Konsequenzen der Professionalisierung – Abkopplung von der Basis?
In der Erfüllung ihrer Rolle als Linkage-Agenten stehen NGOs zwischen zwei spannungsvollen sozialen Umwelten: ihrer Mitgliederbzw. Unterstützerbasis und der institutionellen Umwelt, in der sie ihre Ziele umsetzen wollen. Für die Analyse ihrer Kommunikationsbeziehungen bzw. der Erklärung eventueller Unterschiede in der strategischen Ausrichtung erweisen sich daher die Befunde der Organisationssoziologie, die auf das Dilemma konfligierender Handlungslogiken aufmerksam machen, als äußerst fruchtbar.
Im Wesentlichen richtet sich das Handeln von intermediären Akteuren und damit auch von NGOs an drei Zielen aus (Jarren & Donges 2006: 133; Wiesenthal 1993; 1987); dabei können in der Regel infolge begrenzter Ressourcen nicht alle Ziele zugleich in gleicher Intensität verfolgt werden, sodass im konkreten Fall der Fokus auf eine Zielsetzung nötig ist:
• Interessenvertretung sowie vorangestellt Interessenaggregation und -selektion, um kollektives Handlungspotenzial herzustellen.
• Mitgliederrekrutierung und Sicherstellung deren aktiver bzw. finanzieller Partizipation vor dem Hintergrund des Kollektivgutdilemmas.
• Sicherung der Existenz der Organisation und effektive Zielverfolgung im Interesse der kollektiven Handlungsfähigkeit.
Einerseits müssen NGOs im politischen Einflusssystem um Handlungsfähigkeit bestrebt, andererseits attraktiv für ihre Mitglieder bzw. Unterstützer sein und deren heterogene Interessen befriedigen. Schmitter und Streeck (1999) erörtern das Dilemma als sich widersprechende Logiken in Gestalt von Systemrationalitäten. Vor dem Hintergrund effektiver Zielverfolgung und Organisationsstabilität ist Interessenvertretung mit drei Grundproblemen konfrontiert: der Rekrutierung einer möglichst großen sozialen Basis, der authentischen Vertretung deren Anliegen und der Umsetzung der Interessen in einer an Gegenspielern reichen Umwelt (Janett 2000: 151). Aus jenen Anforderungen resultieren zwei Handlungslogiken: Mitgliedschaftsund Einflusslogik.
Gegenüber Mitgliedern und Basis wirkt die Logik der Repräsentation, nach außen kommt die Logik effektiver Zielverwirklichung zum Tragen. Beide können sich ergänzen, stehen aber meist in widersprüchlichem Verhältnis. Erstere ist für NGOs nicht nur in Anbetracht fehlender formaler Legitimation relevant, um ihre Existenz und ihr Wirken zu rechtfertigen. Sie ist von großer Bedeutung, da das Vertrauen und die Unterstützung ihrer Anhänger insbesondere durch diese gewonnen werden kann (Rucht 2001: 330; Neidhardt 1985). „In einer von Zweckrationalität beherrschten Welt ist die Bindung der Anhängerschaft aber stets instabil“ (Janett 2000: 151) und folgt der Logik des Trittbrettfahrens (Olson 2004). Die Anhänger wollen von den Kollektivgütern profitieren, haben aber kaum Anreize aktiv zu deren Aufbau beizutragen [1]. Ressourcenbedarf und Rechtfertigungsdruck erfordern von NGOs darum die permanente Mobilisierung von Mitgliedern, Basis und Öffentlichkeit (Frantz 2007: 186). Es besteht das Risiko, dass der Mobilisierungszwang in Widerspruch mit der Repräsentation der Mitglieder gerät.
