Forschungsethische Anforderungen aus Gesetzen und Ethikrichtlinien für Studien an und mit Kindern bzw. Jugendlichen zu sexueller Gewalt

Rechtliche Regelungen sowie Ethikrichtlinien von Fachgesellschaften bzw. Organisationen der Forschungsförderung stellen Normierungen mit einem sehr hohen bzw. hohen Maß an Verbindlichkeit dar. Eine vorrangige Beschäftigung mit ihnen ist daher sinnvoll.

Ausdrückliche Regelungen für Forschung an Minderjährigen kennt das Recht in Deutschland nur für den Bereich der Arzneimittelforschung (z. B. § 40 Abs. 4 Arzneimittelgesetz). Die dort festgelegten Anforderungen an die Zulässigkeit von Studien (vor allem Aufklärung und Beachtung des Willens nicht nur der gesetzlichen Vertretung, sondern in der Regel auch des Kindes bzw. Jugendlichen, die Begrenzung auf Studien mit nur minimalen Belastungen und Risiken sowie das Einholen des Votums einer Ethikkommission) haben jedoch ein gewisses Maß an Strahlkraft in andere Forschungsbereiche hinein entwickelt. In Abwesenheit spezifischer gesetzlicher Regelung wird ansonsten häufig auf das Grundgesetz (GG) zurückgegriffen. Insbesondere wird auf Artikel 1 (Menschenwürde) und 2 (freie Entfaltung der Persönlichkeit) Bezug genommen, aus denen die generelle Notwendigkeit von Aufklärung und Einwilligung der Betroffenen bei allen Formen der Forschung mit Menschen abgeleitet wird. Stellenweise wurde Art. 1 GG herangezogen um zu argumentieren, dass eine Forschung, die dem Wohl der teilnehmenden Kinder nicht unmittelbar dient, also fremdnützig ist, als unzulässig anzusehen ist, da sie die Würde dieser Kinder verletzt, die zu Objekten degradiert würden (kritisch hierzu Taupitz 2003). Vermehrt wird zudem mit der UN-Kinderrechtekonvention argumentiert. Zwar ist dort nicht ausdrücklich von Forschung die Rede, jedoch wurden vor allem aus den Artikeln 12, 13 und 36 Leitlinien im Hinblick auf die Aufklärung von Kindern, die Berücksichtigung ihres Willens bei Studien und den Schutz vor Ausbeutung durch Forschung abgeleitet (Alderson und Morrow 2011).

Das Recht kann damit, außerhalb der Arzneimittelforschung, für forschungsethische Beurteilungen derzeit lediglich Bezugspunkte in Form sehr grundlegender Rechte von Kindern bzw. Jugendlichen als Teilnehmende an Forschung zur Verfügung stellen. Diese Bezugspunkte bedürfen aber in ganz erheblichem Umfang der Interpretation und Konkretisierung. So ist es ein weiter Weg von der grundsätzlichen Akzeptanz des Anspruchs von Kindern bzw. Jugendlichen, durch fremdnützige Forschung nur minimalen Belastungen ausgesetzt zu werden, bis zur genaueren Festlegung, was als „minimale“ und damit ethisch noch akzeptable Belastung anzusehen ist und wie solche Einschätzungen prozedural gegen verzerrte Wahrnehmungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern abgesichert werden können, die ihre eigenen Forschungsinteressen engagiert verfolgen.

Ein möglicher Weg der Konkretisierung läuft über Ethikrichtlinien von Fachgesellschaften und Organisationen der Forschungsförderung. Letztere können, wenn sie in einem Forschungsfeld als nahezu einziger Förderer zur Verfügung stehen, eine ebenfalls hohe Verbindlichkeit erreichen. Die Entwicklung wurde hier wesentlich durch internationale Leitlinien aus dem Bereich medizinischer Forschung, insbesondere die „Deklaration von Helsinki“ (aktuelle Version: World Medical Association 2013) beeinflusst. In dieser Deklaration wurde das Konzept der „vulnerablen Gruppen“ eingeführt, die einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, benachteiligt zu werden oder durch die Teilnahme an einer Studie zusätzliches Leid zu erfahren. In der Regel werden Kinder und Jugendliche im Vergleich zu Erwachsenen als vulnerable Gruppe angesehen. Für vulnerable Gruppen wird in der Deklaration von Helsinki ein Einbezug in Forschung nur dann als ethisch vertretbar bewertet, wenn a) eine vergleichbar aussagekräftige Forschung mit einer nicht-vulnerablen Gruppe nicht durchgeführt werden kann, b) die Fragestellung für das Wohlergehen der vulnerablen Gruppe von hoher Bedeutung ist und c) generiertes Wissen zumindest anderen Mitgliedern dieser Gruppe zugutekommt. Zudem wird d) gefordert, dass Forschung mit vulnerablen Personen, die nicht vollständig in der Lage sind, eine informierte Zustimmung zu erteilen (was bei Kindern und jüngeren Jugendlichen der Fall sein kann), nur minimale Risiken und Belastungen beinhalten darf, auch wenn e) eine verpflichtend einzuholende Zustimmung der gesetzlichen Vertretung vorliegt. Schließlich wird f) für jede geplante Studie das zustimmende Votum einer Ethikkommission verlangt.

