Die Leiblichkeit als Erneuerungsgrundlage des Denkens

Dabei ist die Spannung zwischen Idealismus und Empirismus noch innerhalb der Phänomenologie nicht unbewusst übergangen, weil die Übereinstimmung der immanenten Struktur des Lebens mit der weltlichen Praxis der Individuen über eine Phänomenalisierung verläuft, wo der eigene Leib als „Ich kann“ von vornherein ein lebendiger Leib ist, dessen radikal phänomenologische Materialität jegliche Widerständigkeit im Berühren als Gegenüber im Sinne der transzendenten Gegenständlichkeit relational ermöglicht. Herrscht nämlich eine Unmittelbarkeit zwischen innerem Wollen und Bewegen als Einheit des Sich-Selbst-Bewegens der Subjektivität vor, dann fallen auch bereits Apperzeption und Erfahrung in jeder Hinsicht zusammen, da jede Ego-Intentionalität mit der Entfaltung des absoluten Leibes als radikale Immanenz im Sinne einer Transparenz identisch ist, die nicht mehr vom vorstellenden Blick abhängt, sondern allein vom Vollzug des ausgeübten Könnens als subjektiver Praxis. Solche Apperzeption ist daher nicht länger von der Reflexion her zu beurteilen, sondern jeder Vollzug ist eine lebendige Reflexionsform im Sinne einer leiblichen Einheit, die jeder Trennung von praktischer Apperzeption und theoretischer Reflexivität vorausliegt. Anders gesagt ist alles Konstituierte im absoluten Leib gegeben, ohne darin als eine fertige oder statische Substanz zu ruhen, da die unsichtbare Affektivität dieses Leibes Immanenz und Transzendenz dergestalt miteinander immer schon vereint, dass jede Relation die Manifestation eines Ur-Pathos darstellt, welches sich von der Immanenz bis hin zur höchsten Wahrnehmung oder abstraktesten Sprache erstreckt. Ein bloß empirisch gesehener Raum, in dem sich die Dinge real oder horizonthaft ausdehnten, wie es die klassische Philosophie in ihrem prinzipiellen Gegenüber von Denken und Welt setzt, ist rein lebensphänomenologisch überholt von der Koinzidenz zwischen ursprünglicher Leiboder Affekterfahrung und Welthaftigkeit in all ihren Formen. Das ständig affizierende „Wort“ dieser Koinzidenz ist jene Narrativität, welche sich durch alle Erfahrung als notwendiges Sich-Erfahren zieht, was unsere Untersuchung zeigen sollte.

Nach dem kartesischen Dualismus der Substanzen ist vor allem auch die mechanistisch-kausale Sichtweise der transzendentalen Analyse Kants hierbei überwunden, der dem Reflexionsurteil auch die Hauptrolle in Anthropologie und Kunst zusprach und in einem ebenfalls teleologischen Rahmen zwischen Endlich/ Unendlich sowie Sinnlich/Übersinnlich differenzierte. Natürlich geht es uns nicht darum, dass analytische Urteil für seinen Bereich in Frage zu stellen, sondern sich entschiedener der Seinsphänomenalisierung als solcher in ihrer affektiven Grundgegebenheit zuzuwenden als der äußeren Zuordnung von Idealität und empirischer Kausalität mit Hilfe der Anschauung. Das pathische Gewebe der reinen Phänomenalität als ursprüngliche Materialität allen Erscheinens bezeichnet nämlich eine prinzipiell nicht-begriffliche Seinswerdung, sofern sie die absolut immanente Sphäre des Lebens als apriorische Bedingung des Seins betrifft. Dies lässt von einer vor-ontologischen wie vor-organischen (empirischen) Intensität sprechen, welche die immanente Narrativität als einen unmittelbaren Bezug zum rein phänomenologischen Leben versteht, woraus sich auch wichtige Impulse für eine erneuerte Psychoanalyse – und damit Therapie – einschließlich ihres heutigen kulturellen Kontextes überhaupt ergeben. Denn auch die Psychoanalyse (wie Psychiatrie) basiert auf einem metaphysischen Dualismus des Denkens, welcher das Leben in einer Bipolarität fixiert, die zwar das „Unbewusste“ kennt, es aber einem „Bild“ des Körpers im Sinne einer gedachten Spannung oder Störung zuordnet, die der vorstellenden Deutung harrt, wie maßgeblich etwa auch immer der Ödipus-Komplex im Einzelnen gesehen wird. Für einen solchen biologisch-psychologischen Bereich kann daher korrigierend festgehalten werden, dass natürlich nicht die Organunterteilung des Körpers bis in die chemisch-physikalische Struktur hinein als solche anzuzweifeln ist, sondern der Organismus als ausschließlicher Raum der Entfaltung des Leiblichen mit angeblich letztlich wissenschaftlich bestimmbaren Formen und hierarchischen Funktionen. Eine Angstkrise ist noch keine schizophrene Pathologie, sondern sollte zunächst als unmittelbare Offenbarung des radikal individuierten Lebens selbst verstanden werden, wodurch sich für uns besonders Affinitäten zur Narrativität der Kunst als Roman letzthin ergaben.

