Wie kann man Männer befragen? Methodische Bemerkungen

Puchert und Scambor (2012) verweisen auf die Gefahr „männerspezifischer Verzerrungen“ bei der Erhebung von Daten zum Thema Gewalt. Diese würden sowohl bei der Erfassung des Hellfelds als auch bei Versuchen, das relative und absolute Dunkelfeld zu erforschen, auftreten. Im Hellfeld werden solche Verzerrungen durch ein reduziertes Meldeund Inanspruchnahmeverhalten männlicher Opfer (Zanghellini 2014) und – damit korrespondierend – durch eine verminderte Wahrnehmung dieser Zielgruppe auf Seiten von Behörden und Institutionen verursacht. Die Erforschung des relativen Dunkelfelds (v. a. durch Prävalenzstudien) wird durch systematische Antworttendenzen beeinträchtigt, die etwas zu tun haben mit einer männerspezifischen Wahrnehmung und Bewertung von Gewalt (Stichwort: Bagatellisierung sowohl selbst ausgeübter als auch selbst erlebter Gewalt; Schröttle 2013). Das absolute Dunkelfeld, in welchem vor allem extrem marginalisierte Bevölkerungssegmente repräsentiert sind und das auch durch Prävalenzstudien nicht erreicht wird, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer Häufung von Gewaltphänomenen gekennzeichnet (Fichtner 2005). Eine Nicht-Berücksichtigung dieser Bevölkerungsgruppen kann zu schwerwiegenden Verzerrungen empirisch erhobener Daten führen, was am Beispiel der Prävalenzstudie von Stadler et al. (2012) kritisiert wurde (Enders 2011; Tauwetter 2011).

Die in der Studie von Jungnitz et al. (2004) gewonnene Erkenntnis, wonach der erforschbare Bereich männlicher Gewalterfahrung sozusagen auf zwei Seiten eingeschränkt ist, muss bei der Planung und Interpretation entsprechender Forschungen berücksichtigt werden: Einerseits gibt es Phänomene von Gewalt, die von Männern nicht als solche wahrgenommen werden, da sie ihnen als zu geringfügig, mithin als selbstverständlicher Teil männlicher Alltagserfahrung erscheinen. Auf der anderen Seite entziehen sich besonders schambehaftete Gewaltformen (v. a. sexualisierte Gewalt) dem Bereich dessen, was Männer als kommunizierbaren Teil ihrer eigenen Biographie anerkennen können, sodass – bei aller Vorsicht in Bezug auf unzulässige Verallgemeinerungen – „nur ein Mittelbereich übrig bleibt, der den Männern zugänglich ist und/oder in Untersuchungen berichtet wird.“ (Puchert und Scambor 2012, S. 31).

