Nähe zu Entscheidungsträgern und -prozessen

Noch zu Beginn der 1990er Jahre konnten sich NGOs in ihrem Engagement nicht auf institutionalisierte Zugangsregelungen stützen. Inzwischen sind sie zunehmend auf EU-Ebene ansässig, verstärkt in Governance-Prozesse eingebunden und treten „als akkreditierte Partner auf Augenhöhe auf“ (Frantz 2007: 184). Durch die (räumliche) Nähe entfalten sich Kommunikation und Informationsaustausch mit Entscheidungsträgern und anderen politischen Akteuren in optimaler Weise (Frantz 2007). Der Faktor Nähe zum Entscheidungsprozess ist dabei kaum vom Faktor Professionalisierung zu trennen, denn je besser informiert und organisiert eine NGO ist, desto höher sind ihre Zugangschancen (Saurugger 2008a: 3). Zudem wird die Erwartung besseren Zugangs als Antrieb der Professionalisierung gesehen. Für ihre Linkage-Leistung als Grundlage ihres Demokratisierungspotenzials birgt der Faktor Nähe zu Entscheidungsträgern und -prozessen zwei Annahmen:

(1) wird NGOs durch diese Gegebenheiten Linkage erleichtert.

(2) spricht ihre Insider-Rolle für die Implementation von Elitestrategien und eine stärkere Orientierung an politischen Entscheidungsträgern mit den eben dargelegten Folgen.

Politische Gelegenheitsstrukturen

Die institutionelle Struktur der EU macht die Matrix strategischer Optionen für NGOs erheblich komplexer (Kriesi et al. 2007: 49). Sie gewährt zwar neue politische Ansatzpunkte, lässt aber traditionelle zivilgesellschaftliche Handlungsrepertoires an Effektivität verlieren (Magnette 2006; Eising & Kohler-Koch 2005: 13ff; Imig & Tarrow 2001), da die EU eine „eigenständige Politiksphäre“ (Janett 2000: 155) mit spezifischen Gelegenheitsstrukturen darstellt. Die Besonderheiten des Verhandlungsund Entscheidungsstils – die Orientierung an Effizienz und Sachlichkeit – begünstigt informelle, argumentative und auf Expertenwissen gestützte Einflussnahme (Eising 2008: 15) [1]. Diskrete Formen politischer Kommunikation (Frantz 2007: 192) greifen in der EU in besonderer Weise, da die Organe (vor allem die Kommission) dafür empfänglicher sind, als für öffentlichkeitsbasierte Strategien (Marks & McAdams 1999).

In dieser Hinsicht ist in der politischen Opportunitätsstruktur ein Grund für die Professionalisierung von NGOs zu sehen. Ihre Relevanz für Linkage geht allerdings darüber hinaus. So ist Protest auf EU-Ebene nicht nur aufgrund der damit verbundenen zeitlichen und finanziellen Aufwendungen eher selten (Saurugger 2008b: 1285; Ruzza 2006). Ebenso erweist sich dessen Transnationalisierung angesichts unterschiedlicher nationaler Mobilisierungskontexte, politischer Kulturen und Themenprioritäten als schwieriges Unterfangen. Da nationale Kommunikationsgrenzen die Rolle von Öffentlichkeit und Massenmedien beeinträchtigen, ist die Generierung von Aufmerksamkeit mittels Öffentlichkeitsstrategien zusätzlich erschwert.

In der Realisierung eines allgemein zugänglichen Kommunikationsraums manifestiert sich eine besondere Problematik. Politische Kommunikation findet vorwiegend innerhalb der Nationalstaaten statt (Eising 2008: 17). Zwar existieren Ansätze transnationaler Öffentlichkeit, sie begrenzen sich jedoch entweder auf bestimmte Themen oder einen relativ kleinen Teil der Bevölkerung (Nettesheim 2005: 161). Obgleich Eder und Kantner (2000) eine Zunahme öffentlicher Debatten auf EU-Ebene feststellen, vermag EU-Politik im Alltagsgeschäft selten die Aufmerksamkeit aller nationalen Medien auf sich zu lenken und in einem europaweiten Diskurs zu resultieren. Größtes Hemmnis grenzüberschreitender Kommunikation ist die Vielsprachigkeit der EU, welche verhindert, dass eine

„ständige freie Diskussion zwischen allen sozialen Kräften stattfinden kann“ (Kohler-Koch et al. 2004: 216 [Herv. i. O.]; Tiedtke 2005: 43; Scharpf 1999b:

674; Kielmannsegg 1996: 55) [2].

Des Weiteren sind gemäß des Multilevel-Governance-Ansatzes nationale Entscheidungsträger nicht obsolet geworden (Eising 2008: 10). Im Gegenteil: Die Mehrebenenstruktur führt zu einer Vervielfachung der Verhandlungsarenen und Gelegenheitsstrukturen. Um ihren Einfluss zu maximieren, müssen NGOs ihre Anliegen gegenüber einer Vielzahl von Akteuren artikulieren und auch in den politischen Arenen der EU-Mitgliedsstaaten agieren (Ruzza 2006: 173) [3], was mit erheblichen Koordinierungsund Mobilisierungsleistungen einhergeht. Elitestrategien sind dabei nicht weniger aufwendig, als breit angelegte Öffentlichkeitskampagnen. Dank der Komplexität des EU-Systems und der Menge der Ansprechpartner müssen die Organisationen ein hohes Maß an zeitlichen und personellen Ressourcen in die Kommunikation mit politischen Autoritäten investieren, was die Annahme nahelegt, dass dies zulasten der kommunikativen Rückkopplung mit Mitgliedern und Basis geht. Die hier angeführten Faktoren lassen infolgedessen auf generelle, vom Professionalisierungsgrad unabhängige, Schwierigkeiten in der Verwirklichung von Linkage schließen.

  • [1] Auch argumentativ vorgetragene NGO-Anliegen finden nicht immer Gehör. Heinelt et. al (2005) kommen zu dem Schluss, dass je konflikthafter die Politikprozesse, desto schwieriger, diese argumentativ zu beeinflussen
  • [2] Nach Grimm (1995: 44) kann es aufgrund der Sprachenvielfalt und des fehlenden europäisierten Kommunikationssystems weder eine europäische Öffentlichkeit noch einen europäischen politischen Diskurs geben
  • [3] Andere Autoren vertreten die Ansicht, dass nationale zivilgesellschaftliche Akteure sich auch für Kompetenzen, die bei den EU-Institutionen liegen, primär an nationale Entscheidungsträger wenden (Moravcsik 1998)
 
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