellung der verschiedenen Demokratietheorien die Problematik: Je nach Demokratieverständnis variieren die Rollen, welche den Organisationen zugeschrieben werden und führen zu grundsätzlich divergierenden Bewertungen ihres demokratisierenden Potenzials [5].Während aus Sicht der liberalen Demokratie zwar die Funktion der Interessenvermittlung als wesentliche Linkage-Komponente berücksichtigt wird, jedoch die in diesem Kontext bedeutsamen Fragen des Zugangs zu Politikprozessen und des faktischen
Einflusses im Rahmen dieser Arbeit nicht behandelt werden, bieten die Voraussetzungen für die Funktionen der Organisationen aus dem Blickwinkel der übrigen Perspektiven fruchtbare Ansätze zur Bewertung der Linkage-Leistung von NGOs.
- [1] Der Begriff bezeichnet politische Protestgruppen und Bewegungen, die im Zuge der außerparlamentarischen Opposition ab den späten 1960er Jahren aufkamen (Rucht 2003: 421ff; SchmittBeck 2001)
- [2] Eine andere Interpretation ist die eines Skripts kollektiver Akteure und damit des Resultats eines sozialen Konstruktionsprozess (Eder 2009)
- [3] Andere stellen an zivilgesellschaftliche Assoziationen Mindestanforderungen bezüglich ihrer Zivilität in Gestalt von Gewaltfreiheit nach innen und außen (Gosewinkel et al. 2004)
- [4] Die identitätsstiftende Wirkung zivilgesellschaftlicher Organisationen ist abhängig davon, wie eng oder institutionalisiert die Beziehungen sind, welche wiederum auf persönlicher Kommunikation gründen (Daphi 2012)
- [5] Für eine Ausführung der Rollenzuschreibungen sowie deren Konsequenzen siehe Kohler-Koch (2011c)