Modifiziertes Linkage-Konzept
Das Linkage-Konzept erweist sich aus verschiedenen Gründen als besonders geeignet zur Analyse. Es basiert nicht nur auf organisationssoziologischen Prämissen, die auf Parteien wie NGOs zutreffen sowie den Annahmen bezüglich der Aufgaben intermediärer Akteure. Darüber hinaus handelt es sich um ein mehrdimensionales Konzept, das zahlreiche der eben dargelegten potenziellen Leistungen von NGOs und der Hoffnungen, die in die Organisationen zur Verbesserung der Legitimation europäischer Politik gesetzt werden, umfasst. Dadurch erlaubt es nicht nur die Betrachtung von Parteien, sondern gestattet auch die Analyse von NGOs, hinsichtlich der mit diesem Akteurstypus einhergehenden Erwartungen. Die dem Linkage-Konzept immanenten Funktionszuschreibungen an intermediäre Akteure umfassen: Interessenaggregation und -vermittlung, Responsivität, Mobilisierung und Sozialisierung (Poguntke 2000: 23) [1]. Das Konzept ermöglicht damit nicht nur die Analyse der Kommunikationsbeziehungen und kommunikativen Leistungen von NGOs im Zusammenhang mit jenen Erwartungen und folglich ihres Demokratisierungspotenzials. Überdies mindert es auch das Risiko verkürzter Rückschlüsse in Konsequenz des Fokus auf lediglich eine dieser Funktionszuschreibungen.
Das Linkage-Konzept greift damit weiter als Steffek & Nanz' (2008) Modell des Transmissionsriemens. Beide Ansätze stellen die „Vermittlung“ in den Vordergrund, indessen ist das Transmissionsriemenmodell in bestimmten Aspekten – etwa der Responsivität der NGOs für die Interessen der Mitglieder und Bürger, der Mobilisierungsoder der Sozialisierungsfunktion – nicht explizit genug, weshalb hier, in Anerkennung dieser Leistungen zivilgesellschaftlicher Organisationen und um eine umfassende Betrachtung der NGO-Potenziale zu gewährleisten, das Linkage-Konzept bevorzugt wird. Es berücksichtigt nicht nur eben genannte Faktoren; ungleich relevanter erlaubt es durch die Unterscheidung von direkter und organisatorischer Linkage eine Annäherung an die Realität der auf EU-Ebene agierenden NGOs. Wie das EU-System sind sie durch eine Mehrebenenstruktur charakterisiert. Meist handelt es sich um Föderationen bzw. Netzwerke, die von ihren Mitgliedern gegründet wurden, um auf EU-Ebene Interessenvermittlung zu betreiben (Greenwood 2003). Deren Mitglieder wiederum haben Mitgliedsorganisationen in den verschiedenen EU-Staaten und z.T. darüber hinaus. Dagegen ist eine Mitgliedschaftsoption für natürliche Personen nicht der Regelfall. Fast immer fungieren die Mitgliedsorganisationen als zwischengeschaltete Instanzen zwischen NGO und Basis. Auch bei den hier fokussierten NGOs kann man daher die von Poguntke explizierten Linkage-Arten unterscheiden; d.h. sie erfüllen die nachfolgend erläuterten Linkage-Dimensionen entweder direkt oder die Mitgliedsorganisationen und (falls vorhanden) deren Unterorganisationen erbringen die entsprechenden Leistungen. Damit berücksichtigt das Linkage-Konzept nicht nur direkt von der Organisation gesteuerte Kommunikationskanäle sowie – obgleich nur implizit – interpersonale Kommunikation, sondern auch explizit die Rolle der Mitglieder.
Aus diesem Grund hat es ebenfalls einen Vorteil gegenüber diversen Modellen der politischen Kommunikationsforschung, wie dem Modell des politischen Kommunikationssystems (Blumler & Gurevitch 1995) oder dem BiotopModell (von Aleman 2010:152ff), die sich mit den Kommunikationsbeziehungen von politischen bzw. zivilgesellschaftlichen Organisationen und den Bürgern befassen. Denn sie konzentrieren sich oftmals auf die Rolle der Massenmedien im politischen Kommunikationsprozess oder die Frage, wie Medien und politische Akteure interagieren (Schulz 2008; Kriesi 2001).
