Der Umgang mit Machtbeziehungen
Kennzeichen der Gewalt in diesem Forschungsfeld ist ein Machtgefälle, das dem Gewalthandeln zugrunde liegt und von diesem zugleich gefestigt wird. Methodisch wird Forschung die Phänomene nur adäquat erfassen und verstehen, wenn sie die darin enthaltene Gewalt nicht in isolierte Vorfälle zerlegt, sondern den Aspekt der Dauer einbezieht. Das ist eine besondere Herausforderung für die quantitative Forschung, die eine Tradition der Erfassung von Gewalt – sei es auf der Seite des Erleidens, sei es bei der aktiven Ausübung – durch zählbare Einzelhandlungen hat. Denken wir an die international sehr oft verwendete „Conflict Tactics Scale“ von der Forschungsgruppe um Murray Straus (ein Instrument, von dem zu recht gesagt worden es, es erfasse weder Konflikte, noch Taktiken, noch sei es eine Skala), so wurde zu deren Verteidigung argumentiert, eine Qualifizierung der abgefragten Handlungen nach Kontext oder Auswirkungen sei innerhalb des Messinstrumentes für Gewalt nicht machbar, weil diese getrennt erfasst und Zusammenhänge nur so objektiv nachgewiesen werden können. Gewalt zu erleiden ist jedoch ein Erleben von Ausgeliefert-sein, der verletzenden oder demütigenden Situation weder entkommen noch sie verändern zu können. Widerstand oder Gegenwehr hat die Bedeutung eines (oft verzweifelten) Machtkampfes. Wer aus der strukturell mächtigeren Position heraus Gewalt ausübt, verteidigt diese oder versucht, die Kontrolle zu behalten, als berechtigt empfundene Ansprüche aufrechtzuerhalten.
Wenn wir darüber forschen, wie solche Verhältnisse sich zur Gewalt hin entwickeln und was sie für die Menschen bedeuten, müssen wir sorgfältig die Machtdimensionen im Forschungsprozess selbst reflektieren. Dazu gehört nicht nur die dominante Position der Forschenden, die ja die Fragestellungen, das Design, die konkret gestellten Fragen und die Interpretation der Daten bestimmen. Durch akademischen Status, Publikationsmöglichkeiten, oft auch Gehör bei Auftrag gebenden Stellen oder in den Medien haben die Forschenden die Deutungshoheit über die Erfahrungen derjenigen, die mit ihnen geredet haben oder sich haben beobachten lassen. Dieser Problematik wurde beispielsweise in der Prävalenzforschung dadurch Rechnung getragen, dass zuvor Fokusgruppen oder Einzelinterviews mit Betroffenen (zu denen Opfer, Täter und Dritte aus dem sozialen Umfeld zählen können) geführt wurden, um deren Sichtweise und Erfahrungen in die Konstruktion der Erhebung einfließen zu lassen.
Zusätzlich stehen die Forschenden selbst in einem Kontext gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Forschen zu können hängt von Mittelgebern, Begutachtung, und auch „Gatekeeper“ ab, die den Zugang zu der Zielgruppe eröffnen oder auch verhindern können; das gilt insbesondere, wenn die Zielgruppe Personen einschließt, die rechtlich unmündig sind. Gatekeeper können aber auch Barrieren und Behinderungen für die Forschung schaffen, wenn Institutionen oder Einrichtungen über das Vorkommen von, und ihren Umgang mit Gewalt untersucht werden sollen. Und schließlich können Gatekeeper bei der Dokumentenoder Aktenanalyse eingreifen, in dieser Hinsicht haben sie sehr viel Macht.
Schließlich gehören Forschende nur selten zu den marginalisierten Gruppen der Gesellschaft, auch wenn sie eine Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppe als lebensgeschichtlichen Hintergrund mitbringen. Bewusster Umgang mit Machtverhältnissen bedeutet daher, sich aktiv um Inklusion zu bemühen. Denn das Geschlechterverhältnis als gesellschaftliche Institution steht nie alleine da sondern ist mit den unterschiedlichen symbolischen Hierarchien und Machtstrukturen in einer Gesellschaft verwoben und verstrickt. Aus der Perspektive der Intersektionalität denkend verbietet es sich, die Zielgruppe der Forschung ausschließlich nach einer einzigen Dimension der Machtungleichheit zusammenzusetzen, denn dies hat zur Folge, dass andere Dimensionen, meist eher Positionen der relativen Privilegierung, unerkannt die Untersuchungsgruppe bestimmen. Bei der Entwicklung des Forschungsvorhabens, aber auch im Zuge der Gewinnung der Zielgruppe für Befragung, Beobachtung, oder auch Dokumentenanalyse wäre also systematisch zu bedenken, wo sich Hierarchien der Machtungleichheit in der Gesellschaft auf eine Weise kreuzen, die es besonders schwer macht, Gewalt überhaupt als solche zu erkennen, Gehör oder Unterstützung zu finden, sich zu wehren oder der Gewaltsituation zu entkommen.
Kein empirisches Projekt kann systematisch alle Machthierarchien der Gesellschaft berücksichtigen, und das ist auch nicht erforderlich, geht es doch darum, an den Stellen, wo diese Linien sich schneiden, die spezifische Verwundbarkeit und die spezifischen Ressourcen in den Blick zu bekommen. Das Gebot der Forschungsethik ist so zu verstehen, Augen und Ohren für Erfahrungen zu öffnen, die aus der relativ mächtigen Position der Forschenden allzu leicht unsichtbar bleiben.