Cogito als „Ich kann“ bei Husserl
Die Phänomenologie hütet sich bekannterweise vor Letztbegründungen, denn ihre Problematik besteht in der Deskription des Erscheinenden, des Näheren in der direkten Aufweisung des originären Wie des Erscheinens als solchem. Ist nun der KönnensModus der inneren Lebenspraxis daher nur einer unter vielen anderen oder führt er in jene Urregion, die mit dem unmittelbaren Leisten der transzendentalen Subjektivität ohneObjektverfremdungselbstidentischist,wiedieidealistischeBewusstseinsanalyse dies prinzipiell intendierte? Solange das Können als ein Motivieren und Agieren mit Bezug zur Weltwahrnehmung allein hin gesehen wird, begleitet es sicher alles Tun, da kein Handeln denkbar wäre, wenn es nicht von der aktiven Überzeugung seines konkreten Möglichseins getragen und stellungnehmend vom wachen Bewusstsein angeregt würde. Die Potenzialität gehört somit unfehlbar zum Horizont jeder Erlebnisbeschreibung, aber eine Potenzialität muss selbst wiederum in ihrer Ermöglichung möglich sein; das heißt, sie verweist auf eine materiale oder affektive Wesensstruktur, die apodiktisch das Können in sich schließt. Oder anders gesagt ergibt sich aus der Tatsache vielfältiger Wahrnehmungsverwirklichungen, die der Welthorizont offen lässt, noch nicht, dass ein darauf bezogenes „Ich kann“ als Verwirklichungsspielraum auch in sich das „Ich“ an das „Kann“ mit innerer Notwendigkeit bindet. Ist also das Ich nur ein Können, weil es intentional weltbezogen ist, oder ist es dieses Können auch auf absolut immanente Weise?
In seinen programmatischen „Cartesianischen Meditationen“ kommt Husserl42 in zweifacher Hinsicht auf dieses Ich-kann zu sprechen. Zum einen bezieht er es auf die „stetige Protention“ möglicher Erfüllungsinhalte der Anschauung (§ 19) und zum anderen verlegt er es in die organisch-eigenheitliche Leibsphäre mit ihren Kinästhesen (§ 44). Von vornherein ist damit wiederum entschieden, was die husserlsche Phänomenologie insgesamt kennzeichnet und belastet, nämlich die radikale Endlichkeit des Ich-kann in seiner Übereignung an die Unbegrenzbarkeit der ekstatischen Erlebnisse. In keinem derselben ergriffe dieses Können sich selbst, sondern es wird von einem „Es gibt“ zum anderen weiter verwiesen, so dass seine phänomenologische Grundstruktur ähnlich wie die idealistische „Hervorbringung“ oder „Objektivierung“ nur den Verweisungscharakter des transzendenten Horizonts selbst in sich abbildet, ohne den Anspruch auf ein eigenes Sein zu stellen.
Verfolgen wir die einzelnen Schritte genauer, die mit diesem Ich-kann verbunden sind. Da jedes Erlebnis einen intentional sich verändernden Horizont der Verweisung kennt, besitzt jede cogitatio in ihrer Bewusstseinsaktualität Potenzialitäten, die zwar vom Ich noch als Möglichkeiten zu verwirklichen sind, aber inhaltlich bereits vorgegeben und strukturiert auftreten. Das Paradigma dazu entlehnt Husserl der alltäglichsten Wahrnehmung, nämlich der gegenständlichen Perzeption, die unanschauliche Seiten eines jeden lebensweltlich vertrauten Objekts antizipierend mitmeint, wodurch jede Wahrnehmungsphase in unaufhörlicher Protention neuen Sinn erschließt. Vermehrt werden diese Wahrnehmungspotenzialitäten noch durch den Umstand, dass die Wahrnehmung als Bewegungsgeschehen einen Wechsel von Standort und Perspektive realisiert, der nochmals neue Horizonte von perzeptiven Möglichkeiten eröffnet, so wenn ich beispielsweise die Augen hebe oder senke. Hinzu tritt der weitere Leibfaktor, denn außer der Protention gehört zu jeder Wahrnehmung ein „Vergangenheitshorizont“, so dass mit der Erinnerung die Möglichkeit erscheint, dass es faktisch ein anderes Sehen hätte geben können als das damals verwirklichte. Diese Potenzialität an Wiedererinnerungen mit ihrer Anschaulichkeitsvarietät lässt sich bis zur aktuellen Wahrnehmung wiederaufgreifen, so dass räumlich wie zeitlich sich ein Universum des Könnens auftut, das als Horizont vorgezeichneter Potenzialitäten die Potenzialitäten des transzendentalen Bewusstseinslebens selbst enthüllt.
