Politische Aspekte des Dramas: Das Menschenbild in Nathan der Weise
Nathan der Weise entstand, wie oben dargelegt, im Kontext einer gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung. Der Streit um den Einfluss religiöser Dogmen auf die Wissenschaft im Zusammenhang mit der aufklärerischen Säkularisierung veranlasste Lessing in den 1770er Jahren, sich mittels literarischer Veröffentlichungen für den humanistischen Toleranzgedanken einzusetzen. Damit dient Nathan der Weise nicht nur als beliebtes Beispiel der deutschsprachigen Aufklärung, welches immer wieder Einzug in die Rahmenlehrpläne des Unterrichtsfachs Deutsch hält. Auch für den Abitur-Jahrgang 2013/2014 in Brandenburg wird das Werk als Pflichtlektüre im Bereich Dramatik des Deutsch-Leistungskurses unter Bezug auf die Aufklärung benannt (vgl. MBJS 2012, S. 1). Abgesehen von der Behandlung des Dramas als Klassiker der deutschen Literatur im Deutschunterricht findet das Drama auch immer wieder Anwendung, wenn es um die Frage nach religiöser Toleranz geht. So ist besonders die Ringparabel ein fester Bestandteil von aktuellen Integrationsdebatten. Gegnerinnen und Gegner multireligiöser Gesellschaften versuchen diese zu entkräften, Befürworterinnen und Befürworter berufen sich auf die Inhalte der Parabel. Die Textstelle gilt als Destillat des aufklärerischen Textes und der damit verbundenen Weltanschauung. Dabei übernehmen die Figuren Stellvertreterpositionen für größere gesellschaftspolitische Zusammenhänge. Ihre Auseinandersetzungen können als Beispiel für ganze Gesellschaften dienen. Nathan der Weise wird dadurch zu einem politischen Lehrstück, welches auch für heutige Gesellschaften Anregungen gibt und weiterhin geben kann.
Besonders deutlich wird diese gesamtgesellschaftliche Stoßrichtung durch das aufklärerische Menschenbild, welches in das Werk eingewebt ist. Den Begriff des Menschenbildes fasst Bernhard Vogel wie folgt auf: „Menschen sind für ihre ethische Orientierung angewiesen auf ein Verständnis vom Menschen, das sowohl das Individuum als auch die Gemeinschaft umfasst und sowohl etwas über die Verfassung des Menschen (conditio humana) als auch über seine Bestimmung sagt.“ (Vogel 2006, S. 11, Hervorhebung im Orig.) Damit spricht er zwei Dimensionen an: einerseits die Frage, wie der Mensch ist und andererseits wie er sein soll. Diese Fragen wurden im Lauf der Geschichte je nach philosophischer, anthropologischer und politischer Ausrichtung unterschiedlich beantwortet. Besonders das Menschenbild der Aufklärung kann jedoch als wegweisend auch für das 21. Jahrhundert gelten. Dies zeigt der Blick auf das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (BRD), welches unten in Kapitel „William Shakespeare: Der Sturm“ eine besondere Beachtung findet.
Wie äußert sich nun dieses Menschenbild in Nathan der Weise? Die Zeit der Aufklärung war, das zeigen die Auseinandersetzungen Lessings mit dem Theologen Johann Melchior Goeze, von Konflikten um die Säkularisierung der Gesellschaft geprägt. Die Abkehr oder zumindest die Relativierung des vom christlichen Gott gegebenen Schicksals führte zu einer neuen Fokussierung auf den Menschen und dessen Wesenszüge. Dieser Aspekt spiegelt sich in Lessings Stück wider. So entgegnet Nathan Dajas und Rechas Glauben an die Rettung Rechas durch einen Engel, dass der Retter ein Mensch sei. Dies sei positiv, denn so könne sie dem eigentlichen Retter mehr danken als nur durch „seufzen, beten“ (Lessing 1983, Vs. 308). Damit stellt Nathan den naiven Engelsglauben seiner Tochter infrage und betont das besonnene Handeln eines Menschen. Er fordert seine Tochter auf, ihrem Retter, dem Tempelherren, persönlich zu danken und fügt an: „Wieviel andächtig schwärmen leichter, als/Gut handeln ist? wie gern der schlaffste Mensch/ Andächtig schwärmt […]/Um nur gut handeln nicht zu dürfen?“ (Lessing 1983, Vs. 360 f.).
