Das Menschenbild des Grundgesetzes
Um konkrete Vorschläge für den Unterricht machen zu können, wird im Folgenden das Menschenbild des Grundgesetzes der BRD genauer beleuchtet. Dies stellt eine notwendige Vorarbeit im Sinne einer Sachanalyse dar, um die Menschenbilder des Dramas sowie des juristischen Textes im Unterricht behandeln zu können. Das Grundgesetz bildet das Regelwerk der politischen Grundordnung in der BRD. Es beschreibt die Aufgaben und Schranken staatlicher Gewalt und legt auf diese Weise die rechtlichen Positionen der Bürgerinnen und Bürger fest (vgl. Pieroth und Schlink 2009, S. 12 ff.). Die Rechtsordnung des Grundgesetzes kann ferner als ein Wertesystem bzw. als eine Werteordnung verstanden werden, die in ihrem Rang über allen anderen deutschen Rechtsnormen anzusehen ist (vgl. Linn und Schreiner 2009, S. 77 f.). Gleichzeitig – und hier wurden die Lehren aus der Zeit des Nationalsozialismus und der Weimarer Republik gezogen – geht es im Grundgesetz um die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und um die Verhinderung von Machtmissbrauch und Grenzverletzung. Das Bundesverfassungsgericht äußert sich zu diesem Gedanken wie folgt:
Die Rechtsordnung des Grundgesetzes ist zwar in religiös-weltanschaulicher Hinsicht neutral. Dies darf jedoch nicht mit Wertneutralität verwechselt werden. Das Grundgesetz ist keine wertneutrale Ordnung. Mit den Grundrechten hat es eine Wertordnung erreicht, in deren Mittelpunkt die sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft freientfaltende Persönlichkeit mit ihrer Würde steht. (Baldus und Muckel 2004, S. 10)
Das Zitat spricht die grundlegenden Aspekte des Grundgesetzes an. Insbesondere die Aussage, dass das Grundgesetz religiös und damit weltanschaulich neutral, nicht aber wertneutral ist, muss an dieser Stelle noch einmal hervorgehoben werden. Der Sinn und die Bedeutung dieses Satzes haben umfassende Folgen im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und wirken sich stark auf diese aus. So leitet sich aus jenem Gedanken das schon angesprochene Wertesystem ab, in dessen Mittelpunkt die Wahrung und Sicherung der Menschenwürde steht. In Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ (Kirchhof und KreuterKirchhof 2009, S. 8). Ein Aspekt, der unmittelbar bei der ersten Betrachtung des Artikels augenscheinlich wird, ist der Abwehrcharakter und das Abwehrrecht des Bürgers gegen den Staat. So ist sämtliche Staatsgewalt dazu verpflichtet, die Menschenwürde auf allen Ebenen und in allen Institutionen zu wahren und zu achten (vgl. Dörr 2004, S. 8). Unabhängig von den Eigenschaften einer Person, dem sozialen Status eines Menschen oder der körperlichen und geistigen Verfassung wird durch das Grundgesetz jedem Menschen die gleiche Würde zuteil. Eigenwert und Eigenständigkeit des Einzelnen werden so gewahrt und gleichzeitig von staatlicher Seite geschützt (vgl. Spindler 2010, S. 3).
Was bei der Erklärung des Artikels zum Recht auf Menschenwürde darüber hinaus hervorsticht, ist der Begriff der Unantastbarkeit. Anders als andere Grundrechte kann das Recht auf Menschenwürde nicht in seinem Inhalt abgeändert oder gar aufgehoben werden. Das Recht auf Menschwürde unterliegt der Ewigkeitsklausel und verhilft dem Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes im Rahmen der Verfassung zu einer Sonderstellung. Gleichzeitig untermauert die Klausel eindrucksvoll, dass es sich bei dem Recht auf Menschwürde um die Grundlage der deutschen Verfassung handelt und dieses Recht folgerichtig geschützt werden muss (vgl. Dörr 2004, S. 11). Diese Sicherstellung der Menschenwürde wurde bereits als Ausgangspunkt für die Werteordnung identifiziert. Im Artikel 1 Absatz 2 wird diese Aussage noch einmal gestützt und darauf verwiesen, dass weitere Grundrechte, den Aspekt der Menschwürde konkretisieren (vgl. Dörr 2004, S. 4). So heißt es: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft […].“ (Kirchhof und KreuterKirchhof 2009, S. 8).
Ein Wert, der an mehreren Stellen des Grundgesetzes und insbesondere im Rahmen der Grundrechte konzentriert genannt wird, ist das Recht auf Freiheit. Wie der Name bereits andeutet, garantiert dieses die Freiheit des Einzelnen. So hat der Mensch ein Anrecht auf freie Persönlichkeitsentfaltung, er hat das Recht auf freie Meinungsäußerung in der Öffentlichkeit und die Berechtigung, sich öffentlich versammeln zu dürfen, ohne dafür Repressalien befürchten zu müssen. Auch steht es dem Einzelnen frei, zu welcher Religion er sich bekennt, welchen Beruf er wählt oder welche Art von Verein er gründet (vgl. Kirchhof und Kreuter-Kirchhof 2009, S. 8 f.). Die ausgewählten Beispiele verdeutlichen, wie das Recht auf Menschenwürde mit dem Begriff der Freiheit inhaltlich vom Verfassungsrecht verstanden wird. Da jedoch die Freiheit des Einzelnen nicht die Unterdrückung des Anderen bedeuten darf, besteht die Pflicht eines jeden Menschen, die Rechte des anderen Menschen zu achten. So heißt es im Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt […].“ (Kirchhof und Kreuter-Kirchhof 2009, S. 8) Entsprechend agiert der Mensch im Rahmen der von der Gemeinschaft festgelegten und im Grundgesetz festgehaltenen Grenzen und nur in diesen Grenzen, als freie und selbstbestimmte Persönlichkeit (vgl. Pieroth und Schlink 2009, S. 91).