Zudem sind basisdemokratische Prozesse der Positionsund Strategiefindung zeitaufwendig und „fragmentieren das Machtpotenzial“ (Janett 2000: 152; Poguntke 2003: 6) einer NGO. Dahls (1994) Dilemma von Effektivität und Partizipation trifft auch auf organisationsinterne Prozesse zu. Jede zusätzliche Mitsprache verlangsamt die Entscheidungsfindung und hemmt die Flexibilität der NGO sowie ihre Effizienz in der Aufgabenerfüllung. Um ihr (schnelle) Handlungsfähigkeit zu gewährleisten, ist eine zentrale Koordinierung von Maßnahmen und Informationen erforderlich – die Mitgliedschaftslogik gerät in Konflikt mit den Erfordernissen strategischer Zielverwirklichung bzw. der Einflusslogik. Dabei stellt der institutionelle Kontext des EU-Systems der Mitgliedschaftslogik eine besonders starke Einflusslogik gegenüber (siehe Kapitel 7.1 und 7.2).
NGOs befinden sich in dieser Beziehung aus Sicht neoinstitutionalistischer Organisationstheorien in einem normativ spezifisch gepolten Organisationsumfeld, das hohe Anforderungen auf der Ebene des zielorientierten Handelns induziert, weshalb zivilgesellschaftliche Rückbindung diversen operativen Zwängen gegenübersteht (Bode & Frantz 2009: 176). Laut Saurugger (2008a: 3) führt der Bedarf an Expertise zur effektiven Einflussnahme im EU-System zu einem „expertise representation gap“: Je besser sich NGOs in ihren Organisationsstrukturen aufstellen, um die von ihnen geforderte Expertise anzubieten, desto weniger fühlen sich die Mitglieder repräsentiert. Folglich herrscht permanente Spannung zwischen dem Versuch effektiver Interessenvertretung im EU-System und der innerorganisatorischen Partizipation; wobei sich – vergleichbar mit der oben beschriebenen Entwicklung von Parteien – das skizzierte generelle Dilemma durch die Professionalisierung zu verstärken und eine Verschiebung in Richtung Einflusslogik zu bewirken scheint.
„Das Ideal einer demokratisch-deliberativen (also zivilgesellschaftlich inspirierten) Organisationspolitik steht hinter Erwartungen an strategische Professionalisierung zurück.“ (Bode & Frantz 2009: 189)
Professionalisierung wird mit höherer Marktorientierung gleichgesetzt (Kiefer 2010: 284). Sie bewirkt eine gesteigerte Ausrichtung des Organisationshandels entlang ökonomischer Kriterien wie Effizienz und Effektivität, wirtschaftliches Denken gewinnt an Bedeutung (Priller et al. 2012; Schröer 2009: 142; Harms &
Ressourcen zu erfolgreicher Selbstorganisation fähig, sofern eine „überdurchschnittlich handlungskompetente und enthusiastische Untergruppe existiert.“ Er führt dies auf die Verbesserung grundlegender Organisationsvoraussetzungen, etwa in Gestalt neuer Kommunikationstechnologien (Roth 2005: 108) zurück.
Reichard 2003: 13). So beobachten Bode und Frantz (2009) in ihrer Analyse deutscher NGOs die grundsätzliche Bereitschaft, zielorientiertes Management über eine breite Partizipationsbasis zu stellen.
Bedenken werden nicht nur von NGO-Forschern formuliert (Saurugger 2009; Smismans: 2006; Geiger 2005; Hirsch: 2001; Edwards et al. 2000; Rucht & Roose 1999: 19f; Wahl 1998: 56 ff), sondern werden auch aus dem Zivilgesellschaftssektor selbst laut. Die Kritik gründet in den, im Zuge der Professionalisierung, veränderten Beziehungen zu ihren Umwelten, speziell der wahrgenommenen Tendenz, sich stärker an den Bedürfnissen der adressierten kollektiven Akteure auszurichten (Lahusen 2002: 268 ff). Infolgedessen wird NGOs vorgeworfen, dass sie sich von ihren NSB-Ursprüngen entfernen (Demirovic 1998; Meyer & Tarrow 1998) und sich die politische Mitwirkung mit Zugeständnissen hinsichtlich ihrer genuinen Ziele, wie etwa verstärkter Bürgerbeteiligung, erkaufen (Frantz & Martens 2006: 128; Roth 2000; Messner 1999).