Husserl sagt: „Hier überall spielt in diese Möglichkeiten hinein ein Ich kann und Ich tue bzw. Ich kann anders als ich tue – im Übrigen unbeschadet der stets offen möglichen Hemmungen dieser wie jeder Freiheit.“44 Anstatt nun aber zu fragen, was der Grund dafür ist, dass es überhaupt ein Können gibt, das sozusagen archaischer als die faktische Freiheit als solche ist, wendet sich Husserl von diesem offensichtlichen Apriori des Bewusstseins als Leben ab, um sich ausschließlich der für ihn allein bedeutsamen Frage nach der Konstitution des „gegenständlichen Sinns“ zuzuwenden. Das heißt, die aktuelle reale cogitatio wird zugunsten des cogitatum geopfert, welches nie als ein fertig Gegebenes vorstellig wird, sondern sich in der Horizontauslegung mit ihren zusätzlichen Horizontveränderungen klärt. Die Unabgeschlossenheit der Bestimmung der cogitata ist als „Offenlassen“ aber eben nicht nur „ein im jeweiligen Bewusstsein selbst beschlossenes Moment“, sondern „eben das, was den Horizont ausmacht“.
Deutlicher kann nicht gesagt werden, dass hier Leben identisch mit Weltsein ist und das Ich-kann im Grunde nichts anderes als die Transzendenz selbst bezeichnet. Solche Phänomenalität des Ich-kann, von der Heideggers Dasein im Übrigen nur eine weitere Variante sein wird, wenn er dieses Ich-kann als die „existente Existenz“, als „Sich-Vorweg in die Zukunft ausgerichtet“ oder als „Sorge“ bestimmt, lässt nicht einmal die entscheidende Frage aufkommen, ob sich „Leben“ nicht grundsätzlich unterschiedlich von Welt phänomenalisiert, so dass für das Ich-kann eine andere Wesenseidetik subjektiver Narrativität notwendig wäre als die der Weltobjekte. Dass das Ich-kann als posse sich nicht im Welthorizont wie ein Gegenstand zeigen und auslegen kann, es keine Seiten besitzt, die sowohl anschaulich wie unanschaulich sein können, liegt daran, dass solches Können stets ganz im Besitz seiner selbst sein muss, um ein possum sein zu können. Was Husserls sonst so scharfem phänomenologischen Blick entgeht, ist die Selbstermöglichung des Könnens als Identität von eigener Rezeptivität und Erprobung. Das heißt, es gibt nicht nur die praktische, modale und logische Möglichkeit als Weisen des intentionalen Seinkönnens, sondern es gibt vor allem dieses Können als sein „Sein“ selbst, und zwar so, wie sich die Potenzialität an sich selbst gibt, um in diesem Selbstempfang die Erprobung ihres eigenen rezeptiven Vermögens zu sein.
Damit ist bereits der zweite Punkt der Auseinandersetzung mit Husserl erreicht. Das Können verweist nicht originär über die cogitatio hinaus in die Sinnhorizontalität des cogitatum hinein, sondern es liegt nahe, dass die reale cogitatio als lebendiger Bewusstseinsvollzug in sich ein Können birgt bzw. selbst ist, das ontologisch Ursprünglicheres offenbart als die Wahrnehmungspotenzialitäten. Wenn solches Ich-kann sogar früher und weiter als die tatsächlichen Freiheitsakte ist, wie schon gesagt wurde, dann erschöpft eben auch die „Horizontintentionalität“ nicht das Wesen dieses Könnens. Kein Gegenstand im Sinne konstituierter Gegenständlichkeit ist jemals das Können selbst, so dass die „noetische Intentionalität“, für die der gegenständliche Identitätspol als Index von „vorgemeintem und zu verwirklichendem Sinn“ fungiert, keineswegs das Ich-kann erschöpft. Die Intentionalität ist nur ein anderer Name für die Transzendenz, so wie Bewusstsein schon als eine andere Bezeichnung für Horizontoffenheit auftauchte. Denn die „Konkretheit der Forschung“, auf die Husserl abhebt, meint keineswegs die Substantialität der cogitatio in ihrer Ego-Realität – das, was das Ich als Können überhaupt begründet –, sondern konkret sind für Husserl nur die „erfüllende Näherbestimmung und evtl. Andersbestimmung“, mit der die antizipierende bloße Auffassung von Wahrnehmungsgegenständen noematisch determiniert wird. Die Überführung der anschaulichen Unbestimmtheit in ihre korrespondierende Strukturbedingung der Bestimmtheit (dass es sich zum Beispiel um unsichtige Seiten eines Würfels hier oder da in seiner Sonderheit handelt), ist Aktualisierung von Potenzialität, die das „intentionale Leben“ – wie es in der Überschrift dieses § 19 der „Cartesischen Meditationen“ heißt – nicht grundsätzlich aus dem Bereich der vor stelligen Vergegenwärtigungen und Gegenwärtigungen hinausführt, so wie überhaupt eben Möglichkeit für Husserl weitgehend Wahrnehmungsmöglichkeit als Antizipation meint.46