Das Linkage-Konzept ist auch gegenüber dem von Kriesi (2001) entwickelten Analysemodell zu bevorzugen. Zwar spezifiziert dieses, im Gegensatz zum Linkage-Konzept, das in Bezug auf Politikvermittlungsstrategien bzw. die Inhalte politischer Kommunikation eher vage ist, Strategien u.a. für etablierte politische Akteure und Außenseiter, um die eigenen Anliegen öffentlich zu machen und die Zustimmung der Öffentlichkeit zu gewinnen. In dieser Differenzierung gründend, sind NGOs zu den Außenseitern zu zählen, weshalb öffentlichkeitsbasierte Strategien im Fokus stehen. Es stellt sich aber die Frage, inwieweit auf EU-Ebene agierende NGOs als Außenseiter zu klassifizieren sind, schließlich werden sie in ihrer Arbeit finanziell gefördert und haben durch die Etablierung verschiedener Instrumente Zugang zum Politikprozess. Zudem legt Kriesi das Hauptaugenmerk auf Mobilisierungsstrategien zum Zweck erfolgreicher Interessenvermittlung. Responsivitätsmechanismen werden – im Gegensatz zum Linkage-Konzept – genauso wenig thematisiert wie Außenseiterstrategien der Interessenaggregation. Beide sind jedoch von Bedeutung im Zusammenhang mit den Erwartungen an NGOs betreffend authentischer Interessenvertretung.
Die Netzwerkanalyse legt den Schwerpunkt gleichfalls auf die Betrachtung von für den Politikprozess entscheidenden Akteurskonstellationen. Die Attraktivität des Netzwerkkonzepts gründet darin, dass es zwischen Mikround Makroebene angesiedelt ist und eine visuelle Darstellung von Interaktionsbeziehungen ermöglicht. Indes ist die analytische Abgrenzung des Netzwerks häufig eine Herausforderung. Insbesondere in Hinblick auf den vergleichenden Ansatz und das Erkenntnisinteresse dieser Studie, das auch die Kommunikation mit der breiten Öffentlichkeit, als einem prinzipiell unbegrenzten Adressatenkreis umfasst, erweist sich die Bestimmung der Netzwerkgrenzen als problematisch. Eine vergleichende Netzwerkanalyse ist allein unter Berücksichtigung von Partnern, politischen Entscheidungsträgern und Mitgliedern sehr umfangreich und mit einem noch größeren Adressatenkreis aus forschungsökonomischen Gesichtspunkten kaum realisierbar. Der Ansatz ist daher ebenfalls wenig geeignet zur Analyse.
Obwohl sich die NGOs zugesprochenen Funktionen unter den Begriff Linkage fassen lassen, ist es ein Konzept aus der Parteienforschung. Um den Charakteristika von NGOs gerecht zu werden, ist eine leichte Modifikation bzw. Spezifikation einzelner Dimensionen mithilfe des Zivilgesellschaftskonzepts, vor allem im Tocquevilleschen und Habermaschen Sinne, nötig. Daneben werden damit die Kommunikationsanforderungen und die – im Linkage-Konzept kaum konkretisierten – Inhalte der Kommunikation spezifiziert, etwa durch die Hervorhebung der aus deliberativer Sichtweise betonten Funktion der Verwirklichung von Anschlusskommunikation und dementsprechend der Komplexitätsreduzierung sowie der Information oder der aus partizipativer Perspektive vordergründigen Funktion der Herausbildung von Civic Skills und Civic Virtues.
Die Dimensionen Interessenaggregation und -vermittlung sind Parteien wie NGOs zugewiesene Funktionen. Es ist keine Modifikation des ursprünglichen Konzepts nötig. Das Interesse der Wählerbindung zwingt Parteien, die Präferenzen ihrer (potenziellen) Wähler zu berücksichtigen und in innerparteiliche Entscheidungsprozesse einzubringen (Poguntke 2000). Einer vergleichbaren Logik sind NGOs unterworfen, wie Schmitter und Streeck (1999) in ihrer Gegenüberstellung von Mitgliedschaftsund Einflusslogik erörtern (siehe Kapitel 6.5).