Diese Äußerung Nathans nimmt bereits das Menschenbild des Dramas vorweg. Entgegen der voraufklärerischen Ansicht, dass das Folgen eines religiösen Dogmatismus nicht hinterfragbar sei und automatisch zu einer guten Gesellschaft und zur göttlichen Belohnung führt, zeigt Nathan auf, dass das Handeln des Einzelnen unter Rücksicht auf eine Reflexion des Handelns wichtiger sei. Diese Ansicht bestätigt sich ebenfalls im Gespräch mit dem Derwisch, einem guten Freund Nathans. Dieser ist in der Zeit der Reise Nathans zum Schatzmeister des Sultans geworden, was seiner religiösen Verhaftung in der muslimisch-asketischen Glaubensgemeinschaft des Sufismus widerspricht. Jedoch habe er die Aufgabe aus freien Stücken übernommen. Hierbei wird der Druck von Pflichten und Zwang angesprochen. Nathan nimmt Stellung, indem er angibt, dass ein Mensch nur das tun müsse, um was man ihn gebeten und er in einer Abwägung als richtig empfunden habe (vgl. Lessing 1983, Vs. 380 ff.). Damit zeigt er ebenfalls deutlich, dass eine bloße Pflichterfüllung, welche auf unreflektierter Hörigkeit zu (religiösen) Obrigkeiten festgesetzt wird, nicht zum guten Handeln führen kann und betont die natürlichen Freiheiten des Menschen. Diese seien nur durch die eigene Moral und Ethik begrenzt. Nathan zeigt damit, dass eine wie immer geartete Folgsamkeit nur dazu nutzt, sich nicht mit dem eigenen Handeln und dessen Folgen auseinandersetzen zu müssen.
Die Person des christlichen Patriarchen ist damit die kritischste Figur des Dramas, da er die dogmatischsten Standpunkte des Stücks vertritt. Er hat bis zum Ende des Dramas starke Vorurteile gegen Nathan und hält seine Glaubensbrüder zu widerspruchsloser Gehorsamkeit an. Hier zeigt sich die aufklärerische Prägung deutlich. Die Abkehr von der Untertanenmentalität des Volkes kann als eines der wichtigsten Ziele der Aufklärung gelten: Schließlich solle der Mensch sich selbst, so Immanuel Kant, aus seiner „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ führen: Der Vorwurf der Schwärmerei, um das eigene Handeln nicht reflektieren zu müssen, deckt sich mit Kants Äußerung, der Verstand sei existent, es fehle jedoch der Mut, ihn ohne die Leitung eines anderen zu nutzen. Damit betont Lessing die aufklärerischen, menschlichen Eigenschaften: die Fähigkeit zum reflektierten, vernünftiges Handeln sowie die Existenz einer grundsätzlichen Handlungsfreiheit, aus welcher Rechte, aber auch Verantwortlichkeiten erwachsen.
Aus diesen Informationen leiten sich bereits Anschlussstellen für den Unterricht ab. Besonders der Ethikund Religionsunterricht stellt Fragen nach Menschenbildern im Kontext verschiedener Kulturen und Religionen. Doch auch der Politikunterricht kann hier anknüpfen, da die Vorstellung vom Menschen eine Gesellschaft strukturiert und Vorgaben für politische Prozesse und die gesellschaftliche Ordnung liefert. Besonders in der Formulierung des Grundgesetzes zeigt sich die Handschrift des aufklärerischen Menschenbildes deutlich (vgl. Weißeno et al. 2010, S. 151 ff.).
Die vielbeachtete Kernstelle des Stücks, die Ringparabel, wird in ihrer Interpretation häufig unterschätzt. Die Deutung der Ringparabel als Streitschrift für die religiöse Toleranz liegt aufgrund einer textimmanenten Herangehensweise nahe. So stellt die Ringparabel die geschickte Antwort Nathans auf Saladins Frage nach der richtigen Religion dar, da Nathan eine List vermutet (vgl. Lessing 1983, Vs. 1867 ff.). Die Bedeutsamkeit religiöser Konflikte für den Verlauf des Dramas legt ebenfalls diese Interpretation nahe. Ein Blick auf die Textsorte der Parabel zeigt jedoch, dass ebenjene mehrdeutig ist. Sie verfügt über eine Bildebene sowie eine mehrdeutige Sachebene. So sind etliche Interpretationen zulässig. Diesem Umstand sollte der Unterricht Rechnung tragen. Trotzdem sind Ansatzpunkte der Religionsfreiheit und der freien Religionsausübung vor dem Hintergrund des Dramas sinnvoll. Um nicht direkt auf Saladins Frage nach der richtigen Religion antworten zu müssen, erzählt Nathan ihm die Parabel der Ringe und formuliert damit den Grundgedanken eines friedvollen Zusammenlebens der Religionen, welcher bis heute nicht an Gültigkeit verloren hat: „Wohlan! Es eifre jeder seiner unbestochnen/Von Vorurteilen freien Liebe nach!/Es strebe von euch jeder um die Wette ‚/Die Kraft des Steins in seinem Ring' an Tag/Zu legen!“ (Lessing 1983, Vs. 2041 ff.).