Welche Schlussfolgerungen sind aus diesen Erkenntnissen in Bezug auf Befragungen zu ziehen, die sich an Männer im Kontext von Gewalt richten? 1) Ein tieferes Verständnis männlichen Gewalterlebens macht Anstrengungen zur Erforschung des absoluten Dunkelfelds erforderlich (Fichtner 2005). Gewalt kann sinnvoller Weise nicht losgelöst von gesellschaftlichen Marginalisierungsprozessen gedacht werden. Speziell männliche Gewalt (sowohl in Form von Ausübung als auch von Betroffenheit) ist hinsichtlich ihrer Interaktion mit Phänomenen wie Ausgrenzung, Isolation und Ausschluss (Schlingman 2010) und negativen biographischen Verlaufskurven (Schütze 1983) noch weitgehend unerforscht, sodass fokussierte Untersuchungen, die beispielsweise Gewaltwiderfahrnisse von Obdachlosen, Inhaftierten, Psychiatriepatienten oder Migranten erheben, notwendig erscheinen (Jungnitz et al. 2004; Puchert und Scambor 2012). 2) Hellfelddaten sind in der Regel nicht als Abbild männlicher Betroffenheit (sexualisierter) Gewalt interpretierbar, vielmehr geben sie Auskunft über einen geschlechtsabhängig determinierten institutionellen Umgang mit Gewalt. Ein paradigmatisches Beispiel hierfür liefert die Untersuchung von Wolff und Dannenbeck (2010), in der nachgewiesen wurde, dass Jungen, die Opfer sexualisierter Gewalt wurden, von Erziehungsberatungsstellen schlichtweg nicht erreicht werden. Dem steht eine starke Inanspruchnahme spezialisierter Beratungsstellen gegenüber, die aber für männliche Betroffene in Deutschland in nicht annähernd ausreichendem Maße zur Verfügung stehen (Kavemann und Rothkegel 2012). 3) Im Rahmen quantitativer Erhebungen wurden in den letzten Jahren Instrumente entwickelt, die sensibel scheinen gegenüber männlicher Gewaltbetroffenheit (Jungnitz et al. 2004; Jungnitz et al. 2013) und eine Vergleichbarkeit mit weiblicher Gewaltbetroffenheit ermöglichen (Kapella et al. 2011). Diese müssen genutzt werden, um die längst überfällige Prävalenzstudie zur männlichen Gewaltbetroffenheit in Deutschland zu realisieren (Lenz 2014). 4) Um an Männern begangene Gewalthandlungen gut erfassen zu können, erscheint es notwendig, diese Handlungen im Fragebogen möglichst zu spezifizieren, da dadurch eine größere Unabhängigkeit gegenüber subjektiven (bzw. geschlechtsabhängig determinierten) Gewaltdefinitionen erzielt wird. In der Studie von Jungnitz et al. (2013) zeigte sich etwa, dass nur 9 % der befragten Männer die allgemeine Einleitungsfrage nach einer Betroffenheit von sexueller Belästigung bejahten, während die aus einer entsprechenden Itemliste generierten Daten zu dem Ergebnis führten, dass insgesamt 34 % der männlichen Befragten von dieser Gewaltform betroffen sind. Dieser Unterschied wurde als explizit männerspezifisch hervorgehoben. 5) Es ist darauf zu achten, dass Studien so angelegt werden, dass sie nicht per se Gefahr laufen, traditionelle Wahrnehmungsmuster in Bezug auf Geschlecht und Gewalt abzubilden. Beispielsweise lassen die Ergebnisse von Helming et al. (2011) zu sexualisierten Gewalt in Institutionen vermuten, dass die befragten Einrichtungsleitungen/Lehrkräfte bei der Identifikation entsprechender Vorfälle von tradierten Geschlechtsrollenmustern gelenkt wurden. Das dadurch gefundene ausgeprägte Bild, wonach Täter mehrheitlich männlich und Opfer überwiegend weiblichen Geschlechts sind, ist speziell in Bezug auf sexualisierte Gewalt im institutionellen Kontext zumindest anzweifelbar (Bundschuh 2011). Insbesondere auch Hellfeldstudien erscheinen anfällig für solche „Reinszenierungen“ gängiger Wahrnehmungsgewohnheiten. 6) Innerhalb der einschlägigen Forschungslandschaft besteht im großen und ganzen Konsens darüber, dass eine Kombination aus quantitativen und qualitativen Daten am ehesten geeignet ist, Ausmaß und Qualitäten männlicher Gewaltbetroffenheit möglichst adäquat abzubilden (Puchert und Scambor 2012). Jungnitz et al. (2014) führen in Bezug auf ihre Untersuchung zur männlichen Gewaltbetroffenheit aus, „dass der Bereich der wahrnehmbaren und damit auch prinzipiell besprechbaren Gewaltwiderfahrnisse größer ist als zu Beginn des Projekts angenommen wurde. (…) Die Grenze des Beschreibbaren in Richtung der schambesetzten Erfahrungen ist zumindest in qualitativen Interviews viel durchlässiger als gedacht.“ (Jungnitz et al. 2004, S. 18) 7) Am ehesten scheinen problemzentrierte Interviews, die ein bestimmtes biographisches Segment erfassen, geeignet zu sein, um aussagekräftige Daten zu erhalten. Zu vermeiden sind dabei einerseits Fixierungen auf die erlebten Gewaltwiderfahrnisse und andererseits implizite Vermeidungen des Themas, das man eigentlich zu erforschen wünscht. Fokussiert man allein auf die erlebte Gewalt, so kann bei Interviewpartnern schnell der Eindruck entstehen, dass er nicht als Person gesehen, sondern als „Lieferant von Daten“ instrumentalisiert wird. Gerade im Zusammenhang von Gewalt (und hier insbesondere bezogen auf sexualisierte Gewalt) ist sehr darauf zu achten, dass sich Betroffene nicht für Forschungsinteressen ausgenutzt fühlen oder sogar strukturelle Analogien zu Missbrauchsdynamiken auftauchen (Mosser 2009). Im Gegensatz dazu können mehr oder weniger stark ausgeprägte Vermeidungstendenzen auf Seiten des Interviewers die Mitteilungsbereitschaft der Befragten erheblich einschränken. Je nach Forschungsfrage ist es für Interviewer unerlässlich, erlebte Gewalt zu thematisieren und auf entsprechende Berichte der Befragten innerlich vorbereitet zu sein. Voraussetzung dafür ist die Entwicklung einer grundsätzlichen Haltung, wonach auch Männer von (sexualisierter) Gewalt betroffen sind, unter solchen Widerfahrnissen massiv leiden und über das Recht verfügen, diese Erfahrungen auf eine selbst gewählte Art und Weise zur Sprache zu bringen. Die Gefahr, den Interviewpartner durch das Gespräch zu retraumatisieren, muss zwar mitbedacht werden, sie soll aber nicht zu einer Befürchtung oder gar Angst ausarten, die wiederum zu einer Tabuisierung des Forschungsgegenstands beiträgt (Nitsch 2014).

 
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