Geschichtlicher Kontext: Die Epoche der Aufklärung
Das Drama kann nur schwer ohne seinen historischen Kontext betrachtet werden. Die ideengeschichtlichen Grundlagen, welche sich hinter dem Drama verbergen, sind der deutschsprachigen Aufklärung zuzuordnen und liefern ertragreiche Hilfen zum Textverständnis. Immanuel Kant definierte „Aufklärung“ folgendermaßen:
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. (Kant 1974, S. 9)
Die Definition des Königsberger Philosophen Kant ist eine der ersten und mit Sicherheit einer der bekanntesten Versuche, die Grundgedanken und Ziele der Aufklärung in Worte zu fassen (vgl. Kleßmann 2002, S. 3). Diese Erklärung allein verdeutlicht jedoch noch nicht die Beweggründe der Aufklärung. Erst durch die historische Einbettung werden die Gründe und Ursachen, die zur Entstehung der Bewegung geführt haben, verständlich und nachvollziehbar.
Der Begriff der Aufklärung, der für den Fortschritt und die Erkenntnis steht, wurde nicht zufällig als Namensgeber einer ganzen Epoche gewählt. In der Zeit vor und während der Aufklärung, im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert, prägten kriegerische Auseinandersetzungen und religiöse Konflikte die Gesellschaft. Klerus, Adel, Bürger und Bauern bildeten zu jener Zeit die stark stratifizierte Ständegesellschaft (vgl. Füssel und Weller 2005, S. 9). Diese war ein Ordnungssystem, welches nach dem Kriterium der Herkunft Menschen unterschied und einstufte. Sie sorgte dafür, dass Ständewechsel nahezu unmöglich waren. Die Rechte und Pflichten der einzelnen Stände variierten zusätzlich stark. So waren der Adel und Klerus in die Herrschaftsausübung eingebunden und von Steuerzahlungen befreit, das Bürgertum und die Bauern hingegen besaßen bei politischen Entscheidungen kein Mitbestimmungsrecht und trugen die Hauptsteuerlast. Anders als man vermuten würde, akzeptierte die überwiegende Mehrheit der Menschen diese Ungerechtigkeit aus der Annahme heraus, die Zugehörigkeit zu einem Stand sei – von der Natur und der göttlichen Bestimmung – festgelegt. Proteste oder gar Aufstände gegen den vermeintlichen Willen Gottes kamen nur selten vor (vgl. Faulstich 2011, S. 16). Die Folgen waren eine massive Abhängigkeit der Bürger und Bauern von den Ständen des Klerus und des Adels und eine damit einhergehende Unterdrückung.
Diese Form der Herrschaftsordnung und die daraus resultierende Verschärfung des sozialen Elends, beispielsweise durch Religionsund Bauernkriege, wurden von Akteuren, die sich vornehmlich aus dem akademischen Bürgertum rekrutierten, angeprangert und abgelehnt. Sie warben in Publikationen und Vorlesungen dafür, sich von den Obrigkeiten zu lösen und die manifestierten Grundhaltungen zu überdenken. Die Aufklärung war geboren und wurde in vielen Teilen Europas wirkmächtig.
Ein eindeutiger und einheitlicher Zeitpunkt für die Entstehung der europäischen Aufklärung kann nicht bezeichnet werden (vgl. Seiderer 1998, S. 22). Das liegt zum einen daran, dass die Aufklärung in den einzelnen Ländern zu unterschiedlichen Zeitpunkten einsetzte. In England konnten Tendenzen der Aufklärung früher beobachtet werden als beispielsweise in Deutschland. Zum anderen liegt es aber auch daran, dass sehr frühe aufklärerische Ideen und Vorstellungen nicht eindeutig als diese erkannt und verstanden wurden. Grundsätzlich lässt sich aber festhalten, dass im Verlauf des 18. Jahrhunderts die Aufklärung in den meisten Teilen Europas, vor allem aber in den Kernländern England, Frankreich und Deutschland, Einzug gehalten hatte (vgl. Seiderer 1998, S. 22). Nationale Besonderheiten und unterschiedliche Entwicklungszeiten prägten die Aufklärung und sorgten für ein breites Spektrum an aufklärerischen Positionen, Gedanken und Ideen. Die diversen Ansätze führten in den einzelnen Gebieten zu unterschiedlichen Ergebnissen, was wiederum dazu führte, dass die Bevölkerungen auf eine ganz unterschiedliche Art und Weise geprägt wurde (vgl. Seiderer 1998, S. 24). Gleichwohl lassen sich Merkmale herausstellen, die länderübergreifend und über die gesamte Dauer jener Epoche hinweg eine bedeutende Rolle spielten. Vertreter wie John Locke, JeanJacques Rousseau, Charles de Secondat, Baron de Montesquieu, Gotthold Ephraim Lessing, René Descartes, Gottfried Wilhelm Leibniz und Immanuel Kant, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten und an verschiedenen Orten wirkten, verfolgten alle das gleiche Ziel, und dieses hieß Erkenntnis (vgl. Seiderer 1998, S. 25).