Das Drama zeichnet ein Umfeld, in welchem religiöse Vorurteile, Misstrauen und Missgunst das Miteinander der Religionen und der Menschen bestimmen. So versteigt sich der Tempelherr etwa in negative Gedanken über Recha und Nathan aufgrund ihrer mutmaßlichen jüdischen Herkunft (vgl. Lessing 1983, Vs. 1210 ff.). Auch die Feindschaft des Sultans gegenüber den Christen findet Ausdruck, als Nathan dem Sultan erzählt, er habe dem Tempelherren noch eine gewisse Summe zu zahlen: „Tempelherr? Du wirst doch meine schlimmsten Feinde nicht/Mit deinem Geld auch unterstützen wollen?“ (Lessing 1983, Vs. 2087 f.) In diesem Klima liegt es nahe, die Ringparabel mit der religiösen Toleranz in Verbindung zu bringen. Die Quintessenz dieses Deutungsansatzes ist, dass keine Religion die einzig wahre und gute darstellt, sondern sich der gesellschaftliche Wert der Religion alleine durch das Handeln der Gläubigen entscheidet.
Im Einklang mit dem im Folgenden näher zu betrachtenden Grundgesetz der BRD kann eine Deutung angelegt werden, welche menschliches Handeln im Allgemeinen in den Blick nimmt. So kann die Ringparabel als ein Plädoyer dafür angesehen werden, dass kein Handeln per se als richtig oder gut eingeschätzt werden kann. Vielmehr kann alles Handeln, welches im Einklang mit der menschlichen Vernunft zwischen eigenen Interessen und dem Gemeinwohl steht, gleichberechtigt als gut gelten. Dies ist eine konsequente Weiterführung des aufklärerischen Menschenbildes im weiteren Verlauf des Dramas, denn die Abkehr von Dogmen hin zu einer vernunftgeleiteten Handlungsweise wird in den Gesprächen zwischen Nathan und Recha, sowie dem Tempelherren und dem Derwisch angebahnt und findet in der Ringparabel ihren Höhepunkt. Da aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes der Ringe nicht der echte ausfindig gemacht werden kann, welcher
„vor Gott Und den Menschen angenehm“ macht, muss jeder einzelne der Söhne durch sein gutes Handeln – welches in der logischen Folge hier ebenfalls beliebt machen soll vor Gott und den Menschen – beweisen, dass er der Besitzer des Ringes ist: „Es strebe von euch jeder um die Wette ‚/Die Kraft des Steins in seinem Ring' an Tag/Zu legen!“ (Lessing 1983, Vs. 2041). Damit zeigt Nathan der Weise genau auf, welche Werte im Sinne der Aufklärung besonders etabliert werden sollen: Das Anerkennen des vernunftgeleiteten Handelns. Lessing wird auf diese Weise endgültig zum aufklärerischen „Antidogmatiker“ (Wiedemann 2010, S. 368). Damit fordert Lessing, wie im didaktischen Teil (siehe Kapitel „Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise“) erneut aufgegriffen wird, das große Ziel des Politikunterrichts: Mündigkeit.
Allerdings entwertet diese Interpretation nicht die Deutung der religiösen Toleranz. Diese Interpretation ist als eigenständig anzuerkennen, stellt jedoch auch eine Art Teilmenge der oben angesprochenen Deutung einer allgemeinen Handlungsfreiheit dar, denn das menschliche Handeln beinhaltet auch das Handeln im religiösen Kontext.
Nathan der Weise ruft außerdem dazu auf, die Menschen anhand ihres Handelns und nicht aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Religion zu messen. Nathan erläutert: „Ich weiß, wie gute Menschen denken; weiß ‚/Daß alle Länder gute Menschen tragen'. […] Verachtet/Mein Volk so sehr Ihr wollt. Wir haben beide/Uns unser Volk nicht auserlesen. Sind/Wir unser Volk? Was heißt denn Volk?/Sind Christ und Jude eher Christ und Jude‚/Als Mensch? Ah! wenn ich einen mehr in Euch/Gefunden hätte, dem es gnügt, ein Mensch/Zu heißen!'“ (Lessing 1983, Vs. 1272 ff.). Hiermit bringt Nathan seine Sorge zum Ausdruck, dass die Einordnung der Menschen nur über ihre Religionszugehörigkeit abläuft. Er zieht es stattdessen vor, Menschen nicht nur als Vertreter ihrer Religion anzusehen, sondern auch hier das individuelle Handeln als Maßstab anzulegen. Damit spricht er sich gegen Vorurteile aus. Diese Forderung kann auch auf den Umgang mit anderen gesellschaftlichen Gruppen übertragen werden, welche oft mit Vorurteilen und Diskriminierung zu kämpfen haben.
Insgesamt lässt sich sagen, dass der politische Zugang zu Nathan der Weise wenig voraussetzungsreich ist. Durch Textkenntnis sowie Kenntnis über den Begriff des Menschenbildes ist es bereits möglich, im Unterricht Themen des gesellschaftlichen Zusammenlebens anhand des Dramas zu diskutieren. Besonders die Übertragung der humanistischen Gedanken in Lessings Stück auf aktuelle gesellschaftliche Verhältnisse bietet sich im Politikunterricht an. Im Anschluss soll ein möglicher Zugang vorgestellt werden, der Konzepte des Politiksowie des Deutschunterrichts verbindet.