Neben dem Recht auf Freiheit nimmt das Recht auf Gleichheit eine weitere gewichtige Rolle im Grundgesetz ein. Dieses garantiert die Gleichbehandlung aller Menschen. Unabhängig von dem Geschlecht, der Religion, der Sprache oder der Herkunft einer Person darf diese nicht ausgegrenzt oder benachteiligt werden. Auch hier findet sich in Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes eine passende Erklärung. So heißt es: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ (Art. 3 Abs. 1 GG). Und weiter heißt es:
Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. (Art. 3 Abs. 1 GG.)
Demnach bezieht sich die Freiheit des Einzelnen mit dem Recht der freien Gestaltung seiner persönlichen Umwelt nicht nur auf einen bestimmten Personenkreis, sondern das Recht auf Freiheit wird jedem Menschen zugesprochen. Der Mensch wird vom Grundgesetz gewissermaßen als Gleicher unter Gleichen gesehen (vgl. Spindler 2010, S. 5).
Da der Mensch in der Regel kein beziehungsloser Einzelgänger ist, sondern nach Gruppenzugehörigkeit und Gemeinschaft strebt, wird auch dieser Aspekt von der deutschen Verfassung berücksichtigt. So lassen sich in den verschiedenen Artikeln des Grundgesetzes Beispiele finden, in denen der Mensch als Mitglied einer Gemeinschaft bewertet wird (vgl. Spindler 2010, S. 6) – ob als Mitglied einer Glaubensgemeinschaft (vgl. Art. 4 Abs. 1 GG), als Familienmitglied (vgl. Art. 6 Abs. 1 GG) oder als Vereinsmitglied (vgl. Art. 9 Abs. 1 GG). Das Grundgesetz erkennt aber immer auch den Wert des Gemeinwohls an und berücksichtigt dieses in seinen Verfassungsgrundsätzen (vgl. Kirchhof und Kreuter-Kirchhof 2009, S. 9 f.). Das Grundgesetz schafft damit den Spagat zwischen den Interessen und Werten des Individuums und den Interessen und Werten der Gemeinschaft, ohne dabei den Eigenwert des Einzelnen zu berühren oder gar zu verletzen. Zwar müsse der Einzelne durch die Förderung und Sicherstellung des sozialen Zusammenlebens mit Einschränkungen bzw. mit einer Beschränkung der eigenen Handlungsfreiheit rechnen, die Eigenständigkeit der Person wird dadurch jedoch nicht entscheidend berührt (vgl. Spindler 2010, S. 6).
Damit ein Staat wie Deutschland als Gemeinwesen funktionieren und agieren kann, müssen neben den zahlreichen Rechten auch Pflichten für die Bürgerinnen und Bürger vorhanden sein. So heißt es im Grundgesetzes: „Jeder Deutsche hat in jedem Lande die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“ (Art 33. Abs. 1 GG). Unklar bleibt jedoch, welche Pflichten das Grundgesetz konkret für den Staatsbürger vorsieht. Zwar werden vereinzelt Pflichten wie die Pflege und Erziehung der eigenen Kinder (vgl. Art. 6 Abs. 2 GG) oder die Pflicht zur Verfassungstreue des Berufsbeamtentums (vgl. Art. 33 Abs. 5 GG) genannt, die Bezeichnung der „Grundpflicht“ fällt in diesem Zusammenhang allerdings nicht (vgl. Kirchhof und Kreuter-Kirchhof 2009, S. 9, 20). Stellt sich die Frage, warum Grundpflichten, anders als die Grundrechte, nicht im Grundgesetz aufgenommen werden? In der Literatur geht man davon aus, dass ein Grundgesetz, was aus einem Katalog verbindlicher Grundpflichten bestünde, dem demokratischen Leitgedanken dieser Verfassung nicht entsprechen und zum Teil sogar widersprechen würde (vgl. Pötzsch 2009, S. 21). In einer Demokratie zu leben heiße nämlich auch immer Verantwortung zu übernehmen. So sei jeder Einzelne angesprochen, wenn es darum gehe, seinen Pflichten gegenüber der Gemeinschaft nachzukommen, ohne dass diese explizit im Grundgesetz festgehalten werden (vgl. Pötzsch 2009, S. 21). Dies schlage sich beispielsweise im Fehlen einer Wahlpflicht wieder. Es bestehe „allenfalls eine ‚demokratisch-moralische' Wahlpflicht“ (Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages 2009, S. 1). Im Idealfall bilden die Rechte und Pflichten
der Bürgerinnen und Bürger eine Einheit und sichern damit den Fortbestand der demokratischen Rechtsstaatlichkeit (vgl. Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages 2009, S. 1).
Das Grundgesetz legt, wie zuvor beschrieben, Standards für das gemeinschaftliche Zusammenleben in der BRD fest. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass an dieser Stelle das Menschenbild betrachtet wird, muss darauf verwiesen werden, dass diese Standards – in Form von Verfassungsgrundsätzen – ausschließlich Mindeststandards darstellen. Diese dürfen zwar nicht unterschritten, aber jederzeit übertroffen werden (vgl. Spindler 2010, S. 16 f.). Der Einzelne sollte also nicht nur danach fragen, ob ein Sachverhalt als rechtmäßig oder umsetzbar anzusehen ist, sondern er sollte sich auch die Frage stellen, ob dieser seiner und unserer angemessen ist (vgl. Spindler 2010, S. 17).