Die Kritik der Aufklärer an der sozialen und politischen Ordnung sowie den religiösen Zwängen und Dogmen wurde durch neue Erkenntnisse auf den Gebieten der Wissenschaft und Forschung gestützt. Die Vertreter dieser Bewegung verdeutlichten, dass nicht Wunder und Schicksale das Leben beeinflussen, sondern das eigene Handeln und Nicht-Handeln den Lebensverlauf prägen. Die Pioniere der Aufklärung bezeichneten diesen Gedanken als „Vernunft“. Vernunft im Sinne der Beurteilung von Autoritäten, der Prüfung von Dogmen und der Kritik an Traditionen. Nichts sollte ohne eine kritische Auseinandersetzung akzeptiert oder für wahr empfunden werden. Die einzelne Person sollte zum Selbstdenken angeregt werden, eigene Entschlüsse fassen und sich nicht durch fremdes Urteil leiten lassen (vgl. Seiderer 1998, S. 25 ff.).
Um an Erkenntnisse zu gelangen und in der Lage zu sein, sich kritisch mit Sachverhalten auseinanderzusetzen, bedarf es eines gewissen Maßes an Bildung.
„Wissen ist Macht!“: mit diesem Satz beschrieb schon der englische Philosoph Francis Bacon den starken Einfluss der Bildung auf die eigenen Handlungsmöglichkeiten (vgl. Faulstich 2011, S. 15). Erst durch die Bildung der breiten Bevölkerung würden die Freiheit, die Mündigkeit und die Unabhängigkeit des Einzelnen möglich. So fand eine Verdrängung des Lateinischen als Schriftsprache statt, das Zeitschriftenwesen entwickelte sich und öffentliche Schulen wurden schrittweise eingerichtet (vgl. Seiderer 1998, S. 28).
Die Aufklärung begann sich im späten 18. Jahrhundert immer stärker zu politisieren. Neben den Neuerungen im Schulund Hochschulwesen strebte man Wirtschaftsreformen und Umbildungen des Rechtsystems an. So wurden unter anderem Gesetzestexte wie das Strafgesetz mit humanistischen Ideen ergänzt und weiterentwickelt. Es gab erste Ansätze und Gedanken, Verfassungen zu formulieren, die sich auf unveräußerliche Menschenrechte gründeten und stützten (vgl. Seiderer 1998, S. 31). Damit und zahlreichen weiteren Ideen war man der Zeit weit voraus. Heute gelten viele Ideen und Ansätze, die ihren Ursprung in der Aufklärung haben, als selbstverständlich. Im 18. Jahrhundert waren sie jedoch revolutionär und umstritten.
Die Aufklärung lässt sich zusammenfassen als ein gesellschaftlicher Emanzipationsprozess, dessen Wirkung bis in die Gegenwart spürbar ist. Die Grundsätze der Aufklärung wie Freiheit, Toleranz, Gleichheit und Unabhängigkeit bilden auch heute noch das Fundament zahlreicher demokratischer Verfassungen. Man denke nur an das Freiheitsrecht, die eigene Meinung frei in der Öffentlichkeit äußern und verbreiten zu dürfen (vgl. Kirchhof und Kreuter-Kirchhof 2009, S. 9). Die Anstöße und die anschließende Transformation der aufklärerischen Ideen in die Gegenwart sind aus heutiger Sicht der große Verdienst jener Epoche.