Unter den in Deutschland entwickelten Leitlinien lehnen sich die Richtlinien der zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer für Forschung an Minderjährigen (1997) und die sehr viel ausführlicheren Empfehlungen zur Begutachtung klinischer Studien durch Ethikkommissionen (Raspe et al. 2012) eng an die Deklaration von Helsinki an. Anders als in den USA, wo das vergleichbare Regelwerk der „National Commission for the Protection of Human Subjects of Biomedical and Behavioral Research“ (1977) vielfach für den ganzen Bereich der humanund sozialwissenschaftlichen Forschung Geltung erlangt hat (Schrag 2010), scheint die Wirkung der Deklaration von Helsinki in Deutschland zwar über rein klinische Studien hinauszugehen, bislang aber überwiegend auf Forschung an medizinischen Fakultäten beschränkt zu sein.

Außerhalb dieses Bereichs enthalten Ethikrichtlinien in Deutschland sehr viel schwächere oder weniger detaillierte Schutzvorschriften. So verlangt der „EthikKodex der Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ von 1992 pauschal die Vermeidung negativer Konsequenzen von Forschung sowie besondere Anstrengungen um Studienteilnehmer aus Minoritäten und Randgruppen angemessen aufzuklären. Auf Kinder und Jugendliche wird nicht eingegangen und die sonstigen Anregungen der Deklaration von Helsinki werden nicht aufgegriffen. Die Ethikrichtlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychologie von 2004 halten eine informierte Zustimmung bei anonymen Fragebögen, die ansonsten weder Schaden noch Unbehagen verursachen können, für überflüssig. Ansonsten wird eine solche Zustimmung für erforderlich gehalten. Bei Personen, die zu einer informierten Zustimmung nicht vollumfänglich in der Lage sind, wird festgelegt, dass die Studie trotzdem erklärt und um Einverständnis nachgesucht werden muss. Zudem ist das Einverständnis einer gesetzlichen Vertretung einzuholen. Relativ genau wird ausbuchstabiert, welche Punkte in die Information über die Studie aufzunehmen sind (z. B. über ein Unbehagen, das über alltägliche Stimmungsschwankungen hinausgeht, als mögliche Folge der Teilnahme). Spezifische Erörterungen zu Kindern bzw. Jugendlichen fehlen aber ebenso wie das Konzept „vulnerabler Gruppen“. Entsprechend werden auch keine Kriterien zur notwendigen Relevanz der Forschung für vulnerable Gruppen oder zur Substituierbarkeit durch Teilnehmende aus nicht-vulnerablen Gruppen formuliert. Ethikkommissionen werden erwähnt, es wird jedoch nicht ausdrücklich empfohlen Forschungsanträge dort vorzulegen.

Bezogen auf Forschung an und mit Kindern bzw. Jugendlichen finden sich außerhalb der Medizin in der Rezeption der dort entwickelten ethischen Leitlinien teilweise positive Stimmen, die für eine Übertragung plädieren (z. B. Thiel 2013). Insgesamt überwiegt jedoch die Kritik (z. B. Hagemann-White, in diesem Band). So wird bemängelt, es mache praktisch wie theoretisch wenig Sinn, alle sozialwissenschaftliche Forschung bzw. alle Forschung an und mit Kindern bzw. Jugendlichen wie klinische Studien zu behandeln (z. B. Hammersby 2009; Freeman und Mathison 2009; Dingwall 2012). So nachvollziehbar diese Kritik ist, hat sie bislang doch nicht zu ausgearbeiteten alternativen Leitlinien für sozialwissenschaftliche Studien in ethisch sensiblen Bereichen – denen Forschung an und mit Minderjährigen zu sexueller Gewalt sicher zuzurechnen ist – geführt.

 
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