Ethische Fragen in der Forschung mit Kindern und Jugendlichen zu sexueller Gewalt: Ein Überblick

Heinz Kindler

Eine der Kernthesen von Carol Hagemann-White (in diesem Bd.), einer Pionierin der Forschung zu Gewalt im Geschlechterverhältnis, besagt, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit sexueller Gewalt besondere Anforderungen stellt, gleichwohl „gute“ Forschung in diesem Bereich möglich ist. Was Forschung gut macht, wird sicher weder in der Scientific Community noch in der Gesellschaft einheitlich beantwortet (für Einführungen in die Diskussion siehe Trochim et al. 2015, Bird und Ladyman 2013 oder Daempfle 2012; für vertiefende Erörterungen siehe Rutter und Solantaus 2014, Pigliucci und Boudry 2013).

Zwei häufig genannte „Zutaten“ guter Forschung betreffen ihre ethische Verantwortbarkeit sowie ihren wissenschaftlichen Wert. Letzterer wird in anwendungsorientierten vs. grundlagenorientierten Feldern etwas unterschiedlich bestimmt (Nutzen bei der Beantwortung von Praxisfragen vs. Nutzen bei der Entwicklung oder Prüfung wissenschaftlicher Hypothesen). Ob und in welcher Form ethische Verantwortbarkeit und wissenschaftlicher Wert in einem Zusammenhang gedacht werden müssen, ist gleichfalls Gegenstand von Diskussionen.

In Abwandlung des Dictums von Hagemann-White (in diesem Band), jede Forschung zu Gewalt fordere zur Positionierung auf, geht meine eigene moralische Intuition dahin, dass besonders Studien an und mit gewaltbelasteten Kindern bzw. Jugendlichen begründungspflichtig sind, was den Nutzen einer solchen Forschung und ihre Einbettung in kollektive Lernanstrengung angeht. Ich würde deshalb „Abstinenzpositionen“, die die Wahl einer Forschungsfrage einem durch die Forschungsfreiheit geschützten Bereich zuordnen, für dieses Themenfeld zurückweisen und einen Zusammenhang zwischen zu erwartendem Nutzen und ethischer Verantwortbarkeit bejahen. Deshalb beginnt dieses Kapitel mit einer Auflistung des möglichen Nutzens von Forschung an und mit Kindern bzw. Jugendlichen zu sexueller Gewalt. Nur wenn eine solche Forschung als wertvoll und nutzbringend angesehen werden kann, macht es Sinn sich weiter mit einer ethisch verantwortbaren methodischen Ausgestaltung zu beschäftigen. Im Anschluss werden zunächst ethische Anforderungen diskutiert, die in gesetzlichen Vorschriften oder Ethikrichtlinien verankert sind. Da hierbei jedoch viele Fragen offen bleiben, die von Forschenden selbst entschieden und verantwortet werden müssen, besteht der Hauptteil des Kapitels aus einer systematischen Erörterung von Anforderungen auf der Grundlage einer beschränkten Anzahl an ethischen Prinzipien, die das Feld der Forschungsethik strukturieren.

Als Praktiker der Rechtspsychologie, der in Gerichtssälen und in Fortbildungen die schädlichen Folgen fehlenden Orientierungsund Handlungswissens für Kinder, die möglicherweise oder belegbar sexuelle Gewalt erleben mussten, sehen kann, war meine Einstellung zur Forschungsethik nicht immer so positiv wie jetzt. Auch wenn ich im Bereich der Forschung zu sexueller Gewalt und Gewalt im Geschlechterverhältnis viele Kollegen und Kolleginnen kennenlernen durfte, deren Moral und Einsatz mich stark beeindruckt haben (z. B. Connell 1987), hat es lange gedauert, bis ich mich selbst mit Ethik in der Forschung beschäftigt habe. Geschrieben wurde dieses Kapitel nun jedoch mit der Einsicht, dass es nicht möglich ist Integrität zwischen der Anwendung und dem Erwerb von Wissen aufzuspalten.

 
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