NGOs gewinnen zwar an Professionalität in Lobbying und Organisationsmanagement, sehen sich aber mit dem Vorwurf konfrontiert, die Rückbindung an die Mitglieder und ihre gesellschaftliche Basis zu verlieren. Die Vermutung wird geäußert, in Konsequenz der durch die Anstellung qualifizierter Mitarbeiter sichergestellten Organisationsstabilität (Klüver & Saurugger 2013: 2) könne deren Relevanz abnehmen (Skocpol 2003). Professionalisierung berge demnach einen potenziellen Konflikt zwischen professionellen Hauptamtlichen in den EU-Sekretariaten und Mitgliedern in sich, der in einem Professionalisierungsparadox münden könne (Saurugger 2009). Die Distanz zwischen Professionellen und Mitgliedern vergrößere sich – vergleichbar mit der Entwicklung in Parteien (Panebianco 1988: 224). Ergo sehen NGO-Forscher die Gefahr, dass NGOs mit zunehmender Professionalisierung, die Fähigkeit authentischer Interessenvertretung bzw. für die Basis zu sprechen verlieren (Maloney 2008; Kristan 2007:63; Saurugger 2006; Frantz & Martens 2006). Die diesbezüglichen Diagnosen: Für den Einzelnen gibt es wenig Möglichkeiten, mit den Verantwortlichen der NGO in Kontakt zu treten (Warleigh 2003; 2001; Sudbery 2003); systematische Interaktion mit Mitgliedern und Unterstützern findet kaum nicht statt. Die organisationsinterne Willensbildung verläuft top-down, unter den Anhängern wird selten ein Meinungsbild erstellt und direkte Partizipationsoptionen der Mitglieder sind nur sehr begrenzt vorhanden, diese sind vorrangig durch gewählte Vorstände repräsentiert. Die unmittelbaren Berührungspunkte liegen eher im Bereich von Lastschriftverfahren, als in basisdemokratischen Prozessen der Willensbildung und Entscheidungsfindung (Hirsch 2001).
Mit Referenz auf ihre zivilgesellschaftlichen Wurzeln wird deswegen insbesondere die vermutete Rationalisierung der Entscheidungsverfahren als problematisch angesehen (Saurugger 2009). Es stellt sich die Frage eines Principal-
Agent-Problems, wonach die Stakeholder der NGO – in diesem Fall hauptsächlich Mitglieder und Basis – nur in begrenztem Maße Kontrolle darüber auszuüben vermögen, was Hauptamtliche als Agents umsetzen (Bode & Frantz 2009). Der Einfluss Hauptamtlicher, deren Handlungen nicht mehr unmittelbar durch die Dynamik der NSB geprägt sind (Frantz 2005: 273), gibt Anlass zu kritischen Nachfragen und neue Impulse für die NGO-Forschung. Denn auch in NGOs wird im Zuge der Professionalisierung eine Veränderung der Rekrutierungsmuster beobachtet. Laut Frantz und Martens (2006) findet ein Generationenwechsel statt, eine Karriere in NGOs wird möglich, was die Ergebnisse der von Kohler-
Koch et al. (2008: 21) durchgeführten Analyse von acht Lebensläufen der Führungsebene der CSCG bestätigen [2].
„Die Option der geplanten und hauptamtlichen Berufstätigkeit sowie die Strategie, sich für diesen Berufsmarkt durch Studiengänge und spezielle Praktika gezielt zu qualifizieren, rückt die Themen der internen Organisationsstruktur von NGOs, ihre Rolle im politischen Prozess und ihre Möglichkeiten politischer Einflussnahme in ein neues Licht.“ (Frantz & Martens 2006: 125)
Jene Diskussion ist nicht neu, wurde sie doch bereits für Parteien im Kontext der Entstehung des Berufsbilds des Politikers geführt (Weber 1992[1919]). Die Folgen dieser Prozesse für die gesellschaftliche Verankerung der Parteien sind in Kapitel 4.3 und 4.4 dargelegt. Die Vermutung liegt nahe, dass NGOs u.a. in Folge zunehmender Hauptamtlichkeit eine vergleichbare Entwicklung durchlaufen. In Anlehnung an die von Weber entwickelte Bürokratietheorie konstatieren Merton (1968), ebenso wie Blau und Meyer (1971), die Tendenz von Organisationen, ihre originären Ziele zu ersetzen. Somit wird die Funktionsund Überlebensfähigkeit im jeweiligen Politikbereich zum eigentlichen Ziel (Frantz 2007: 186) und die ursprünglichen, durch ihre NSB-Wurzeln geprägten Ziele werden nur insofern verfolgt, als sie für das Überleben der NGOs relevant sind. Professionalisierung hat neben die Organisationslogik, ein spezifisches politisches Ziel zu erreichen, eine weitere Logik gesetzt.