Verlassen wird nur die antizipierende Repräsentation, aber die an schauliche Erfüllung ist nicht minder eine Re präsentation in der Sphäre noetischer Irrealität, so dass die Unterscheidung von Vermeintem, Mitgegebenem und tatsächlich Geschautem hinfällig wird. Führt aber keine Intentionalität über Vor stelliges hinaus, und ist das Ich-kann eben kein Weltgegenstand, so fällt es auch nicht unter den Repräsentationsanspruch der Vorstellung, wie er seit Kant vorherrscht. Es bleibt mithin nur die Möglichkeit, das Ich-kann, soll es von originärer Apodiktizität sein, mit dem seinerseits un(an)sichtigen Leben selbst zu identifizieren. Hat Husserl diese Lösungsmöglichkeit ergriffen, als er bei seiner Leibdeskription auf das Ichkann des leiblich lebendigen Handelns stieß? Oder entgeht ihm zum dritten Mal das Eigenwesen des posse, weil er den Leib gleichfalls unter die analogisierende Wahrnehmungsphänomenalität der Ekstase subsumierte, anstatt die wirkliche Differenz zwischen Leiblichkeit und Gegenständlichkeit anzuerkennen? Denn wenn die Welt die Selbstergreifung des Könnens als Auto-Potenzialität nicht bergen kann, wie schon Hume47 durch seine Kausalitätskritik realer connexion indirekt zu verstehen gab, dann wäre an sich der Leib, der immer Ego-Subjekt ist, jener „Ort“, wo sich Können als Leben in sich und durch sich selbst offenbart.
Zwar bleibt für Husserl in einer von aller Fremderfahrung gereinigten eigenheitlichen „Natur“ meiner Egosphäre nur mein Leib übrig, der gerade nicht im Unterschied zu allen übrigen Gegenständen „bloßer Körper“ ist, und es wird auch anerkannt, dass „ich in [diesem Leib] unmittelbar schalte und walte“. Aber diese Immanenz wie diese Unmittelbarkeit besteht nur in Bezug auf Empfindungsfelder wie Tasten und Wärme/Kälte, die erfahrungsmäßig gegeben sind, oder als Kinästhesen, die ich wahrnehme: „Ich nehme mit den Händen kinästhetisch tastend, mit den Augen ebenso suchend usw. wahr und kann jederzeit so wahrnehmen, wobei diese Kinästhesen der Organe im Ich tue verlaufen und meinem Ich kann unterstehen.“49 Das heißt, das Können erschließt sich hier als raumzeitliche Bewegung, die organisch bedingt auftritt; bereits ver äußerlichtes, behaviorales Ausdrucksgeschehen ist, das offen lässt, wie Tasten oder Gehen in sich selbst Potenzialität sind. Entscheidend ist letztlich für die Phänomenologie des Könnens also nicht, dass die Bewegung „ins Spiel gesetzt wird“, was zur physiologischen Ursachenerklärung gehören würde, sondern wie es kommt, dass in der Leibbewegung sozusagen ein unmittelbar praktisches „Wissen“ am Werk ist, das sich selbst in seiner Möglichkeit schon lange erkannt hat, bevor es von außen wahrnehmbare Handlungen ausübt. Wie wäre sonst zu erklären – will man nicht auf ein konstruiertes organisches „Gedächtnis“ zurückgreifen, dass die Wahrnehmungskinästhesen jederzeit wiederholbar sind? Wiederholbarkeit ist nur da möglich, wo Selbstbesitz vorliegt, der schon Leib ist, bevor die Leiblichkeit von außen erfahren wird und sich in der sowie für die Evidenziteration intentionaler Wahrnehmungserfüllung „praktisch bewährt“. Denn um den Leib als solchen zu erfahren, bedarf es des Leibes selbst; das heißt, das „Ich kann“ ist die Ursprungsleiblichkeit als solche, in ihrem
„Kern“, wie Husserl sagen würde, bevor der Leib in der Welt oder in der Eigenheitssphäre erscheint.50