Auch wenn die Frage des Zusammenhangs von Idealismus/Empirismus – und damit eines nachfolgenden kritischen Dekonstruktivismus – grundsätzlich phänomenologisch revolutioniert werden kann, so bleibt oft die Skepsis hinsichtlich des individuellen bzw. personalen Charakters einer absoluten Existenz des Ego als Leiblichkeit bestehen. Damit wird meist auch der Bezug zu einem absolut-göttlichen Leben bzw. die scheinbare Abhängigkeit von einer christlichen Tradition negativ beurteilt, da angeblich die Einbettung des aktiven „Ich kann“ in eine passabel vorausgehende Subjektivität als Ipseität ein solches Ego derart überborde, dass der Exzess dieser Ursprünglichkeit als „Ur-Fleisch“ eben keine „Selbst-Konstitution“ mehr zulasse. Im Rahmen einer Radikalisierung gegenwärtiger Phänomenologie kann dann noch zugestanden werden, dass Lebendigsein und intensive Materialität des Lebens unauflösbar seien und eine formale Koinzidenz zwischen solcher Selbstaffektion und der intentionalen Selbstkonstitution bestehe, es also weder Ego noch Subjekt außerhalb des Leibes gebe, aber die Individuierung eines solchen lebendigen Leibes verlagere dann die Problematik des „Subjekts“ auf die „Individuierung des Lebendigen im Anonymat der Leiblichkeit“ hin.1 Individuierung und Anonymat schließen sich jedoch grundsätzlich aus, sodass wir die Narrativität durch unsere ganze Untersuchung hindurch nicht nur als die lebendige Mächtigkeit der Bewegung der Subjektivität in ihrer immanenten Affektivität sowie auch in ihrer intentionalen Weltentfaltung verstanden haben, sondern auch als die Ur-Individuierung im absoluten Leben als solchem. Ein theoretisch verbleibender Blick auf eine anonyme Vorgängigkeit des transzendental fundierenden Lebens schlechthin scheint uns eine der letzten mentalen Vorbehalte jenes reflexiven Rationalismus als Erbe der husserlschen Noese/Noematik-Korrelation und ihrer historischen Vorläufer zu sein, der sich nicht eingestehen will, dass etwas „Anonymes“ nur vor dem wissen-wollenden Blick erscheinen kann, nicht aber in einem praktischen Vollzug, der stets ein ich-bestimmter ist, auch wenn dieses „Ich“ genauer als passibles „Mich“ zu fassen ist.