„NGOs sind in erster Linie Organisationen und egal wie altruistisch, moralisch hehr und rein die Motivationen zur Gründung einer NGO sind, das Hauptziel für Organisationen wird längerfristig doch ihr eigenes Überleben in der Konkurrenz mit anderen Organisationen.“ (Curbach 2003: 60f)
Diese Logiken können miteinander in Konflikt geraten, Michels (1989 [1911]) zufolge neigt jedoch jede Organisation dazu, im Zuge voranschreitender Bürokratisierung oligarchische Strukturen anzunehmen, die zuletzt das System korrumpieren (Giddens 2009: 789). Dem entgegenzuhalten ist, dass Frantz (2005:294f) eine Tendenz zur Demokratisierung der Arbeitsverhältnisse, d.h. einen hohen Anspruch der Hauptamtlichen an die Mitgestaltung in Teams und im Kontakt mit den Führungskräften sowie ein System kontrollierter Machtausübung in NGOs beobachtet. Ihre Ergebnisse sprechen nicht nur gegen angenommene Oligarchisierungstendenzen. Ferner legen sie Spill Over-Effekte in Hinblick auf die Beziehung zu den Mitgliedern nahe, sodass sich Professionalisierung nicht negativ auf die Interaktion mit der Anhängerschaft auswirken würde – im Gegenteil diese sogar verbessern würde.
Auf die drei Gesichter der Partei (Katz & Mair 1995) rekurrierend, weist Poguntke (2000: 33) darauf hin, dass Michels These die Organisationswirklichkeit moderner Parteien nicht adäquat abbildet und bestenfalls für das Verhältnis zwischen Parteiführung und Mitgliederorganisation gilt. Da es in NGOs keine der Party in Public Office vergleichbare Instanz gibt, erweist sich die These für diesen Organisationstypus nicht per se als abwegig und bleibt zu überprüfen. Denn inwieweit NGOs, im Zuge der Professionalisierung, de facto eine ähnliche Entwicklung wie Parteien durchlaufen ist wegen fehlender systematischer empirischer Erhebungen unklar: Entfernen sie sich, wie Parteien, von der Basis, weil Funktionsund schnelle Reaktionsfähigkeit über innerorganisatorische Demokratie und Partizipation bzw. die kommunikative Rückkopplung mit Mitgliedern und Basis gestellt werden?
In dieser Studie wird ein erster Schritt unternommen, die Konsequenzen der Professionalisierung mittels empirischer Daten einzuschätzen.
- [1] Generell ist zu beobachten, dass die Bereitschaft einer Organisationsmitgliedschaft oder längerfristigen Engagements sinkt (Kohler-Koch 2012: 64; Marschall 2001: 148; Benz 2001: 270). Auch das Gefühl gut vertreten zu werden, führt bei NGOs daher nur selten zu formalen Mitgliedschaften (Heins 2002: 31). Dennoch sind für Heins (ebd.: 64) Gruppen trotz mangelnder
- [2] In drei Lebensläufen finden sich Hinweise auf Erfahrungen an der Basis; in zweien auf berufliche Tätigkeit in EP und Kommission. Fünf lassen auf NGO-Karrieren schließen, d.h. verschiedene Arbeitgeber aus der CSCG-Welt