„Loyalty is particularly important to these organizations because a large percentage of membership operates on a revolving-door basis. In short, if a group fails to deliver on either action and/or outcomes, then members are free to join a competitor organization. This pressure ensures responsiveness and representation of membership.” (Maloney 2008: 81)
Mit Interessenaggregation eng verbunden ist deswegen die Dimension Responsivität als Voraussetzung authentischer Interessenvertretung; sichtbar gemacht durch politische Programme oder faktisches Handeln. Ferner beinhaltet Responsivität Kontrollund Sanktionsoptionen seitens der Repräsentierten; bei Parteien wie NGOs realisiert über Verfahren organisationsinterner Willensbildung, bspw. Redeund Antragsrecht sowie Wahlen und Abstimmungen bei Mitgliederversammlungen. Obwohl NGOs keine politischen Programme im klassischen Sinne entwickeln, fungieren Positionspapiere und strategische Arbeitspläne als funktionale Äquivalente, um deren Responsivität nachzuvollziehen. Die Mechanismen sind angesichts dessen vergleichbar.
Das von Jun (2010: 17) angeführte Erfordernis einer kollektiven Identität ist gleichermaßen auf NGOs übertragbar. Konstituierendes Element beider Organisationstypen sind geteilte Wertsysteme, Normen, Deutungsmuster (Zimmer
& Speth 2008: 286) und Ziele, die es erlauben, den Zusammenhalt der Organisation als soziales System sicherstellende Identifikationsangebote zu bieten, auf dem (Wähler-)Markt identifizierbar zu sein und als kollektiver Akteur politische Ziele nach außen zu vertreten. Die Dimensionen Mobilisierung und Sozialisierung treffen somit auch auf beide Organisationstypen zu. Beide müssen ihre Mitglieder und die Bürger zur aktiven Unterstützung der Organisation mobilisieren, um ihr Handeln und ihre Existenz zu legitimieren.
Gleichwohl gilt es, im Rahmen der Modifikation mittels des Zivilgesellschaftskonzepts, die Sozialisierungsfunktion hinsichtlich der edukativ-sozialisatorischen Aktivitäten zur Herausbildung von Civic Skills und Virtues zu konkretisieren. Überdies ist die Herstellung von Anschlussfähigkeit bzw. -kommunikation mit Bezug zur Lebenswelt der Bürger, als weitere bedeutsame NGO-Leistung zu berücksichtigen. Diese umfasst (wie die Mobilisierung) Information und Willensbildung, als Basis der Interessenvertretung, und neben Komplexitätsreduzierung und Entscheidungsvermittlung, die Schaffung von Transparenz und Accountability politischer wie organisationsinterner Prozesse durch die Aufklärung von Mitgliedern, Basis und Öffentlichkeit.
Eine weitere Dimension des modifizierten Konzepts ist deshalb Accountability, als Rechenschaft der Akteure gegenüber denjenigen in deren Namen sie handeln. Im ursprünglichen Linkage-Konzept werden weder die Bedeutung von Öffentlichkeit, noch diese Dimension explizit ausgeführt. Zwar werden Kontrolloptionen und die „Möglichkeit des Entzugs elektoraler Unterstützung“ (Poguntke 2000: 27) als Merkmale von Responsivität [2] benannt – was genau der von Offe (2003) und Benz (2005) geforderten Möglichkeit, Akteure im Fall abweichender Präferenzen zur Verantwortung zu ziehen, entspricht – die Aspekte Transparenz bzw. Information von Mitgliedern, Basis und Öffentlichkeit, d.h. deren Befähigung politische Entscheidungen und ihre Urheber kognitiv zu erfassen, werden aber nicht expliziert. In Anbetracht der Relevanz der von Offe formulierten Anforderungen für die anspruchsvolle Realisierung von Linkage, als wirksamem Bindungsmechanismus, und in Anerkennung der Bedeutung von Öffentlichkeit, Transparenz und Accountability für demokratische Systeme wird das ursprüngliche Konzept an dieser Stelle erweitert bzw. konkretisiert.
Abbildung 3 Modifiziertes Linkage-Konzept Quelle: eigene Darstellung
Dadurch entsprechen die Linkage-Dimensionen den qualitativen Kriterien der Basisanbindung, auch wenn sie sich nicht im Sinne klassischer Repräsentativorgane operationalisieren lassen. Die empirische Analyse verläuft demzufolge entlang dieser Dimensionen.
- [1] Die Funktion der Rekrutierung politischen Personals wird zwar im Zuge zunehmender Bedeutung qualifizierten Personals auch von NGOs erfüllt (Kohler-Koch et al. 2008; Frantz 2005), ist aber hier für die Analyse der Linkage-Leistung nicht von Relevanz
- [2] Hingegen führen Anheier und Hawkes (2009: 203) Responsivität in Anlehnung an Koppel (2005) als einen Faktor der Accountability an