Soll das Anonyme nicht länger als Variante der Problematik des (vital) Irrationalen gesehen werden, mit der jede strenge Lebensanalytik kritisiert wird, dann bleibt eben nicht nur auf das Eingebettetsein aller Bezüge von Welt und Anderen in die Duplizität des Erscheinens von Welt/Leben hinzuweisen. Vielmehr geht dieser Duplizität eine Einheit voraus, welche das sich-selbst-ermächtigende Prinzip des Lebens als „Selbstgeburt“ durch das Ankünftigwerden seiner selbst in sich und für sich ist. Wird dieses Prinzip von Michel Henry „Gott“ oder „Wort des Lebens“ genannt, dann ist damit nur angedeutet, dass eine hermeneutische Verständigung mit früheren ontologisch-metaphysischen Fragestellungen nicht ausgeschlossen ist, aber diese Konzeptualisierung des Lebens als „göttliches“ bedeutet keine Aufgabe der Radikalität der leiblichen Originalität im Sinne einer Unterordnung unter ihr fremde Kategorien, seien sie abstrakt oder theologisch. Die Individuierung des einzelnen Lebens betrifft dessen „Anfang“ selbst, weshalb für eine Ur-Ipseität als immanentes Werdensprinzip des absoluten Lebens selbst zu plädieren bleibt, weil sonst die Anonymität der subjektiven Lebensbestimmung innerhalb der leiblichen Affektivität höchstens zu einer „Ethik“ als wesenhafter Struktur im Bereich und Verlauf der Erfahrung der Leiblichkeit hinführt, das heißt, als verantwortete Erkenntnis der eigenen Impressionen, Affekte und Leidenschaften einschließlich der Gemeinschaftlichkeit mit Anderen. Diese Ethik wäre dann eine Verfeinerung der transzendental-empirischen Sichtweise meiner Gegenwärtigkeit zur Welt hin, ohne jedoch letztlich darauf antworten zu können, warum diese unendliche Kontingenz eine radikal phänomenologische Unsichtbarkeit jeder individuierten Leiblichkeit und ihrer Narrativität impliziert.2 Aussagen wie „Dies ist mein Leib“ oder „Ich bin das Leben“ aus der christlichen Tradition, wie aber auch die Aussagen über eine primordiale „Leere“ als Grund allen Erscheinens im Buddhismus etc., stellen daher für eine radikale Phänomenologie ein Motiv dar, ihre eigenen Ergebnisse mit solchen letzten (Nicht-)Identitätsaussagen zu konfrontieren, ohne neue Abhängigkeiten von metaphysischen Vorgaben einzugehen – ohne aber auch die oft noch impliziten metaphysischen Annahmen innerhalb der gegenwärtigen „Metaphysikkritik“ selbst zu übernehmen.3

In jeder Hinsicht kann daher behauptet werden, dass die lebensphänomenologischen Analysen hinsichtlich der inner-narrativen Leiblichkeit eine radikale Erneuerung der klassischen wie gegenwärtigen Problematik darstellen. Die rein phänomenologische Substanzialität ist in ihrer prinzipiellen Unsichtbarkeit für die Wahrnehmung wie für die philosophische Intelligibilität so unsichtbar, dass letztere „als Denken der Welt in der Tat niemals daran denken“.4 Seit unserer Einleitung haben wir das „originäre Wie“ als zentrale Frage der Phänomenalität in ihrer Phänomenalisierung herausgestellt, sodass wir hier jetzt zum Schluss sagen können, dass die Selbst-Narrativität die Weise dieses Wie im vor-ontologischen Sinne darstellt, nämlich das Ungesehene in empirischer wie intelligibler Hinsicht, ohne dem inner-affektiven Sagen des Lebens jemals entzogen zu sein, denn Unsichtbarkeit widerspricht nicht einem ursprünglichen Vernehmen, welches die Lebensaffektion als solche im Sinne unserer Ur-Leiblichkeit und ihrer inneren subjektiven Praxis ist. Wenn bei Husserl die Intentionalität die Rationalität überbot, indem die sinngebenden Akte des Bewusstseins in allen Schichten der leistenden Subjektivität gesucht werden,5 ohne deren Intervention die Empfindungskomplexe sich in einem affektiven Chaos verlieren würden, so wird diese Problematik nicht verkannt, wenn Henry auf die Possibilität der originären Empfindung zurückgreift, insofern das „ursprüngliche Wie“ jeder Gegebenheit nicht die Ekstase als Sinngebung ohne Ende ist, sondern die Impressionabilität schlechthin: das Sicherfreuen und Sicherleiden in jedem Punkt (Modus) des Lebens. Die Form (Idee) seit Platon und Aristoteles ist nicht länger der grundlegende Begriff der Ontologie, sondern diese Ontologie bis in die intentionalen Noesen hinein wird durch eine Materialität als Wesen der Phänomenalität ersetzt, um das Sein als Leben im Sinne der Selbstgebung effektiv zu bilden. Hierbei ist das „Sein“ nicht vorgegeben, um die Existenz des Lebens begrifflich fassen zu können, vielmehr wird jedes Seins erst im Leben, sofern das Leben vor dem Sein in sich kommt, mit anderen Worten sich selbst ohne Vorbedingung oder Außenheit selbst gründet bzw. erzeugt. Erst unter diesem Gesichtspunkt werden Aussagen wie „Ich bin mein Leib“ oder „Ich bin das Leben (der Welt)“ letztlich erst verständlich, indem sich eine Identität zwischen Leiblichkeit und immanenter Intensität herausbildet, welche in jeder Bewegung als Kraft, Trieb, Energie, Relation oder Begegnung wiederzufinden ist. Die Transparenz des subjektiven Leibes wird auf diese Weise der Opazität des „Habens“ aus der Sicht der Seele oder des Geistes entzogen, um in eine ontologische Unvergleichbarkeit einzutreten,die sowohl für die Räumlichkeit wie die Geistigkeit gilt, insofern jedes „Berühren“ nicht nur eine unendliche Hermeneutik des Subjekts initiiert, sondern im geringsten Kontakt bereits ein Exzess erprobt wird, der gleichzeitig auf uns selbst und das absolute Leben in uns verweist, das sich darin inkarniert. Insofern könnte man mit Levinas und Chrétien6 auch sagen, dass jeder Augenblick der inner-affektiven Narrativität eine hyperbolische Liebkosung (caresse) bildet.

