Linkage

Linkage-Bedarf im EU-System

Eine legitime demokratische Herrschaftsordnung muss nicht nur politische (Chancen-) Gleichheit (Hüller & Kohler-Koch 2008: 152; Dahl 2006) und offene Strukturen für Partizipationswillige garantieren (Hüller 2006: 4). Aus normativer Perspektive sind die Betroffenen der Politik Bezugspunkt politischer Entscheidungen. Konstitutives Element ist demzufolge ein wirksamer Bindungsmechanismus an den Willen des Volkes als obersten Souverän (Keller 2008: 257; Hüller & Kohler-Koch 2008: 151; Pollack 2003). Autorisierung und Kontrolle sind Mechanismen, die politische Entscheidungen an den Bürgerwillen binden und die Responsivität politischer Autoritäten für die Anliegen derjenigen, in deren Namen sie handeln, sichern. Während Autorisierung in repräsentativen Systemen durch Wahlen realisiert wird, erfordert Kontrolle die Transparenz politischer Prozesse, also den „easy access to accurate and comprehensible information about policy decisions and decision-making-process“ (Steffek et al. 2010: 6). Verantwortlichkeit (im Folgenden Accountability) der Akteure muss gegeben sein, damit die Bürger die Wahrnehmung übermittelter Verantwortung „angemessen“ sanktionieren können (Kotzur 2005: 380; Habermas 1999: 185ff; Greven 1998). Accountability wird verstanden als die Rechenschaft gegenüber den Herrschaftsunterworfenen (Bovens 2007: 405; Benz 2005: 267f), die diese befähigt, Entscheidungen, ihre Urheber und deren Intention kognitiv zu erfassen und jene Akteure, im Fall abweichender Präferenzen, zur Verantwortung zu ziehen. Der Begriff bezeichnet damit ebenfalls eine politische Öffentlichkeit, die sich auch auf die Binnensphäre von Parteien und NGOs erstreckt (Offe 2003: 15f).

Der Stellenwert der Accountability gründet in ihrer Funktion als Voraussetzung von Öffentlichkeit, deren Existenz wiederum wesentlich für freie Willensbildung als demokratische Grundlage (Kohler-Koch 2011d: 248) sowie die Legitimation und Integration eines politischen Systems ist (de Vreese 2007: 5). Öffentlichkeit ist damit nicht nur „Sichtbarkeit und offene Zugänglichkeit einer allgemein zugänglichen Sphäre des kommunikativen Austauschs“ (Preuß 2013: 12), sondern ist als Medium der Kontrolle politischer Herrschaft „in einem genuin politisch-normativen Sinn“ (ebd.: 12f) zu verstehen [1]. Fehlt es an Öffentlichkeit, wie in der EU bislang weitgehend der Fall, entfällt der Rechtfertigungszwang, welcher die Bindung an den Bürgerwillen garantieren soll.

„Als demokratisch legitimiert gilt (…) eine politische Institutionenordnung in dem Maße, wie sie gleiche Chancen auf Interessenberücksichtigung eröffnet und zugleich geeignet ist, Aufgaben so zu erfüllen, dass Entscheidungen von den Betroffenen bzw. von der Bürgerschaft akzeptiert werden können. Zugleich müssen die Inhaber von Herrschaftspositionen gegenüber den Herrschaftsunterworfenen Rechenschaft ablegen und für ihre Politik Verantwortung übernehmen.“ (Benz 2005: 267f)

An diesen Standards muss sich auch europäisches Regieren messen (Kielmannsegg 2003: 54). Obgleich nationalstaatlich geprägte Demokratiekonzepte wegen seiner strukturellen Besonderheiten nicht eins zu eins auf den supranationalen Kontext übertragbar sind, müssen von den EU-Bürgern ausgehende Legitimation und Einflussnahme gewährleistet sein (Bauer 2005: 9).

Vor diesem Hintergrund wird Kritik an der Intransparenz der im EU-System etablierten Entscheidungsverfahren geäußert. Die Akteure seien kaum sichtbar, was Kontrolle erschwert, wenn nicht unmöglich macht (Brand et al. 2000). Zudem beeinträchtigen die Komplexität des EU-Systems und die Tatsache, dass viele Entscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen werden (Beyers & Kerremans 2005: 123) die Bürger in der Ausübung ihrer demokratischen Rechte. Verstärkt wird die Situation durch die ausgeprägte Konsensorientierung, welche eine öffentliche Auseinandersetzung zu disputablen Punkten unwahrscheinlich macht. In Konsequenz wird das Demokratiedefizit der EU auch als Öffentlichkeitsdefizit bezeichnet (Gerhards 2002: 135).

