Erinnerbarkeit, Angst, Scham und Schuld als Grenzen der Forschung zu Gewalt

Barbara Kavemann

Mit Blick auf die Grenzen der Erforschbarkeit von erlebter Gewalt lässt sich ganz allgemein zusammenfassen: Es lassen sich nur bestimmte Personen für Befragungen zu dieser Thematik gewinnen, es lassen sich im Rahmen der Befragung nur bestimmte Inhalte thematisieren, die Forschenden werden nur bestimmte Fragen stellen und die Befragten werden ihrerseits nur auf bestimmte Fragen eingehen. Obwohl es im Weiteren um diese Grenzen der Forschung geht, soll diese Perspektive aber keineswegs den großen Erkenntnisgewinn mindern, den Forschung zu Gewalterleben erbringen kann. Die Erkenntnis gilt für standardisierte wie qualitative Forschung, soll aber vor allem aus den Erfahrungen mit qualitativen Interviews hergeleitet werden. Es wird auf Erfahrungen aus drei Forschungsprojekten zurückgegriffen: 1) Eine Interviewstudie zur „Offenbarungsbereitschaft nach sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend“ (Kavemann et al. 2015; Kavemann und Rothkegel 2014), für die 58 Einzelinterviews mit 44 Frauen und 14 Männern geführt wurden, die sexuellen Missbrauch in Kindheit und/oder Jugend erlebt haben, 2) eine Interviewstudie, die im Auftrag des Innenministeriums/Bundeskriminalamtes 53 Frauen interviewte, die Opfer von Menschenhandel zum Zweck sexueller Ausbeutung geworden waren (Helfferich et al. 2010), 3) eine Studie mit 31 Frauen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen zu Belastungen und Gewalterleben (Helfferich und Kavemann 2013).

Grenzen der Kommunikation von Gewalt

Es kann nur das Thema der Forschung werden, was gehört werden kann

Nicht nur die Befragungssituation sondern bereits die Konzeptionierung von Erhebungsinstrumenten ist bestimmt von Berührungsängsten, Projektionen und Abgrenzungen seitens der Forschenden – oft nicht bewusst. Wenn mir das Fragen nach Aspekten von Gewalt bzw. Sexualität peinlich ist, gehe ich davon aus, dass es auch den von Gewalt Betroffenen bzw. den Gewalt Ausübenden peinlich sein muss. Gehe ich von der Annahme aus, dass alle Betroffenen traumatisiert sind und ich wenig über ihre Bewältigungsstrategien weiß, fürchte ich, durch jede Frage nach dem Gewalterleben eine Retraumatisierung auszulösen. Die Frage ist „Was kann und darf ich fragen?“ So kann die Angst davor, Betroffene zu stark zu belasten, Offenheit im Gespräch verhindern. Die behauptete Erfordernis, die Interviewpersonen zu schonen, kann das Bedürfnis der Forschenden, selbst geschont zu werden, verdecken. In der Regel geht es um eine Projektion eigener Ängste der Forschenden auf die Befragten.

Betroffene haben, wenn sie sich zur Beteiligung an einer Forschung zu Gewalt bereit erklären, meist eine gute Einschätzung von dem, was sie sich zumuten können und wollen. Dazu kann gehören, an die Grenzen des Erträglichen zu gehen und sie wieder einmal auszuloten. Was die Forschenden ertragen können, ist für die Befragten allerdings schwer einschätzbar. Sie übernehmen oft die Verantwortung für sie. Ein Beispiel sind Andeutungen in qualitativen Studien, dass besonders grausame Teile der Geschichte nicht erzählt werden. Das Bedürfnis ist da, zu vermitteln, wie belastend die Erlebnisse waren, ohne jedoch Einzelheiten preiszugeben. In diesem Fall können die Interviewenden ein Angebot machen: „Erzählen Sie alles, was Ihnen wichtig ist. Sie müssen mich nicht schonen.“ Das bedeutet aber auch, dass sie mit der Zumutung des Gewalterlebens souverän umgehen können. Reagieren die Interviewenden mit Erschrecken oder Verlegenheit, unterbrechen das Thema oder gehen aus dem Kontakt, dann ist das ein Signal an die Gesprächspartnerinnen und -partner, ihre Erzählung nicht weiterzuführen, zu verstummen oder ihrerseits das Thema zu wechseln (vgl. auch Helfferich in diesem Band).

Das ist nicht nur für uns, also für den Betroffenen, schwierig drüber zu reden. Das ist auch für die Nichtbetroffenen schwierig zu erfragen. Das kann ich auch verstehen. (105: 595) [1] Sich immer klarmachen, dass man den anderen damit belastet und dass man eigentlich kein Recht dazu hat, andere zu belasten. Es sei denn, die sind damit einverstanden. (108: 634)

Problematische Opferund Täterbilder dominieren die Auseinandersetzung mit Gewalt, wenn Betroffene nur als Opfer wahrgenommen und als bemitleidenswert und fürs Leben geschädigt angesehen werden. Auf jeden Fall werden „Opfer“ als „anders“ konstruiert, die Forschenden grenzen sich ab, wenn sie nicht selbst zu den Betroffenen gehören. Gleiches gilt für die Dämonisierung von Tatpersonen. Werden diese Zuschreibungen nicht als solche wahrgenommen und immer wieder kritisch hinterfragt, wirken sie in die Forschung hinein. Bestimmte Fragen werden nicht gestellt, bestimmte Aspekte nicht thematisiert.

  • [1] Zitate, die mit Codierungen versehen sind, stammen aus der Studie zu „Offenbarungsbereitschaft nach sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend“ (Kavemann et al. 2015).
 
< Zurück   INHALT   Weiter >