Die wirkliche philosophische Fragestellung betrifft somit nicht mehr irgendeinen Gegenstand der Erfahrung, sondern die Erfahrung als solche, insofern sie eine ständige Erprobung des leiblichen Lebens darstellt, ohne sich von der Absolutheit des rein phänomenologischen Lebens dabei zu trennen, was auch geschähe, wenn man sich solches Leben als kausalen, transzendenten oder teleologischen „Gott“ vorstellen würde. An das absolute oder „göttliche“ Leben kann in der Tat nicht „geglaubt“ werden, da es in all seinen Modi und Phasen zu vollziehen ist, das heißt, einem Affekt unterliegt, der stärker und älter ist als alles, was wir thematisch jemals wissen können. Es geht also um mehr als um ein lebensphilosophisches Lob auf das „Ganze des Lebens“, über das schon Maine de Biran, Schopenhauer, Nietzsche und Marx hinausgeführt haben, ohne von meister Eckhart zu sprechen, denn alle Oberflächenphänomene des Lebens als kosmetische oder marktkonforme Verhaltensweisen müssen mit dem radikal phänomenologischen Sachverhalt konfrontiert bleiben, dass „der Akt des Sich-Gebens in der Einheit seines ihm eigenen Gehaltes die Wirklichkeit und folglich die Gesamtheit desselben“ darstellt.7 Dies erscheint als ein metaphysischer Monismus, aber es bleibt hierbei vor-metaphysisch zu verstehen, dass dieser „Monismus“ nicht nur eine Duplizität des Erscheinens bildet, sondern vor allem das „Eine“ nur als „Relation“ kennt, nämlich als ständiges Geborenwerden im absoluten Leben, welches nicht nur den Gegensatz zwischen Denken und Leib aufhebt. Vielmehr wird auch die gedachte Unterschiedlichkeit von Einheit/Vielfalt aufgehoben, um in allen Selbstund Welterscheinungen jene ab-gründige Bezüglichkeit zu leben, die wir als passible Individuierung sind, sofern nicht das statische „Individuum“ im Mittelpunkt steht, sondern das Pathische des Werdens, welches im Historialen des Lebens inner-narrativ nie abgeschlossen ist. Mit anderen Worten „wird“ jedes „Individuum“ in der innerleiblichen Erprobung seiner Bewegungen, welche zugleich Bezüge zur Welt und zu Anderen darstellen, und solches Werden lässt sich nur über die Intensität der Kraft oder des Triebes verstehen, welche als Erleiden wie Handeln die Leiblichkeit selbst sind.8

Das Pathische als Kraft oder Affekt im Sinne je ständiger Individuierung zu verstehen, macht aus diesem Pathos mehr als nur die Verbindung zwischen den Trieben und dem Individuum; es eint vielmehr Leben, Immanenz, Intensität und Individuum als vor-ethische Subjektivität, welche erprobt, dass sie in allen Vollzügen in eine lebendige Relationalität eingebettet ist, welche nicht erst durch ethische Normen hergestellt wird. Lebensimmanenz ist unmittelbare Lebensführung ohne Kluft und Vermittlung in sich selbst, sodass im Äußeren sich alles verändern und verwandeln kann, ohne diese innere Einheit aufgeben zu müssen – und nichts anderes sagt die Selbst-Narrativitätalsständiges Sprechendes Lebensinuns. Injeder Weltkonstitution mit anderen Worten wirkt eine ältere Zeugung durch die Immanenz des Lebens, welche allem, was sich ereignet, über die Affektivität und transzendentale Sinnlichkeit eine eigene Konsistenz verleiht. Daher muss die innere Narrativität zugleich immer Intensität des Pathos sein, denn es ist nicht möglich, dass sich irgendein Handeln oder Erleiden nicht als affektive Aktualisierung vollzöge. Die Analyse der Affekte wird auf diesem Hintergrund zur Aufklärung der innermodalen Verwandlungen der Immanenz, welche sich als Affektivität verleiblicht, um