Es gilt, „die schon fast mythische Intransparenz der europäischen Entscheidungsprozesse klarer zu gestalten“ (Kießling 2004). Denn auch Demokratie jenseits des Nationalstaats kommt nicht ohne ein Mindestmaß an Transparenz und Öffentlichkeit aus (Altides & Kohler-Koch 2009: 4). Ein „permissiver Konsens“ der EU-Bürger kann zum jetzigen Standpunkt der politischen Integration nicht mehr vorausgesetzt werden (della Porta 2007: 190). Je mehr Kompetenzen auf die EU-Ebene übertragen werden, desto unwahrscheinlicher ist jener Grundkonsens bzw. die stillschweigende Akzeptanz der Entwicklungen und desto wichtiger sind transnationale Willensbildungsprozesse.

Die Skizzierung der demokratischen Standards und Problematiken europäischen Regierens illustriert den Bedarf an Linkage und folgerichtig an intermediären Akteuren, nicht nur im politischen System der EU, denn diese „tragen dazu bei, den demokratischen Prozess diesseits der periodischen Wahlakte (…) am Leben zu halten.“ (Ruffert 2005: 345) Ohne intermediäre Akteure – wie Parteien, NGOs, Verbände oder Medien – „würde der Meinungsaustausch im Kommunikationsraum beliebig bleiben; ohne sie wäre dem Einzelnen keine hinreichende Möglichkeit der Durchsetzung von Interessen sowie Einforderung von Verantwortlichkeit gegeben.“ (Nettesheim 2005: 161)

Abbildung 2 NGOs als intermediäre Akteure im Mehrebenensystem Quelle: eigene Darstellung

Da die Strukturen auf EU-Ebene die Beteiligung der Bürger beschränken, nehmen kollektive Akteure ihren Platz ein, bündeln deren Interessen und leiten sie weiter in das politische System, das konkurrierende Interessen in gesamtgesellschaftlich verbindliche Entscheidungen überführt. In dieser Funktion bilden die Akteure ein Scharnier zwischen politischem System und Gesellschaft, indem sie Information und Kommunikation sowohl vor, als auch nach Entscheidungen ermöglichen und zwischen der Lebenswelt der Bürger und politischen Autoritäten vermitteln (Kissling & Steffek 2008: 208). Durch ihre Interaktionen konstituieren sie ein Vermittlungssystem: das intermediäre System.

„Damit wird auf zwei weitere Ebenen verwiesen, die durch das intermediäre Element verknüpft (…) werden. Intermediäre Systeme verbinden (mindestens) zwei externe Systeme, zwischen denen Kommunikationsschranken existieren oder die sogar in einem spannungsreichen bzw. widersprüchlichen Verhältnis zueinander stehen.“ (Rucht 1991: 5)

Intermediäre Akteure fördern politische Willensbildung an der Basis, selektieren und aggregieren die Anliegen der Bürger, mobilisieren Unterstützung für diese Interessen, artikulieren sie in Richtung Entscheidungsträger (top-down), wirken an Entscheidungsprozessen mit, vermitteln Entscheidungen zurück an die Basis (bottom-up) (Steiner & Jarren 2009) und stellen Transparenz und Öffentlichkeit als Voraussetzung eines wirksamen Bindungsmechanismus her. Sie tragen insofern zur Vermittlung und zum Ausgleich von Interessen bei und erhöhen die wahrgenommene Effektivität des Systems (Esser 2000: 61). Von entscheidender Bedeutung zur Erfüllung dieser Aufgaben ist jedoch die Ausgestaltung der Beziehung zwischen dem jeweiligen intermediären Akteur und den Sphären Staat und Gesellschaft bzw. ihre gesellschaftliche Verankerung.

  • [1] Zur Diskussion des Begriffs Öffentlichkeit und deren Funktion siehe Gerhards (2002) und Habermas (1992)
 
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