Was Husserl daran hindert, diese immanente Wesenskorrelation von Leib und Können als Urphänomenalisierung des Erscheinens selbst zu fassen, da eben ohne lebendiges Sehen keinerlei Schau und somit kein intentional Gegebenes wäre, beruht in der theoretisch-reflexiven Hypostase des „Ich kann“. Er sagt: „Die Kinästhesen unterstehen meinem Ich kann.“ Damit sind Bewegung und Leib nicht identisch als Potenzialität überhaupt, sondern das Können bildet wieder jenen transzendent übergeordneten Vorstellungsraum, in dem die Bewegungen als mir möglich erscheinende sich manifestieren. Da bei Husserl auszuschließen ist, dass er unter diesem regulativen posse eine bloß vitalistisch unbestimmte Kraft meint, sondern eben einen Erscheinungsmodus phänomenologischer Natur, er andererseits aber als Phänomenalität nur vorstellige und erfüllte (Wesens-)Anschauung kennt, bleibt dieses „Ich kann“ bei aller Leibinkarnation dem reflexiven Apriori seiner Bewusstseinsphänomenologie unterworfen. Ein Beweis dafür ist weiterhin, dass sein Handlungsbegriff ebenfalls nur intuitiv-repräsentatitiv ist, wenn er schreibt:
„Wahrnehmend tätig erfahre ich (oder kann ich erfahren) alle Natur, darunter die Handeln ist hier nicht die subjektive Praxis der Individuen in ihrem je unverwechselbar innernarrativen Können, im Leiden und in der Anstrengung, die nur die jeweiligen Individuen so in ihrer absoluten Innerlichkeit oder Narrativität kennen, obwohl Husserl bis in die „Krisis“-Schrift hinein nicht von der Setzung eines solchen apodiktischen Ich abrückt,52 sondern das teleologische Agieren auf die Außenwelt zu. Wenn die gesamte Natur einschließlich eigener Leiblichkeit derart im Modus des Könnens als Behandeln-Können erscheint, dann ist dieses Können selbst fremdbestimmt, denn es offenbart seine Potenzialität im Erscheinen dieser Außenrealität und nicht zuerst in sich selbst, wie fragwürdig auch der Wirklichkeitscharakter der Welt durch die unaufhebbare Modalisierung als antizipierte Möglichkeit ist, da die Erfüllung jederzeit „gehemmt“ werden kann und es keine Garantie eines Erfahrungsfortgangs (wie schon bei Hume) gibt.53
Der Primat der Schau, der so fundamental auf der husserlschen Phänomenologie lastet, kehrt folglich trotz der ontologischen Fragilität der Welt hier in der Objektivierung des Handelns durch dessen Theoretisierung mittels umfassender Weltverweisung wieder. Ob als Wahrnehmung oder als Handlung: das „Ich kann“ kennt als letzte Bestimmung in dieser klassischen Phänomenologie nur die Dimensionalität des Horizonts. Gewiss bleibt all dies in die „Leistung“ des transzendentalen Ego eingebettet, aber diese Leistung ist nicht die Primordialität der „lebendigen Gegenwart“ selber, wo sich die cogitatio in der Grundstruktur des zur narrativen Selbstaffektion fähigen Lebens zeigt, worin dessen eigentliches Können offen gelegt wird, sondern diese husserlsche „Leistung“ ist durch die Weltkonstitution als Ziel der subjektiven Selbstexplikation definiert: „Die Phänomenologie ist eo ipso transzendentaler Idealismus […], in Form systematisch egologischer Wissenschaft konsequent durchgeführte Selbstauslegung meines ego als Subjektes jeder möglichen Erkenntnis, und zwar in Hinsicht auf jeden Sinn von Seiendem, mit dem es für mich, das ego, eben soll Sinn haben können.“54 Ist jedoch das „Ich kann“ originärer als Sinn und Welt im Horizont ekstatischen Erscheinens, da es dieses allzumal „begleitet“, dann muss dieses Können seine Selbstoffenbarung diesseits aller onta/cogitata verwirklichen. Gibt es also einen phänomenologischen Weg dahin – einen Weg, der nichts anderes als „die Sache selbst“ des „originären Wie“ wäre? Wie offenbart sich reines Können als solches, in sich, in seiner EgoImmanenz, bevor es zur Welterscheinung wird – das heißt, nicht an Zeichen seines äußeren Tuns abgelesen wird, sondern in seinem narrativen Wesen, selbst zu können?