dergestalt die Weisen des Exzesses des Passiven und Aktiven in der individuierten Einheit unseres lebendigen Wesens zu leben und zu verstehen, wobei das Imaginäre der Einbildungskraft hier notwendigerweise hinzutritt, insofern das Verstehen nicht alles einholen kann, was das Leibliche-Affektive empfindet. Dieses Imaginäre ist daher nicht nur eine Virtualität des Weiter-Erfahren-Könnens über das Erreichte hinaus, sondern die Immanenz als Kreativität, wie wir es dargestellt haben, um für die Gegenwärtigkeit eines unsichtbar Unendlichen als „Abwesendes“ (Leere, Nichts) im Kontext der iterativen Verwirklichung der Immanenz zu plädieren. Die Befürchtung der Moderne, „Gott“ interveniere hierbei vor allem als moralische Begrenzung des virtuell affektiv Möglichen seitens einer immanenten Vorgängigkeit, die nur durch ihre innere Gesetzmäßigkeit von Sicherfreuen und Sicherleiden strukturiert ist, verliert dann ihre Berechtigung, wenn gesehen wird, dass jeder idealistische oder moralische Dogmatismus durch die prinzipielle Identität von immanenter Affektion oder pathischer Bewegung mit der Offenbarung des absoluten Lebens selbst aufgehoben ist. Denn es spricht jeweils nur die reine Intensität individuierten Lebens als Exzess, der auch über das eigene Wollen hinausreicht und insofern nicht von diesem her eingeschränkt werden darf. Wo immer sich das moderne Denken selbst als Maßstab etabliert, und sei es in seinem Erfahrenwollen des Exzesses selbst als letztem Maßstab, darf es nicht verkennen, dass es sich damit bereits wieder von einer Regel abhängig gemacht hat, die nahe der Empirizität des Erfahrens als letztem Kriterium liegt. Die unmittelbar ethische Struktur der Erfahrung der Leiblichkeit kann nur dann für ein wahres Ethos in Anspruch genommen werden, wenn sie nicht nur ein Aufbegehren gegen die „Mikro-Physik“ eines gewissen Funktionalismus der Macht ist, um nur ein Beispiel wie bei Michel Foucault9 zu erwähnen, sondern sich in jeder Hinsicht dem Leben zur Disposition stellt, ihm „sein Fleisch leiht“ – ohne weitere Bedingung: „Wahr ist folglich in erster Linie nicht, wovor man sich auszulöschen hat, um es so sein zu lassen, wie es an sich ist, sondern dem man Beistand zu leisten hat: sein eigenes Fleisch hinzugeben hat. Denn jede wesenhafte Wahrheit wird nur als dieses Fleisch des Individuums und als dessen eigenes Leben ankünftig.“10

Die Umkehrung der klassischen Metaphysik beruht daher vor allem darin, dass die pathische Intensität im Sinne originärer Passibilität als die Selbstoffenbarung des Absoluten schlechthin verstanden wird. Die übliche Vorstellung vom Individuum, welches an die Ereignisse und Geschicke in der Welt gebunden zu sein scheint, wird aufgehoben, um dem Erscheinen der rein immanenten Affektivität den Vorzug zu geben, das heißt, einer ursprünglichen Phänomenalisierung, ohne Selbstund Weltverhältnisse zu ignorieren, denn es wird ihnen im Gegenteil durch alle noematischen Gefühle, Vorstellungen und Erkenntnisse hindurch das eidetische Grundwissen der letzten praktischen Fundierung zurückgegeben – nämlich die substantielle Gegenseitigkeit von Leben und Leib als stets konkrete Transzendentalität in der je sich vollziehenden Umkehrung von Sicherleiden und Sicherfreuen. Deren historiale Gleichzeitigkeit in allem Erleiden und Tun bewirkt eine unmittelbare Teilung zwischen all unseren Affekten, das heißt, ein grundsätzliches Geltenlassen aller immanenten Triebäußerungen als einer Originalität, welche im Sinne ständiger