Begründungen für den Nutzen von Forschung an und mit Kindern bzw. Jugendlichen zu sexueller Gewalt
Soweit ich sehe, lassen sich mindestens vier Gründe für einen Nutzen bestimmter Forschungen an und mit Kindern bzw. Jugendlichen zu sexueller Gewalt angeben:
• Für die gesellschaftliche Selbstvergewisserung und Legitimation des Einsatzes öffentlicher Mittel kann es notwendig und sinnvoll sein, das aktuelle Ausmaß einer Problematik zu untersuchen, etwa weil bestimmte Formen sexueller Gewalt neu in die Diskussion geraten sind (z. B. sexuelle Gewalt in Institutionen), weil neue Formen von Viktimisierung entstanden sind (z. B. Viktimisierung online oder im Zusammenhang mit Mobiltelefonen: Livingston und Smith 2014) oder weil die gesellschaftliche Situation von Kindern im Hinblick auf sexuelle Gewalt neu bestimmt werden muss. Die rückblickende Befragung von Erwachsenen kann solche Kenntnisse nur mit mehrjähriger Verzögerung oder (bei neuen Formen der Viktimisierung) unter Umständen auch gar nicht liefern.
Die Befragung von Bezugspersonen wiederum kann nur stark verzerrte Ergebnisse erbringen, weil ein großer Teil der sexuellen Übergriffe unter Kindern bzw. Jugendlichen vor der Welt der erwachsenen Bezugspersonen verborgen wird (z. B. Priebe und Svedin 2008).
• Weiter kann es Fragestellungen geben, deren Beantwortung sich einem rekonstruierenden Zugang aus einer größeren zeitlichen Distanz verschließt und bei denen es zudem wahrscheinlich oder zumindest prüfenswert erscheint, dass oder ob sich Befunde bei Kindern bzw. Jugendlichen bedeutsam von Befunden bei Erwachsenen unterscheiden. Sofern es sich um eine Forschung handelt, die zumindest mittelbar Vorteile für Kinder bietet, kann auch hier ein Nutzen bejaht werden. Ein Beispiel sind Studien zu der Frage, welche Art von Unterstützung durch nicht-missbrauchende Bezugspersonen Kinder nach sexueller Gewalt brauchen und wie sich eine solche Unterstützung auf den Verlauf nach sexueller Gewalt auswirkt (für eine Meta-Analyse zum bisherigen Forschungsstand siehe Bolen und Gergely 2014). Hier ist zum einen die Fragestellung von offenkundig praktischer Bedeutung. Zum anderen ist zu erwarten, dass zwischen dem Erleben von Kindern und Erwachsenen an dieser Stelle Unterschiede bestehen. Schließlich können Erleben und Verlauf aus größerer zeitlicher Distanz rückblickend vermutlich nur noch sehr grob und zudem nur überformt durch spätere Geschehnisse erhoben werden.
• Drittens sind Situationen anzuführen, in denen es im wohlverstandenen Interesse aller betroffenen Kinder und Jugendlichen liegt, wenn mit Gültigkeit für die Jahre des Aufwachsens Erkenntnisse über die Wirkungen von Hilfen bei bestimmten Problemlagen vorliegen würden. Hier könnte es als negative Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen verstanden werden, diese Altersgruppen von einer Forschung, die wirksame Hilfen ermöglichen soll, auszuschließen. Ein Beispiel wäre die Entwicklung altersangepasster Behandlungsansätze für posttraumatische Belastungsstörungen nach sexueller Gewalt (Mannarino et al. 2014), einschließlich erster Wirksamkeitsstudien für die Behandlung von komplexen Trauma-Störungen bei Kindern (Cohen et al. 2012).
• Schließlich gibt es potenziell noch den aus dem Paradigma der Kindheitsforschung (James und Prout 1990) abgeleiteten Aspekt, dass Kindern als Betroffenen von sexueller Gewalt durch Forschung mit ihnen (nicht über sie) eine eigene Stimme gegeben werden soll und sie zur Erkundung und Artikulation ihrer Erfahrungen ermutigt werden sollen (Mason und Watson 2014). Allerdings gerät die Wertschätzung für Kinder als kompetente Akteure und Sprecher (Phillips 2014) beim Thema sexuelle Gewalt zwangsläufig in ein Spannungsverhältnis zur gleichzeitig bestehenden Sichtweise von Kindern als vulnerabel, so dass eine völlig ergebnisoffene und damit auch wenig zielgerichtete Forschung zum Erleben von Viktimisierungsprozessen innerhalb der Diskurse der Kindheitsforschung teilweise problematisiert wird (z. B. Cater und Øverlien 2014a).
Die vier genannten Argumente plausibilisieren, dass Forschung an und mit Kindern bzw. Jugendlichen zu sexueller Gewalt von erkennbarem Nutzen sein kann. Allerdings wird damit noch nichts über ethische Anforderungen an die Ausgestaltung solcher Forschung gesagt. Diese werden in den nächsten Abschnitten erörtert.