inner-affektiver Narrativität als der Vollzug und die Erfüllung unserer transzendentalen Bestimmung verstanden werden kann, nämlich als je ununterbrochene Beziehung zwischen unserem Fleisch und unserem Leben als das Selbe. Der Affekt ist dann keine anonyme Entität mehr, die nur in einem sekundären Sinne zur Bildung unseres lebendigen Körpers beitrüge, sondern als Immanenz bildet der Affekt eine grundlegende und lebensoffenbarende ontologische Praxis innerhalb der Intensität der Subjektivität, welche zugleich mit der phänomenologischen Wirklichkeit identisch ist. Man kann den Affekt deshalb auch nicht „personal“ nennen, weil er eine unaufteilbare Qualität unseres Lebens ist, denn sofern er nicht anonym ist, ist er auch nicht in Abhängigkeit vom empirischen Individuum segmentiert, sondern das Individuum selbst in allen affektiven Vollzugsweisen. Für seine Selbstoffenbarung nicht auf die Welthaftigkeit angewiesen, ist der Affekt vielmehr die Einheit des Pathos des Erscheinens in dessen lebendiger Erzeugung selbst.

Indem der Leib aufhört, nur eine raum-zeitliche Verlagerung zu sein, da „SichBewegen-Können“ und wirkliches Bewegen im radikal phänomenologischen Sinne zusammenfallen, bedeutet diese Erneuerung der klassischen Metaphysik des Leibes auch zugleich eine Neubestimmung der Affektivität, die wir über die innere Narrativität des leiblichen Lebens herausarbeiten wollten. Wenn unser Leib zugleich Handeln und Erleiden ist, dann muss auch die Einheit von immanenter Affektivität und praktischem Weltbezug als eine solche Intensität verstanden werden, durch die sich die innere Kraft des Lebens nicht nur mit dem Vermögen zu handeln identifiziert, sondern zugleich sich selbst erprobt, um so eine erste „Teleologie“ zu bilden, welche an die vis activa bei Leibniz und den „Willen zur Macht“ bei Nietzsche zurückdenken lässt. Solche philosophiegeschichtlichen Rückblicke umschließen jedoch zugleich eine notwendige Klarsicht für die Erneuerungen seitens einer radikalen Gegen-Reduktion, um zu unterstreichen, dass die Unabhängigkeit von jeder Außenheit nicht spekulativ gesetzt oder psychologisch eingefordert wird, sondern die erste Phänomenalisierung eines jeden Lebendigen die absolute Selbstgründung im Leben als gegebene Immanenz impliziert. Mit anderen Worten wird das Verhältnis von immanenter Affektivität und reiner Selbstgegebenheit eines motorischen Ego der Bewegung oder des permanenten Könnens unhintergehbar, was auch bedeutet, dass es zunächst keiner ethisch-normativen Beurteilung unterliegt, sondern grundsätzlich die ontologische Positivität oder Würde eines jeden Individuums begründet, insofern die umfassende Ermöglichung zu handeln im transzendentalen Sinne die phänomenologische Gewissheit der pathischen Konsistenz des Selbsterlebens impliziert, sich in strenger Übereinstimmung mit dem immanenten Leben auch in der Welt erproben zu können. Entgegen der Philosophie des Rationalismus, der Aufklärung und der Moderne kann hierbei nicht die Freiheit jenen Boden des Handelns abgeben, der von einer nicht phänomenologisch erhellten Moral vorausgesetzt wird, denn wenn jeder Affekt und jedes Gefühl wie auch Eindruck sich selbst gegenüber in der ursprünglichen Ohnmacht gegeben wird, nicht anders sein zu können, als sie in ihrem Hervorgebrachtsein sind, dann bedeutet die Affektivität in diesem fundierenden Sinne eine Nicht-Freiheit. Possibilität als Narrativität bezeichnet dieses unauflösbare Band zwischen Sich-Erleiden und Handeln in der Immanenz des Lebens, worin die Leiblichkeit ohne Ausnahme die Möglichkeit wie Notwendigkeit ihres Erscheinens schöpft.11

Das natürliche Bewusstsein begreift dieses Verhältnis des lebendigen Leibes zu seinem rein phänomenologischen Grund als eine Passivität „in der dritten Person“, das heißt, als Nicht-Koinzidenz mit der Lebensimmanenz, während eine Erneuerung allen Leibund Weltdenkens auf die Homogenität von Possibilität und Aktivität hinzielen muss, insofern auch jedes Handeln nur eine Modalität des passablen Lebens mit seinen uranfänglich gegebenen Vermögen darstellt. Für die Lebensphänomenologie in der Nachfolge Henrys ist die angemessene Theorie des Leibes folglich unabdingbar „in der ersten Person“ zu schreiben, und zwar für alle Leibvollzüge, sofern sie sich aus ein und demselben wesenhaften Können des subjektiven Lebens als Grund für die Intensität leiblicher Existenz ergeben. Ohne notwendige hegelsche Dialektik von Ausdehnung und materiellen Bewegungen bewirkt mithin der lebendige Leib im ausgeführten Sinne die Wirklichkeit in ihrem Erscheinen als Außenheit selbst, woraus wir auf das Ineinander von Weltund Lebensnarrativität als Einheit schlossen. Es ist also beides für die heutige Erneuerung des Denkens festzuhalten, dass einerseits der Zusammenhang von Pathos (SichErleiden) und Handeln (Intentionalität) nicht der Welt bedarf, um zu sein, und andererseits diese innere Entfaltung affektiver Kräfte in ihrem Selbstverstehen jene Orte der Berührung als Distanz und Nähe bildet, in denen die Welt selber zum Ereignis des rein immanenten Lebens wird. Aufgrund dieses Zusammenhangs widerspricht die immanente Intensität der Affektivität der Freiheit nicht, denn das innere Ethos des leiblichen Zur-Welt-Seins impliziert dann die notwendige Freiheit, die mit dem je disponiblen Können der iterativen Leibvollzüge gewährt ist.

Die schon lange in der abendländischen Denkgeschichte gegebene Trennung von Ratio und Passio, wie etwa in der römischen Stoa, ließ das Empfinden zu einer Art bloßem Empfänger für jegliche Art von Information ohne Unterscheidung werden, während für eine radikale Leibphänomenologie das ontologische Band zwischen Pathos und Handeln die Unzertrennbarkeit von Affektivität und cogitatio wahrt, um sowohl einen dogmatischen Dualismus wie eine schizoide Trennung der lebendigen Existenz abzuwehren. Außerdem drängt sich mit der klassischen Unterordnung der Passivität unter das Handeln der Eindruck auf, die Wirklichkeit wäre nur dann in Wahrheit gegeben, wenn sie sich von der sie hervorbringenden Bewegung abgelöst hat, was allem Denken von „Objektivierung“ zugrunde liegt, wie es sich besonders systematisch bei Hegel beobachten lässt. Damit wäre aber auch das Individuum von seinem Leib getrennt, indem dieser sich von jenen inner-aktiven Bewegungen trennen würde, welche die Ur-Leiblichkeit bilden. Im Gegensatz hierzu bleibt deutlich zu unterstreichen, dass die ursprüngliche phänomenologische Gewissheit eine immanente wie intensive oder Apathische Praxis ist, deren Weltbezüge zu dieser Praxis als solcher gehören und nicht davon isoliert werden können. Die NichtBegrifflichkeit dieser Vollzüge ließe sich daher auch eine vor-ontologische Praxis nennen, sofern damit gesagt sein soll, dass das Begehren stets ursprünglicher und fundamentaler als die Vernunft ist und in sich selbst ein „Lebenswissen“ auch als Axiologie bereits birgt, auf die selbst die Wissenschaften noch bei all ihren Reduktionismen aufbauen.

 
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